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70jährig, berichtet die Farbige Xuela Claudette Richardson über ihr Leben, das geprägt ist von Verlusten und besonders von der Abwesenheit der Mutter, die bei ihrer Geburt starb. Diese Lebensbeschreibung einer ungewöhnlichen Frau ist untrennbar mit der Geschichte der karibischen Inseln verbunden, über denen noch immer der Schatten der Kolonialzeit liegt. "Jamaica Kincaid hat eine wahrhaft düstere Meditation über das Leben geschrieben - Literatur, die zum Feinsten gehört, was die zeitgenössische Prosa zu bieten hat." (New York Times Book Review.)

Produktbeschreibung
70jährig, berichtet die Farbige Xuela Claudette Richardson über ihr Leben, das geprägt ist von Verlusten und besonders von der Abwesenheit der Mutter, die bei ihrer Geburt starb. Diese Lebensbeschreibung einer ungewöhnlichen Frau ist untrennbar mit der Geschichte der karibischen Inseln verbunden, über denen noch immer der Schatten der Kolonialzeit liegt. "Jamaica Kincaid hat eine wahrhaft düstere Meditation über das Leben geschrieben - Literatur, die zum Feinsten gehört, was die zeitgenössische Prosa zu bieten hat." (New York Times Book Review.)
Autorenporträt
Jamaica Kincaid wurde 1949 auf der Karibikinsel Antigua geboren. Mit sechzehn Jahren wanderte sie in die USA aus, wo sie zunächst als Au-pair-Mädchen arbeitete. Kincaid hat mehrere Prosabände und Romane veröffentlicht. Ihre Werke wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Sie unterrichtet Literatur am kalifornischen Claremont McKenna College und an der Harvard University.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Knaben haben Herzklopfen
Störrisch bleiben: Jamaica Kincaid erzählt das Leben ihrer Mutter / Von Steffen Jacobs

Die Autobiographie meiner Mutter", der Titel des dritten Romans von Jamaica Kincaid, kann die Leser der Schriftstellerin kaum erstaunen. Das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter zählt zu den deutlichsten Motiven in einem Gewebe wiederkehrender Muster, das den Stoff des autobiographisch gefärbten Werkes von Jamaica Kincaid bildet. Der zweite Fixpunkt ihrer bislang zwei Erzählungsbände und zwei Romane ist durch die karibische Insel Antigua bezeichnet, die gemeinsam mit den Schwesterinseln Barbuda und Redonda die von Kincaid so benannte "vertrottelte" Nation bildet. Dort wurde die Schriftstellerin 1949 geboren, dort wuchs sie auf, ehe sie in ihrem siebzehnten Lebensjahr Eltern, Inseln und das britische Weltreich verließ, um in die Vereinigten Staaten auszuwandern.

Der 1985 dort erschienene Roman "Annie John" hat eine Kindheit auf Antigua zum Thema. Anders als in den Erzählungen ihres zwei Jahre zuvor erschienenen Debütbandes "Am Grunde des Flusses", die zum Teil noch einer animistischen Traumlogik folgten, erzählt Jamaica Kincaid hier nah an der äußeren Realität und scheint peinlich bemüht, alle Exotik zu vermeiden. Die Geschichte des als Kind schwarzer Sklavennachfahren aufwachsenden Mädchens Annie ist zuallererst Seelengeschichte und könnte sich als solche ganz ähnlich in England, Amerika oder anderswo zugetragen haben. Geschildert wird der Verlust einer Kindheit, den die Fünfzehnjährige vor allem als Verlust mütterlicher Zuwendung erfährt.

"Lucy", Kincaids 1990 erschienener zweiter Roman, erprobt die andere Wahrnehmung an der neuen Lebenswelt der Schriftstellerin, Amerika. Der schmale Band, deutlicher noch als der erste Roman aus dem eigenen Erleben der Schriftstellerin gespeist, führt die chronologische Abarbeitung der biographischen Abfolge fort: Die Titelgestalt kehrt, neunzehnjährig, ihrer Heimat Antigua den Rücken und nimmt in New York eine Stelle als Au-pair-Mädchen an; hier auch entdeckt sie die Fotografie als erstes künstlerisches Ausdrucksmittel für sich. Im Blick der Fremden auf das Wohlstandsleben ihrer amerikanischen Gastfamilie wirkt das (für den amerikanischen Leser) Normale plötzlich befremdlich, ja exotisch: Verblüfft stellt Lucy fest, daß die gleichen Pflanzen, die in ihrer Heimat als gesundes Gemüse gelten, in New Yorker Wohnungen der Raumverschönerung dienen.

Doch Jamaica Kincaid geht es nicht nur um den satirischen Effekt. Wenn alles Gewöhnliche nur angewöhnt ist, so ihre unausgesprochene Schlußfolgerung, dann sind die Regeln des gesellschaftlichen Umgangs allemal willkürlich. Untergründiges Hauptthema beider Romane ist daher die Fremdheit gegenüber dem Leben schlechthin. Ihr setzen beide Frauengestalten das trotzige Beharren auf der eigenen Biographie entgegen, die es in "Lucy", wie bereits in "Annie John", gegen eine übermächtige Muttergestalt zu verteidigen gilt, deren Liebe "einzig und allein darauf abzielte, mich zu einem Echo ihrer selbst zu machen", aber auch gegen Liebhaber oder eine Vorgesetzte, die sich als Freundin gebärdet. Eine Heimat finden Annie und Lucy nicht in diesem oder jenem Land, in dieser oder jener Lebenswelt, sondern allenfalls in der Intimität des eigenen Körpers. Folgerichtig steht am Ende von "Lucy" das triumphierende Fazit: "Ich war allein auf der Welt. Es war keine geringe Leistung gewesen, das zu vollbringen."

Man glaubt, den Romanfiguren der Jamaica Kincaid die Anstrengung anzumerken. Der Tonfall, in dem sie von sich berichten, wirkt störrisch und brüsk. Ein Unterton von Übellaunigkeit schwingt stets mit in der kalten, gelegentlich belustigten Stimme der Erzählerinnen. Dennoch ist es zuallererst dieses Timbre, das den Leser an eine autobiographische Prosa fesselt, die keine Romanhandlung im herkömmlichen Sinn erzählt, sondern über persönliche Entwicklungsabschnitte berichtet, deren Hauptreferenz das Leben selbst bildet. Unklar bleibt jedoch, was woraus folgt: Gründet die illusionslose Weltsicht der Heldinnen auf ihrer eigenwilligen Persönlichkeit? Oder spiegelt sich in der Ausdrucksweise die Beschädigung ihrer Biographien? Noch der Roman "Lucy", Zeugnis einer Selbstfindung, verweigert darauf die Antwort: "Deine Vergangenheit ist die Person, die du nicht mehr bist, sind die Situationen, in denen du dich nicht mehr befindest."

Die Autobiographie meiner Mutter" versucht eine Antwort. Denn obwohl Xuela, die Erzählerin dieses dritten Romans, sich ähnlich gegenwartsselig äußert wie ihre Vorgängerin Lucy, hat Jamaica Kincaid bei der Fortsetzung ihres literarischen Biographieentwurfes die selbstgezogene Linie zwischen Gegenwart und Vergangenheit doch überschritten. Statt in der chronologischen Folge fortzufahren und zu erzählen, wie aus dem Au-pair-Mädchen Lucy eine erfolgreiche Schriftstellerin wurde, folgt sie der zuvor bewußt umgangenen Schlüsselfrage: Woher kommt das Unrecht? Wahrscheinlich wird man der "Autobiographie meiner Mutter" am ehesten gerecht, wenn man sie als abschließenden Teil einer Romantrilogie liest und in der darin gezeichneten Frauengestalt die Mutter sowohl Annie Johns als auch Lucys erkennt. Fast möchte man davon abraten, dieses Buch ohne die Kenntnis der vorangegangenen zu lesen.

Einige Motive gewährleisten den Anschluß der "Autobiographie meiner Mutter" an den kleinen Kosmos des bisherigen Werkes: Wie Annie John es über ihre Mutter berichtete, verlebt Xuela ihre Jugend auf der wie Antigua zur Gruppe der Westindischen Inseln gehörenden Insel Dominica. Auch der seit dem Debütband "Am Grunde des Flusses" zum Inventar Kincaidscher Prosa gehörende Affe findet sich wieder, der hier einen auf ihn geworfenen Stein beim dritten Wurf auffängt und auf die Erzählerin zurückschleudert. Zwar wird auf diese Weise die Kontinuität zum bisherigen Werk angezeigt, doch ist offenkundig, daß die Autorin erstmals seit ihren surreal verzeichneten frühen Erzählungen von dem bewährten Tonfall des autobiographischen Berichts abweicht. Xuela ist ersichtlich kein Alter ego der Autorin, und so wird ihr ein eigener Tonfall zugeschrieben, der sich mit einigem Wohlwollen als musikalisch, hypnotisch und mündlichen Erzähltraditionen verhaftet beschreiben ließe. Man könnte allerdings auch vom langsamen Zerschroten des Gedankens während des Schreibens sprechen.

Äußere Merkmale dieses Stils sind beispielsweise die Reihung von Parataxen zu Endlossätzen mittels "und"; ein repetitives, durch häufiges Neuansetzen phrasiertes Sprechen; der Verzicht auf jede Form des "Sowohl - als auch" zugunsten eines "Dies und das"; rhetorische Fragen als Einleitung neuer Erzählabschnitte. All das verleiht der Stimme Xuelas einen schnarrenden, leiernden Beiklang und leider auch einen angestrengt folkloristischen Ton, wie er sich in keinem der früheren Werke Jamaica Kincaids findet. Mit immer neuen Worten werden die immer gleichen Seelenlagen umkreist, so daß der Leser gelegentlich den Eindruck haben muß, eher einer komplizierten Beschwörung beizuwohnen als an einer Erzählung teilzuhaben. Und wie immer, wenn Magie im Spiel ist statt Suggestion, erfordert es ein gewisses Quantum Gläubigkeit, um an dem versprochenen Wunder teilzuhaben.

Freilich hat der Sprachgestus der Selbstvergewisserung seinen tieferen Sinn in der Seelengeschichte der Hauptfigur - wiederum erzählt Jamaica Kincaid von einer beschädigten Frauenbiographie und dem verzweifelten Versuch, zumindest die eigene Gegenwart vor der vielfach determinierten Vergangenheit in Schutz zu nehmen. Xuela wuchs selbst ohne Mutter auf. Das ist die Voraussetzung, die bereits der gewaltige Eingangssatz benennt: "Meine Mutter starb in dem Augenblick, als ich geboren wurde, und so stand mein ganzes Leben lang nichts zwischen mir und der Ewigkeit; in meinem Rücken war immer ein kalter, schwarzer Wind."

Das Mädchen wächst zunächst bei einer lieblosen Ziehmutter auf, dann in der Familie des Vaters, dessen zweite Ehefrau Xuela zunächst mit Haß verfolgt, um sie später der Gleichgültigkeit anheimzugeben. Sie schildert ihr Heranwachsen nicht als Reifeprozeß, sondern als einen Akt fortwährender Selbstbeharrung: "In einer Atmosphäre ohne Liebe konnte ich leben; in dieser Atmosphäre ohne Liebe konnte ich mir ein eigenes Leben einrichten." Nicht umsonst sind auch Xuelas spätere Liebhaber allesamt verheiratet. Der Mann, der am stärksten in Xuelas Leben eingreift, ist freilich ihr Vater. Er, Sohn eines Schotten und einer Sklavennachfahrin, ein einflußreicher und gefürchteter Polizeibeamter, führt die entscheidenden Wenden herbei, indem er ihr Arbeitsplätze und Wohnorte zuweist. Anders als Jamaica Kincaids Alter ego Lucy entzieht sich Xuela dem väterlichen Einfluß nicht. Die Biographie des Vaters, in dem die Solidarität der afrikanischen "Horde" und der Geiz des schottischen "Bindestrich-Mannes" um Vorherrschaft kämpfen, läßt sich nicht abschütteln.

Liest man "Die Autobiographie meiner Mutter" im Hallraum der beiden voran gegangenen Romane Jamaica Kincaids, weist die Frage nach dem Ursprung des Unrechts generationsweise rückwärts - von der Mutter auf den Muttervater, schließlich auf dessen Eltern und eine Vergangenheit der Beherrschung und Unterdrückung. Jedes Einzelschicksal trägt die ganze Last der Weltgeschichte in sich. Damit aber schwindet auch die Chance auf eine eigene Geschichte. Und so ist es eine bittere Pointe, daß die liebesunfähige Halbwaise, die all ihre Kinder ohne Zögern abgetrieben hat, am Ende ihrer Autobiographie sagen kann: "Dieser Bericht über mein Leben ist ebensosehr ein Bericht über das Leben meiner Mutter wie ein Bericht über mein eigenes Leben, und darüber hinaus ist er auch ein Bericht über das Leben der Kinder, die ich nicht hatte, so wie er ihr Bericht über mich ist." Annie John und Lucy haben kein eigenes Leben gehabt. "Die Autobiographie meiner Mutter" hat nicht geschrieben werden können.

Jamaica Kincaid: "Die Autobiographie meiner Mutter". Roman. Aus dem Englischen übersetzt von Christel Dormagen. Wolfgang Krüger Verlag, Frankfurt am Main 1996. 221 S., geb., 34,- DM.

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