Produktdetails
  • Verlag: Klett-Cotta
  • ISBN-13: 9783608953305
  • ISBN-10: 3608953302
  • Artikelnr.: 24024190
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2005

Der Weihnachtsmann am Nordpol: Briefe von Father Tolkien

John Ronald Reuel Tolkien war nicht nur der Erfinder der Mondrunen und eines mythischen Kosmos, der viele Millionen Leser angezogen, ja in sich hineingesaugt hat. Er war auch ein liebevoller Vater und hochbegabter Zeichner und Kalligraph. Immer zu Weihnachten bekamen seine Kinder Post vom Nordpol, mit sorgfältig gemalten Briefmarken und täuschend echt gewellten Poststempeln. Im Innern der Umschläge steckten farbige Zeichnungen und albumblattartige Briefe des Weihnachtsmanns, der die Kinder über Schneewehen am Pol, die jüngsten Bêtisen seines Freundes, des Polarbärs, oder unverhofft aufgetretene Hindernisse der Geschenkzustellung unterrichtete. Am Rand der Briefe finden sich verstreute Glossen in prankenhafter Schrift und unsicherer Rechtschreibung, die sich gegen die vom Weihnachtsmann erhobenen Anwürfe verwahren. Eine feinere Hand beweist der Polarbär beim Abzeichnen des Kobold-Alphabets, das er in einer Höhle entdeckt und das auf die Elbensprache vorausdeutet, mit deren Erfindung sich Tolkien später die Nächte vertreiben sollte.

Der Vater der Elben, Hobbits und Orks, der ab 1925 Professor für englische Sprache in Oxford war, hat die Tradition der "Letters from Father Christmas", mit der er 1920 begonnen hatte, über zwei Jahrzehnte lang aufrechterhalten. Seine vier Kinder John, Michael, Christopher und Priscilla (geboren 1917, 1920, 1924 und 1929) kamen jeden Heiligabend in den Genuß der neuesten Nachrichten aus der Gegenwelt, mit deren Ausmalung ihr Vater sich für spätere Großtaten die Finger schmeidigte. Nicht nur der Humor dieser späteren Werke macht sich schon in den Briefen bemerkbar, in denen der Mann im Mond am Ende des Tages nach zuviel Brandy unterm Sofa liegt. Wie in diesen späteren Werken - nicht nur bei den stark an die Deutschen erinnernden Orks - lugt durch die Ritzen der Gegenwelt immer die scheußliche Wirklichkeit. Die Vorläufer der Orks sind die Kobolde, gegen die der Weihnachtsmann einen nicht durchweg poetischen Krieg zu führen hat. Die Kobolde greifen die Festung am Nordpol an, sie bauen Geheimtunnel und werden zu Tausenden oder Dutzenden (Version Weihnachtsmann) vom Polarbär dezimiert. Sie werden sogar mit Raketen beschossen. Im Jahr 1940 muß der Weihnachtsmann bekennen: "Wegen dem schrecklichen Krieg gehen uns bald die Geschenke aus."

Nicht erst dieser Satz läßt den Leser dieser Sammlung, die mit einem von Joachim Kalka schwungvoll übersetzten Langgedicht als erweiterte Prachtausgabe erschienen ist, über eine Frage grübeln: Ab wann werden sie ihm auf die Schliche gekommen sein? Wann haben Tolkiens Kinder das Nachtigallentrapsen erkannt? Die Briefe von Father Tolkien haben von Anfang an ein kleines Nebeninteresse. Sie dienen auch als Entschuldigung dafür, daß die Geschenke nicht so üppig ausfallen werden. Immer ist irgendein Unfall im Spiel, eine Tolpatschigkeit des Polarbärs, die den Weihnachtsvorrat gefährdet, eine Attacke der Kobolde, die sich die Märklin-Spielsachen unter den Nagel reißen. Es ist diese Seite, die aus einem schönen Buch zugleich ein bewegendes macht, weil sie das Geheimnis der künstlerischen Schöpfung zeigt, das Produkt aus Liebe und Not.

MICHAEL MAAR

J. R. R. Tolkien: "Briefe vom Weihnachtsmann". Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Kalka. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2005. 111 S., geb., 15,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr