kommunikativen Welt". Studien zur kulturvergleichenden Mediengeschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2006. 534 S., br., 17,- [Euro]). Giesecke möchte aus der Pisa-Studie sogar den provokativ optimistischen Schluss ziehen, dass "Deutschland im Ablösungsprozess von der Buch- und Industriekultur weiter fortgeschritten ist als andere Nationen".
Er stellt den Buch-Absolutismus der Neuzeit in die Perspektive anderer Möglichkeiten. Am Beispiel etwa der "Naturgeschichte" des Plinius untersucht Giesecke den "multimedialen" Unterricht der Antike. Wissenschaftliche Bücher unterstützen hier den Dialog zwischen Lehrern und Schülern, haben aber keineswegs die Aufgabe, Wissen über die Dinge in Form wiederholbarer Beschreibungen weiterzugeben. Giesecke beschreibt den Bedeutungswandel von Widmungsvorreden - die Bedeutung ändert sich, je nachdem, ob die Widmungen an bestimmten kommunikativen Orten, etwa Universitäten, verlesen wurden oder ob sie gedruckt und verkauft wurden. Verglichen werden Programme kulturrevolutionärer Erwachsenen-Alphabetisierung im westafrikanischen Benin im späten zwanzigsten und in Deutschland im frühen sechzehnten Jahrhundert. Insgesamt ergibt sich ein Bild jeweils unterschiedlicher Gewichtungen von Formen der Kommunikation: ob stärker "interaktiv" oder unpersönlich, ob vermittelt durch menschliche Medien, reguliert durch kirchliche oder staatliche Institutionen oder gleichgeschaltet durch kapitalistisch bewirtschaftete technische Massenmedien.
Medienkritiker verteufeln das Fernsehen, Bibliothekare beklagen den Niedergang der traditionellen Institutionen des Wissens, Lobredner der Neuen Medien erhoffen sich von "E Learning" und interaktiven Computerspielen den Neuen Menschen. Anders Giesecke. Sein historischer Zugang lindert unseren Drang, bestimmte Medienformen einseitig zu bevorzugen. Die Hierarchisierung der Medien und Wahrnehmungsformen in verschiedenen Hochkulturen, die "Prämierung" mal der leiblichen Medien (etwa der Tanz als Leitmedium in Indien), mal der eher technischen (die Schrift als Informationsmedium im alten Ägypten, die Rede in der Antike, das Kommunikationsmedium Buchdruck in der Neuzeit) folgt keinem Zwang.
Erhellend ist in dem Buch vor allem die gemeinsam mit Shiro Yukawa verfasste Studie zur Geschichte graphischer Kommunikationsmedien in Japan und Deutschland. Die einseitige Prämierung des Buchdrucks, die wir für quasi natürlich halten, erweist sich in dieser Perspektive als keineswegs historisch unausweichlich. Alle Bestandteile der Gutenberg-Technologie standen auch im Japan der Edo-Zeit, vom frühen siebzehnten Jahrhundert bis zum späten neunzehnten Jahrhundert, zur Verfügung. Doch die kulturell besondere Gewichtung der Medien, Sinne und Informationstypen hat die Abwertung der Hände und Handwerkszeuge, die mit der industriellen, technisierten Vervielfältigung von Bildern und lautsprachlichen Informationen einhergegangen wäre, nicht zugelassen. "Ganzheitliche" Werte, die den Körper und leibliches Handeln stärker berücksichtigen, verhindern einen Medienabsolutismus europäischen Zuschnitts. Technisch vervielfältigte Texte gewinnen keine Vormacht gegenüber anderen Formen der Verständigung, die Japaner weisen sie zurück.
Japan hat sich seit der Meiji-Reformation in eine kapitalistische Eigentumswirtschaft nach westlichem Vorbild gewandelt, und damit ist auch die "Medienökologie" der feudalen Edo-Zeit aus dem Gleichgewicht geraten. An dieser Stelle hinkt Gieseckes Vergleich mit dem Medienabsolutismus des Buchdrucks: Die Marktwirtschaft erzwingt Wachstum und prämiert Effizienz sowohl in der Güterproduktion wie in der Informationsverarbeitung. Ob es unter heutigen Wirtschaftsbedingungen eine Wahlfreiheit gibt zwischen "Medienökologie" und "Medienabsolutismus", bleibt insofern zweifelhaft. Unzweifelhaft hingegen ist gerade deshalb die Notwendigkeit, die Potentiale der Neuen Medien zu nutzen und nicht aus Liebe zur "Buchkultur" an 500 Jahre alten Lernmodellen festzuhalten. Wir brauchen beide Medienkulturen: die des Buches und die der Neuen Medien. Gieseckes historische Studien und seine Suche nach "posttypographischen Bildungsidealen" zeigen, warum.
CHRISTOPH ALBRECHT
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