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Produktdetails
  • Verlag: J.B. Metzler
  • Artikelnr. des Verlages: 978-3-476-01384-2
  • Seitenzahl: 416
  • Erscheinungstermin: 8. November 1995
  • Deutsch
  • Abmessung: 245mm x 165mm x 28mm
  • Gewicht: 822g
  • ISBN-13: 9783476013842
  • ISBN-10: 3476013847
  • Artikelnr.: 30822115
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Ästhetik und Anästhetik
Belegintensiv: Carsten Zelles Studie zum Schönheitsbegriff

Von jeher, schreibt Goethe im Sommer 1797 an Schiller, habe man sich gequält, die oft niedrigen und häßlichen Seiten Homers mit der Idealvorstellung von griechischer Schönheit in Einklang zu bringen. Für Goethe, der die "Fazilität" verehrte, ist schon die Angestrengtheit, mit der die Vorstellung von griechischer Idealität aufrechterhalten wurde, Beweis genug, daß ihre Anhänger irrten, und er sagt auch gleich, worin. "Möchte es doch einmal einer wagen, den Begriff und selbst das Wort Schönheit, an welches einmal alle jene falschen Begriffe unzertrennlich geknüpft sind, aus dem Umlauf zu bringen und, wie billig, die Wahrheit in ihrem vollständigsten Sinn an seine Stelle zu setzen."

Vor bald dreißig Jahren eröffnete dieser Aufruf einen Band der Forschungsgruppe "Poetik und Hermeneutik" über "die nicht mehr schönen Künste". Goethes Wort illustrierte die Beobachtung, daß sich im Verlauf der Neuzeit nicht nur die Ästhetik, sondern mit und neben ihr ein antiästhetischer Anspruch durchgesetzt habe, der die Grenzen des Schönen sprengte. Inbegriff dieser Überschreitung, deren Begleiterscheinungen heute wie damals augenfällig sind, ist das Erhabene. Moderne Kunst ist nicht mehr schön, sie ist "prinzipiell konvertibel" (Odo Marquard) mit Nichtkunst.

Die Konsequenzen dieser nachträglichen Besinnung erfaßten neben dem Status des Schönen auch seine Theorien und Metatheorien, die ",Innenpolitik' der ästhetischen Texte". Eine endlich als Grenz- und grenzüberwindendes Phänomen verstandene Ästhetik mußte mehr und anderes sein als eine Lehre vom Schönen, und tatsächlich hat jene Vermessung der "nicht mehr schönen Künste" das Selbst- und Gegenstandsverständnis der beteiligten Fächer erschüttert. Seither gilt: Wer von "Aesthetica" sprechen möchte, darf die "Anaesthetica" nicht verschweigen.

Carsten Zelle knüpfte hier an, wenn er die Reizworte der neuen und neuesten Intellektuellendiskurse aufgreift und, nach gutem Brauch, historisch erklärt. Die Historisierung macht die Modernitätskritik der geläufigen Post-Ismen einschließlich ihrer Begeisterung für das Erhabene als modernitätsnotorisch begreiflich. Solches Einrücken in den Zusammenhang der reflexiv gewordenen Condition moderne nimmt der Subversion die Spitze. Es zeigt aber, wie sie zustande kam: als der fällige, da von Beginn an herausgeforderte Einspruch gegen die Versöhnungsidee des Schönen.

Zelle verfolgt die Verlaufslinien der internen Doppelung von Ästhetik und Anästhetik zurück bis ins Herzstück des Klassizismus. Von der Fibelweisheit, daß der französische Poet Boileau dem Zeitalter der Vernunft lediglich die ihm angemessene "rationalistische" Ästhetik geliefert habe, wird man nach diesem Durchgang Abschied nehmen müssen. Besonders verdienstvoll und ein Beleg für die Originalität des Zugriffs ist Zelles Auseinandersetzung mit Schiller, die einer Rehabilitierung gleichkommt. Die Sensibilisierung für das Widerspiel der Doppelbegriffe - Anmut und Würde, schön und erhaben, naiv und sentimentalisch - läßt dem Theoretiker Schiller endlich die Gerechtigkeit widerfahren, die ihm die Schönheitsgelehrsamkeit jahrzehntelang verweigert hat. In einer subtilen und belegintensiven Werkinterpretation kann Zelle überzeugend nachweisen, weshalb Goethe, als er das Problem aufrollte, unter all seinen Gesprächspartnern gerade diesen auswählen mußte. RALF KONERSMANN

Carsten Zelle: "Die doppelte Ästhetik der Moderne." Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart und Weimar 1996. 416 S., geb., 78,- DM.

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