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Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Hamburg geboren, emigrierte als Elfjähriger mit seinem vier Jahre älteren Bruder nach Frankreich. Wie bereits in der Erzählung "Die Absonderung" berichtet er auch in der "Aussetzung" von einem Abschnitt seiner Jugend. Da die Unterbringung in dem Kinderheim zu gefährlich geworden ist, wird der Sechzehnjährige auf einem Bauernhof im Hochtal von Savoyen versteckt, um den Nazis zu entkommen. Obwohl er hier gut behandelt wird und er genug zu essen bekommt, bleibt er gefangen im inneren Matyrium seiner Geschlechtlichkeit, die in allen Büchern des Autors eine…mehr

Produktbeschreibung
Georges-Arthur Goldschmidt, 1928 in Hamburg geboren, emigrierte als Elfjähriger mit seinem vier Jahre älteren Bruder nach Frankreich. Wie bereits in der Erzählung "Die Absonderung" berichtet er auch in der "Aussetzung" von einem Abschnitt seiner Jugend. Da die Unterbringung in dem Kinderheim zu gefährlich geworden ist, wird der Sechzehnjährige auf einem Bauernhof im Hochtal von Savoyen versteckt, um den Nazis zu entkommen. Obwohl er hier gut behandelt wird und er genug zu essen bekommt, bleibt er gefangen im inneren Matyrium seiner Geschlechtlichkeit, die in allen Büchern des Autors eine wichtige Rolle spielt und untrennbar mit der vermeintlichen Schuld zusammenhängt, die ihm durch sein Gefühl des Anderssein aufgebürdet wird.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.11.1996

Märtyrer Törleß
Georges-Arthur Goldschmidts "Aussetzung" · Von Gerhard Schulz

Die Erfahrung, daß alles leibhaft erlebte Geschehen im Laufe der Zeit in nüchtern registrierte Geschichte übergeht, bleibt keiner Generation erspart. Nur die Länge der Frist bis dahin scheint von Fall zu Fall verschieden zu sein, und es hat sich bisher kein Gesetz dafür gefunden. Wie zum Beispiel kommt es, daß dieses Hitlerdeutschland noch immer als kaum verschwundene Gegenwart erscheint, obwohl nun schon mehr als ein halbes Jahrhundert seit seinem schmählichen Ende vergangen ist? Hat es mit einer Wertskala für die Monstrosität von Verbrechen zu tun, mit ihrer Nationalität, Internationalität oder mit dem Maß an ideologischem Irrwitz, der hinter ihnen steht?

Einige der bedeutendsten und zugleich persönlichsten Bücher über die Barbarei in diesem "Dritten Reich" der Deutschen sind tatsächlich erst in den letzten Jahren erschienen: Louis Begleys "Lügen in Zeiten des Krieges", Georges-Arthur Goldschmidts "Die Absonderung" und "weiter leben" von Ruth Klüger. Begley und Klüger schrieben als Intellektuelle, die über dem Bedürfnis nach der Auseinandersetzung mit dem Erlittenen und nach der Mitteilung des Erfahrenen erst eigentlich zu Schriftstellern wurden, Goldschmidt hingegen ist ein französischer Romancier, der mit seinen Erinnerungen an der Grenze zwischen Autobiographie und Literatur in die deutsche Sprache zurückkehrte, aus der er einst verstoßen worden war. "Bewältigung" der Vergangenheit? Kaum, denn Geschehenes läßt sich nicht "bewältigen". Wohl aber bietet sich da Stoff zum immer neuen, verstörenden Nachdenken über das, was unter Menschen möglich ist, mithin über die fortdauernde Aktualität der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert.

Von Schriftstellern und Literatur war eben die Rede, das heißt also auch von der Ästhetik, der Lehre vom Schönen und den Gesetzen wie Anstrengungen der Kunst. Ihr scheinen sich - darauf lief schon Adornos Diktum über den Antagonismus von Vernichtungslagern und Poesie hinaus - die Ungeheuerlichkeiten dieses Jahrhunderts durchaus zu widersetzen. Aber Kunst ist auf Wahrheit angewiesen und kann sich deshalb auch dem Unmenschlichen nicht verschließen. Jedem Bericht hat sie dabei indes voraus, daß sie immer Gegenwart besitzt.

,Kaum ein Tag vergeht, ohne daß mir bei ein wenig grauem, aber lichtem Himmel der 18. Mai 1938 wieder ins Gedächtnis komme. Mein ganzes Leben hat sich um dieses Datum herum aufgebaut, es ist der Tag, an dem ich meine buchenrauschende Heimat für immer verlassen mußte. Alles, was ich schreibe, ist aus diesem Bruch in meiner persönlichen Geschichte entstanden, aus dem Schrecken der Verfolgung, aber auch aus dem Erstaunen des Daseins", hat Georges-Arthur Goldschmidt kürzlich bekannt.

Die Eltern, Hamburger Bürger, die noch vor dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts aus dem Judentum zum lutherischen Christentum übergetreten waren, schickten den Elfjährigen und seinen Bruder zuerst nach Italien und dann nach Frankreich. Das Martyrium einer Kindheit, eines Lebens um des Überlebens willen ist Resultat dieses Bruchs in einer "persönlichen Geschichte". Sie hat dem längst im Französischen heimisch gewordenen Autor nun den Wechsel in jene Sprache abgefordert, aus dessen Sphäre das Martyrium entsprang.

Martyrium ist kein unangemessener Begriff für diese Kindheit; die Vorstellung davon kommt dem Jungen, dem Christus ein "großer Freund" geworden war, in der "Aussetzung" unter Fremden sogar einmal selbst. Darstellbar wurde es erst in mehreren Stadien. "Absonderung" lautet der Titel des 1991 erschienenen ersten Teils von Goldschmidts autobiographischer Erzählung, die beginnt, als der Junge aus dem deutschen Bürgermilieu in die beklemmende Atmosphäre eines Internats im unbesetzten, aber von den Deutschen kontrollierten Teil Frankreichs kam. Ausgesetzt aber wurde er, als man ihn auch dort nicht mehr vor den eigenen Landsleuten schützen zu können glaubte. Der zweite Teil "Die Aussetzung" erzählt nun die Geschichte dieses Martyriums bis zu ihrem Ende, dem Moment der Befreiung im Jahr 1945.

Beide Bände werden ausdrücklich als "Erzählung" bezeichnet. Das ist tatsächlich ein Begriff aus der Sprache der Ästhetik; er gibt dem Autor nicht nur Freiheit zur Fiktion, sondern erlaubt auch das Zurücktreten von sich selbst. Denn wie selbsterlebt auch alles Erzählte hier sein mag - Goldschmidt trennt sich von diesem erzählten Ich, indem er es namenlos und in der dritten Person auftreten läßt. Distanz und Nähe lassen sich so verbinden und verweisen zugleich auf die tiefen Paradoxien, aus denen diese Leidensgeschichte zu einem großen Teil entsteht. Denn dieser Junge, der um sein Leben fürchten muß, weil er für die Deutschen ein Jude ist, bleibt für die katholischen Franzosen, die ihm - gegen Geld - Schutz gewähren, letztlich doch immer ein Deutscher und Protestant, dem gegenüber man ein letztes Mißtrauen nicht überwinden kann. Für sich selbst aber ist er ein Rätsel, und sein inneres Martyrium besteht darin, daß er es zu lösen versucht.

Worin liegt die Schuld, die ihn von den anderen absondert, ihn zu einem gejagten Tier und zugleich zum meistbestraften Schüler des Internats macht? Denn ebendieses französische Asyl hält seelische und physische Folterungen von großer Grausamkeit für ihn bereit. Es wäre Stoff, aus dem für sich allein eine Schülergeschichte nach der Art des "Zöglings Törleß" werden könnte mit all dem Leiden unter Heimweh, Fremdheit, Roheit, autoritärer Pädagogik und der Not erwachender Sexualität. Bei Goldschmidt jedoch geht es immer um Leben oder Tod, dem gegenüber die Verwirrungen eines Törleß fast wie eine Idylle erscheinen.

Der Wunsch, sich anzupassen, sowie ein ganzes Panorama der Angst bestimmen das Leben dieses Jungen, und dazu fügt sich das immerwährende Bewußtsein einer "Schuld" gegenüber den anderen, die ihm zögernd Schutz gewähren, einer Schuld, die er zu orten und zu benennen sucht. Er hatte "in sich hineingehorcht, und es hatte ihn gewundert, so etwas in sich zu haben, von dem er nichts wußte und nichts fühlte, es war etwas, was den anderen nicht vorgeworfen wurde, und hatte sofort verstanden, es war das, was er abends im Bett machte, das war es, das Judesein: das Schlimme." Soll er am Ende "mithelfen, sich abzuschaffen"? Es sind Verwirrungen gegen den blutigen Hintergrund deutscher Geschichte dieses Jahrhunderts.

Die hilflose Suche nach Grund und Sinn läßt den Irrsinn, der dazu nötigt, nur noch deutlicher hervortreten. Während die Alliierten bereits in Frankreich eindringen - am Tage der Invasion beginnt "Die Aussetzung" -, hat das Zusammentreiben von Juden noch immer Vorrang für die Besatzer. Eine fürchterliche Theorie versucht da, sich der Wirklichkeit zu widersetzen und sie zu vergewaltigen. Als die Sicherheit im Internat gefährdet erscheint, findet der Junge Unterschlupf auf einem abgelegenen Bauernhof, später, als man ihn auch dort nicht mehr beherbergen will - "Deinetwegen kann man mich erschießen", hält ihm der Bauer vor - in einer Höhle.

Birgt ihn am Ende also der Schoß der Natur? Deren Verhältnis zu den Menschen jedoch bleibt zwiespältig. Mächtig ist sie zwar, und Goldschmidt weiß die Berglandschaft Savoyens, in der sich das alles abspielt, eindrucksvoll darzustellen. "Scherenschnittgenau stand der tellerblaue Morgenhimmel über dem Bergkamm, jede Tanne davor ausgespart." Aber es ist, wie bereits dieser erste Satz des Buches verrät, eine mächtige, keine große Natur, von der Hölderlin einst schwärmen konnte. Diese hier verhält sich fühllos gegenüber der Angst.

Goldschmidts Erzählungen von dem Martyrium seiner Jugend sind literarische Kunstwerke hohen Ranges, geprägt von einer Fülle des Beobachtens wie Verstehens und von großer Kraft des Gestaltens. Darin liegt ihre fortdauernde Aktualität, und es entsteht sogar der Eindruck, als ob erst die Kunst dem Barbarischen in uns allen auf den Grund schauen und es vielleicht bannen könnte.

Georges-Arthur Goldschmidt: "Die Aussetzung". Eine Erzählung. Ammann Verlag, Zürich 1996. 238 S., geb., 36,- DM.

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