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Ein dystopischer Klassiker über den epischen Kampf zwischen Licht und Finsternis in einer surrealen Traumwelt.In Die andere Seite erhält ein Mann eine mysteriöse Einladung von Claus Patera, dem absoluten Herrscher des Traumreichs. Neugierig folgt er dem Ruf und findet sich bald in einer alptraumhaften Welt wieder, in der nichts ist, wie es scheint. Die Traumwelt entpuppt sich als Überwachungsstaat, in dem sich ein apokalyptischer Kampf anbahnt ...Alfred Kubins visionäres Meisterwerk gilt als Meilenstein der phantastischen Literatur. Mit seiner eindringlichen Bildsprache und surrealistisch...
Ein dystopischer Klassiker über den epischen Kampf zwischen Licht und Finsternis in einer surrealen Traumwelt.
In Die andere Seite erhält ein Mann eine mysteriöse Einladung von Claus Patera, dem absoluten Herrscher des Traumreichs. Neugierig folgt er dem Ruf und findet sich bald in einer alptraumhaften Welt wieder, in der nichts ist, wie es scheint. Die Traumwelt entpuppt sich als Überwachungsstaat, in dem sich ein apokalyptischer Kampf anbahnt ...
Alfred Kubins visionäres Meisterwerk gilt als Meilenstein der phantastischen Literatur. Mit seiner eindringlichen Bildsprache und surrealistischen Erzählweise schafft er eine verstörend-faszinierende Alternativwelt, die den Leser tief in ihre düsteren Abgründe zieht.
«Ein großer, düsterer Klassiker der phantastischen Literatur.» (Deutschlandradio Kultur)
In Die andere Seite erhält ein Mann eine mysteriöse Einladung von Claus Patera, dem absoluten Herrscher des Traumreichs. Neugierig folgt er dem Ruf und findet sich bald in einer alptraumhaften Welt wieder, in der nichts ist, wie es scheint. Die Traumwelt entpuppt sich als Überwachungsstaat, in dem sich ein apokalyptischer Kampf anbahnt ...
Alfred Kubins visionäres Meisterwerk gilt als Meilenstein der phantastischen Literatur. Mit seiner eindringlichen Bildsprache und surrealistischen Erzählweise schafft er eine verstörend-faszinierende Alternativwelt, die den Leser tief in ihre düsteren Abgründe zieht.
«Ein großer, düsterer Klassiker der phantastischen Literatur.» (Deutschlandradio Kultur)
Alfred Kubin wurde 1877 in Leitmeritz/Böhmen geboren. Er absolvierte zunächst eine Lehre als Fotograph und besuchte anschließend die Kunstakademie in München, um Graphik und Malerei zu studieren. Nach mehreren Studienreisen nach Frankreich, Italien und auf den Balkan ließ sich Kubin auf Schloss Zwickledt in Oberösterreich nieder, wo er ab 1906 als freier Künstler arbeitete. Bekannt wurde er im Kreis der Expressionisten als Illustrator und Autor. Alfred Kubin starb 1959 in Zwickledt.
Produktdetails
- rororo Taschenbücher 25556
- Verlag: Rowohlt TB.
- Artikelnr. des Verlages: 18376
- 9. Aufl.
- Seitenzahl: 256
- Erscheinungstermin: 1. Dezember 2010
- Deutsch
- Abmessung: 192mm x 115mm x 20mm
- Gewicht: 207g
- ISBN-13: 9783499255564
- ISBN-10: 3499255561
- Artikelnr.: 29846704
Herstellerkennzeichnung
Rowohlt Taschenbuch
Kirchenallee 19
20099 Hamburg
produktsicherheit@rowohlt.de
Eisregion einsamsten Grübelns
Der Wunsch nach Auflösung zieht sich durch das gesamte Leben von Alfred Kubin. Als er heute vor fünfzig Jahren starb, hinterließ Kubin nicht nur ein malerisches Werk, sondern auch einen Roman.
Es gibt einen Tag im Leben des Zeichners Alfred Kubin, da er nicht mehr leben mochte. Gewillt, sich am Grab der frühgestorbenen Mutter umzubringen, fährt er mit dem Zug von Klagenfurt nach Zell am See, wo er aufgewachsen war. Der Zug bleibt wegen Hochwassers stecken, und aus einem Tag werden gedehnte zwei, was den Neunzehnjährigen nur umso entschlossener macht. Mit der Nadel hat er sich nach einem anatomischen Bilde einen Ritz in die Schläfe gemacht, um das Gehirn nicht zu verfehlen. Doch die
Der Wunsch nach Auflösung zieht sich durch das gesamte Leben von Alfred Kubin. Als er heute vor fünfzig Jahren starb, hinterließ Kubin nicht nur ein malerisches Werk, sondern auch einen Roman.
Es gibt einen Tag im Leben des Zeichners Alfred Kubin, da er nicht mehr leben mochte. Gewillt, sich am Grab der frühgestorbenen Mutter umzubringen, fährt er mit dem Zug von Klagenfurt nach Zell am See, wo er aufgewachsen war. Der Zug bleibt wegen Hochwassers stecken, und aus einem Tag werden gedehnte zwei, was den Neunzehnjährigen nur umso entschlossener macht. Mit der Nadel hat er sich nach einem anatomischen Bilde einen Ritz in die Schläfe gemacht, um das Gehirn nicht zu verfehlen. Doch die
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eingerostete alte Waffe versagt, und zum zweiten Abdrücken fehlt ihm "die seelische Kraft". So beschreibt es Kubin Jahre später in einer Autobiographie. Möglicherweise ist ihm aus der Distanz diese Szene wildromantischer erschienen, als sie in Wirklichkeit war. Als Erzählung vereint sie auf irritierende Weise Pose und Plan mit panischer Lebensangst. Wer war dieser Mann, der auf einem frühen Selbstbildnis klein und geduckt am Schreibtisch sitzt, beäugt von einer Maske an der Wand, die zwei Gesichter hat - Leben und Tod?
Man bezweifelt nicht, dass es ernst um den jungen Kubin stand. Der Wunsch nach Auflösung zieht sich durch sein Leben, durch Briefe, Essays, Bilder. Als er am 20. August 1959, heute vor fünfzig Jahren, starb, hinterließ der 82 Jahre alte "Künstler, Grübler, Seher", wie er sich selbst nannte, nicht nur ein riesiges malerisches Werk und einige Schriften, sondern auch einen erfolgreichen Roman mit Illustrationen und Lageplan: "Die andere Seite" erschien 1909 und gilt als Klassiker der phantastischen Literatur. Kubin, ein eruptiv arbeitender Mensch, will diesen Roman, als das Zeichnen einmal nicht klappte, in nur acht Wochen abgeworfen haben, die Bilder dazu in weiteren vier. Es ist die Geschichte eines gigantischen Verfalls, dem zwar eine Schöpfungsgeschichte vorausgegangen ist - aber Kubins erzählerisches Herz gilt dem Untergang. Schon als sein Ich-Erzähler, Zeichner wie er selbst, mit seiner Frau auf Einladung des alten Schulfreunds Patera dessen seltsames Traumreich betritt, streift die Reisenden im Grenztunnel kurz Todesangst. Jenseits eines kolossalen Eingangstors hat man ihnen Menschen mit eminent geschärften Sinnesorganen versprochen, dorthin geflüchtet, weil sie mit der modernen Kultur unzufrieden waren. Aber wo kein Fortschritt, da kein Ziel. Kleider verschimmeln, Ameisen pulverisieren die Mauern. Längst fault es im Traumreich Pateras - weniger von den Rändern her, eher ausgehend vom Zentrum einer sich selbst verschlingenden Leere.
Wovon nährt sich Kubins Depression? Und wie gelingen ihm trotz eines äußerst empfindsamen Nervengespinsts in Schaffensphasen diese bizarren Szenen? Als er 1901 die ersten Bilder bei Paul Cassirer in Berlin ausstellt, stürzen sich die einen ungeschützt und begeistert in seine schwindelnden Abgründe; andere Betrachter wollen nichts wissen von seinen "krankhaften Phantasien". Magere Wölfe strolchen in Schwarzweißbildern verloren durch verwehte, fahle Gegenden; aus knöchernen Körpern wachsen ausladende Hintern, Rieseninsekten jagen Menschen. Im Bild "Geilheit" hält ein dichtbehaarter Hund mit erigiertem Riesenpenis, aus dem Samen tropft, eine nackte Frau in Schach. In Kubins bekanntestem Bild springt ein winziger Mann kopfüber pfeilschnell hinab in das struppige Geschlecht einer Frau, die mit geöffneten Schenkeln auf dem Rücken liegt. Es trägt den Titel "Der Todessprung". Man spricht von "Psychographiken". Fratzen, Tiermenschen, von teuflischer Kraft irre gewordene Frauen bevölkern Kubins Werk. Es gibt nichts, was in seinem Hirn nicht wuchern könnte. E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe hat er unter vielen anderen illustriert; Schopenhauer und Nietzsche quasi inhaliert.
Natürlich ist da also einerseits der satte Boden seiner Zeit, die gerade erst über die Schwelle von Freud geglitten war. Natürlich waten wir mit Kubin in jenem Düsterreich, das die Tücke alles Begehrens kennt. Trotz dieser symbolischen Durchschaubarkeit, trotz dieses triebhaften Wütens schaudert es einen noch hundert Jahre nach Erscheinen seines einzigen Romans, wenn darin plötzlich in dunkler Nacht der "Klaps", ein dürrer Gaul, durch die Straßen jagt - meist dann, wenn Patera seine Anfälle hat. Kubin öffnet die Kluft des Subjekts, aber nie isoliert von gesellschaftlichen Vorgängen.
Bleiben wir kurz bei diesem rätselhaften Traumreich-Schöpfer aus Kubins Roman. Ihn zu treffen erweist sich für den umgesiedelten Erzähler als schwierig. Kafka, der Kubin 1911 in Prag traf, hat hier seine Welt gefunden. Sture Wächter verlangen unsägliche Dokumente wie das Schulaustrittszeugnis des Vaters. Auf unendlichen Fluren geht der Erzähler, während eine dunkle Kraft ihn zieht, verloren. Plötzlich aber entdeckt er Patera. Eine Art Super-Chamäleon der Literatur. Anfangs erscheint er dem verwirrten Erzähler wie ein griechischer Gott, vom Fratzentheater ständig verzerrt. Im katastrophischen Finale wächst Patera zum heiß urinierenden, Menschen verdampfenden Berg, der über Leichen stapft. Und mag auch Kubins Dramaturgie ständiger Überbietung bisweilen ermüden, so packen uns bis heute diese kalten Golemszenen.
Fast beginnt man dabei zu vergessen, wer hier berichtet - und von wo. Drei Jahre Traumleben haben dem Erzähler die Identität geraubt. Er schreibt jetzt aus einem Irrenhaus. Unzuverlässige Erzähler hat die Literatur dieser Zeit genug. Auch dieser hier, randständiger Chronist einer kollektiven Talfahrt in die Abgründe der Seele, verführt uns mit der Klarheit des Blicks - und versteht doch längst nicht alles, was er sieht. Er produziert jene Spielfiguren des Phantastischen, die uns reizen und seltsam vertraut erscheinen. Aus welchem Urschlamm gräbt er sie?
Das eigentlich Phantastische an diesem bildgewaltigen hundertjährigen Klassiker phantastischer Literatur ist seine unendliche Biegbarkeit: Man kann diesen Roman lesen als subjektive Grenzerfahrung, als brachiale, traumwandlerische Triebentleerung, als Studie über Depression. Man kann ihn freilich lesen als Text seiner Zeit, als Ausdruck jener typischen Jahrhundertwendenerschöpfung durch (zu viel) Zivilisation, in welcher nun der expressionistische Kraftmensch protzt und schwächelt. Dann wieder schwingt reinste Systemkritik mit. Zeigt nicht das Leben der Traumleute die Verführbarkeit durch Ideologie und deren Scheitern?
"Ich will aufgehört haben", schreibt Kubin in einem Brief an die Schwester 1904. Zugleich kennt er "die Kraft und Zähigkeit des Blutes, das leben will um jeden Preis, tierisch am bloßen Dasein hängt trotz der Qual, welche damit verbunden ist". In diesem Spannungsfeld muss sich das Leben Alfred Kubins zur Entstehungszeit des Romans abgespielt haben. Mit zehn erlebt er den Todeskampf der Mutter und sieht, wie der Vater "die lange Leiche der abgezehrten Frau aus dem Bett" hebt und "damit weinend und wie um Hilfe rufend in der ganzen Wohnung" herumläuft - ein Gefühlsausbruch, der den Jungen ängstigt.
Nun ist er dem Vater ausgesetzt, der den Schulversager verachtet. Früh also bewegt sich Kubin in der "Eisregion einsamsten Grübelns", die ihn zeitlebens prägt. Seinem Werk ist das Ringen mit Autoritäten, mit Schuld und Scham förmlich eingraviert. Dass er heute wegen seiner Nähe zur Künstlervereinigung "Blauer Reiter" als Wegbereiter des Surrealismus, als dämonischer Visionär und vor allem Illustrator berühmt ist, mag offenbar jener Fähigkeit geschuldet sein, Panik und Plan, Chaos und Ordnung fruchtbar zu kreuzen. Der halluzinatorische Sog, der nach dem Betrachter greift, verliert sich dabei nie.
Alfred Kubins Roman "Die andere Seite", ebenso zu empfehlen wie die Vertiefung in sein zeichnerisches Werk, hat Suhrkamp jetzt neu aufgelegt, mit Illustrationen von Kubin, aber ohne dessen Selbstbiographie, die alte Ausgaben des Romans noch enthalten. Stattdessen ließ man aber den österreichischen Schriftsteller und Büchnerpreisträger Josef Winkler für ein oszillierendes, an Kubins Leben sich anschmiegendes Nachwort zur Feder greifen.
ANJA HIRSCH
Alfred Kubin: "Die andere Seite". Ein phantastischer Roman. Mit 51 Zeichnungen und einem Plan. Mit einem Nachwort von Josef Winkler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009. 308 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Man bezweifelt nicht, dass es ernst um den jungen Kubin stand. Der Wunsch nach Auflösung zieht sich durch sein Leben, durch Briefe, Essays, Bilder. Als er am 20. August 1959, heute vor fünfzig Jahren, starb, hinterließ der 82 Jahre alte "Künstler, Grübler, Seher", wie er sich selbst nannte, nicht nur ein riesiges malerisches Werk und einige Schriften, sondern auch einen erfolgreichen Roman mit Illustrationen und Lageplan: "Die andere Seite" erschien 1909 und gilt als Klassiker der phantastischen Literatur. Kubin, ein eruptiv arbeitender Mensch, will diesen Roman, als das Zeichnen einmal nicht klappte, in nur acht Wochen abgeworfen haben, die Bilder dazu in weiteren vier. Es ist die Geschichte eines gigantischen Verfalls, dem zwar eine Schöpfungsgeschichte vorausgegangen ist - aber Kubins erzählerisches Herz gilt dem Untergang. Schon als sein Ich-Erzähler, Zeichner wie er selbst, mit seiner Frau auf Einladung des alten Schulfreunds Patera dessen seltsames Traumreich betritt, streift die Reisenden im Grenztunnel kurz Todesangst. Jenseits eines kolossalen Eingangstors hat man ihnen Menschen mit eminent geschärften Sinnesorganen versprochen, dorthin geflüchtet, weil sie mit der modernen Kultur unzufrieden waren. Aber wo kein Fortschritt, da kein Ziel. Kleider verschimmeln, Ameisen pulverisieren die Mauern. Längst fault es im Traumreich Pateras - weniger von den Rändern her, eher ausgehend vom Zentrum einer sich selbst verschlingenden Leere.
Wovon nährt sich Kubins Depression? Und wie gelingen ihm trotz eines äußerst empfindsamen Nervengespinsts in Schaffensphasen diese bizarren Szenen? Als er 1901 die ersten Bilder bei Paul Cassirer in Berlin ausstellt, stürzen sich die einen ungeschützt und begeistert in seine schwindelnden Abgründe; andere Betrachter wollen nichts wissen von seinen "krankhaften Phantasien". Magere Wölfe strolchen in Schwarzweißbildern verloren durch verwehte, fahle Gegenden; aus knöchernen Körpern wachsen ausladende Hintern, Rieseninsekten jagen Menschen. Im Bild "Geilheit" hält ein dichtbehaarter Hund mit erigiertem Riesenpenis, aus dem Samen tropft, eine nackte Frau in Schach. In Kubins bekanntestem Bild springt ein winziger Mann kopfüber pfeilschnell hinab in das struppige Geschlecht einer Frau, die mit geöffneten Schenkeln auf dem Rücken liegt. Es trägt den Titel "Der Todessprung". Man spricht von "Psychographiken". Fratzen, Tiermenschen, von teuflischer Kraft irre gewordene Frauen bevölkern Kubins Werk. Es gibt nichts, was in seinem Hirn nicht wuchern könnte. E.T.A. Hoffmann oder Edgar Allan Poe hat er unter vielen anderen illustriert; Schopenhauer und Nietzsche quasi inhaliert.
Natürlich ist da also einerseits der satte Boden seiner Zeit, die gerade erst über die Schwelle von Freud geglitten war. Natürlich waten wir mit Kubin in jenem Düsterreich, das die Tücke alles Begehrens kennt. Trotz dieser symbolischen Durchschaubarkeit, trotz dieses triebhaften Wütens schaudert es einen noch hundert Jahre nach Erscheinen seines einzigen Romans, wenn darin plötzlich in dunkler Nacht der "Klaps", ein dürrer Gaul, durch die Straßen jagt - meist dann, wenn Patera seine Anfälle hat. Kubin öffnet die Kluft des Subjekts, aber nie isoliert von gesellschaftlichen Vorgängen.
Bleiben wir kurz bei diesem rätselhaften Traumreich-Schöpfer aus Kubins Roman. Ihn zu treffen erweist sich für den umgesiedelten Erzähler als schwierig. Kafka, der Kubin 1911 in Prag traf, hat hier seine Welt gefunden. Sture Wächter verlangen unsägliche Dokumente wie das Schulaustrittszeugnis des Vaters. Auf unendlichen Fluren geht der Erzähler, während eine dunkle Kraft ihn zieht, verloren. Plötzlich aber entdeckt er Patera. Eine Art Super-Chamäleon der Literatur. Anfangs erscheint er dem verwirrten Erzähler wie ein griechischer Gott, vom Fratzentheater ständig verzerrt. Im katastrophischen Finale wächst Patera zum heiß urinierenden, Menschen verdampfenden Berg, der über Leichen stapft. Und mag auch Kubins Dramaturgie ständiger Überbietung bisweilen ermüden, so packen uns bis heute diese kalten Golemszenen.
Fast beginnt man dabei zu vergessen, wer hier berichtet - und von wo. Drei Jahre Traumleben haben dem Erzähler die Identität geraubt. Er schreibt jetzt aus einem Irrenhaus. Unzuverlässige Erzähler hat die Literatur dieser Zeit genug. Auch dieser hier, randständiger Chronist einer kollektiven Talfahrt in die Abgründe der Seele, verführt uns mit der Klarheit des Blicks - und versteht doch längst nicht alles, was er sieht. Er produziert jene Spielfiguren des Phantastischen, die uns reizen und seltsam vertraut erscheinen. Aus welchem Urschlamm gräbt er sie?
Das eigentlich Phantastische an diesem bildgewaltigen hundertjährigen Klassiker phantastischer Literatur ist seine unendliche Biegbarkeit: Man kann diesen Roman lesen als subjektive Grenzerfahrung, als brachiale, traumwandlerische Triebentleerung, als Studie über Depression. Man kann ihn freilich lesen als Text seiner Zeit, als Ausdruck jener typischen Jahrhundertwendenerschöpfung durch (zu viel) Zivilisation, in welcher nun der expressionistische Kraftmensch protzt und schwächelt. Dann wieder schwingt reinste Systemkritik mit. Zeigt nicht das Leben der Traumleute die Verführbarkeit durch Ideologie und deren Scheitern?
"Ich will aufgehört haben", schreibt Kubin in einem Brief an die Schwester 1904. Zugleich kennt er "die Kraft und Zähigkeit des Blutes, das leben will um jeden Preis, tierisch am bloßen Dasein hängt trotz der Qual, welche damit verbunden ist". In diesem Spannungsfeld muss sich das Leben Alfred Kubins zur Entstehungszeit des Romans abgespielt haben. Mit zehn erlebt er den Todeskampf der Mutter und sieht, wie der Vater "die lange Leiche der abgezehrten Frau aus dem Bett" hebt und "damit weinend und wie um Hilfe rufend in der ganzen Wohnung" herumläuft - ein Gefühlsausbruch, der den Jungen ängstigt.
Nun ist er dem Vater ausgesetzt, der den Schulversager verachtet. Früh also bewegt sich Kubin in der "Eisregion einsamsten Grübelns", die ihn zeitlebens prägt. Seinem Werk ist das Ringen mit Autoritäten, mit Schuld und Scham förmlich eingraviert. Dass er heute wegen seiner Nähe zur Künstlervereinigung "Blauer Reiter" als Wegbereiter des Surrealismus, als dämonischer Visionär und vor allem Illustrator berühmt ist, mag offenbar jener Fähigkeit geschuldet sein, Panik und Plan, Chaos und Ordnung fruchtbar zu kreuzen. Der halluzinatorische Sog, der nach dem Betrachter greift, verliert sich dabei nie.
Alfred Kubins Roman "Die andere Seite", ebenso zu empfehlen wie die Vertiefung in sein zeichnerisches Werk, hat Suhrkamp jetzt neu aufgelegt, mit Illustrationen von Kubin, aber ohne dessen Selbstbiographie, die alte Ausgaben des Romans noch enthalten. Stattdessen ließ man aber den österreichischen Schriftsteller und Büchnerpreisträger Josef Winkler für ein oszillierendes, an Kubins Leben sich anschmiegendes Nachwort zur Feder greifen.
ANJA HIRSCH
Alfred Kubin: "Die andere Seite". Ein phantastischer Roman. Mit 51 Zeichnungen und einem Plan. Mit einem Nachwort von Josef Winkler. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009. 308 S., geb., 24,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
Erfreut zeigt sich Rezensent Oliver Pfohlmann über diese Neuauflage von Alfred Kubins erstmals 1909 erschienenen "fantastischen" Roman "Die andere Seite", die auch alle Illustrationen der Erstausgabe enthält. Er bescheinigt dem Werk mit seinen detaillierten Schilderungen vom Ausbruch der Gewalt unter den Bewohnern eines in Zentralasien gelegenen Traumreichs "prophetische Qualitäten", die mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs deutlich wurden. Den von Expressionisten wie Surrealisten hochgeschätzten Roman könnte man Pfohlmann zufolge auch heute, 100 Jahre später, im Zeichen einer Finanzkrise, als "bizarre Vorwegnahme" deuten. Schließlich erinnert ihn das wirtschaftliche Leben der Bewohner jenes Traumreichs stark an eine "Monopoly-Scheinwelt". Und so kann man den Roman in seinen Augen auch als eine "großartige Satire auf den Kapitalismus" lesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Solche Bücher werden gebraucht in Zeiten des Epochenwandels: Romane von visionärer Kraft, die weiter blicken, weil sie tiefer schürfen.« Jürgen Neffe DIE ZEIT 20090813
Ein destruktiver Roman
„Die andere Seite“ von Alfred Kubin ist ein phantastischer Roman, der ein düsteres, ins Irreale abgleitendes, grauenvolles Untergangsszenario beschreibt.
Dem Ruf seines ehemaligen Schulfreundes Patera folgend, siedelt der Erzähler mit seiner Frau in …
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Ein destruktiver Roman
„Die andere Seite“ von Alfred Kubin ist ein phantastischer Roman, der ein düsteres, ins Irreale abgleitendes, grauenvolles Untergangsszenario beschreibt.
Dem Ruf seines ehemaligen Schulfreundes Patera folgend, siedelt der Erzähler mit seiner Frau in das weit entfernt liegende Traumreich Perle, irgendwo in Asien, über. Er soll teilhaben an der Erschaffung einer neuen Welt.
Das fehlende Sonnenlicht in Perle ist ein erster Hinweis auf das Grauen, das sich dort allmählich entwickelt. Patera, verantwortlich für Perle, ist ein gottähnlicher Herrscher eines Traumreichs (Zitat: „Du siehst, ich bin der Herr! - Auch ich war verzweifelt, da baute ich mir aus den Trümmern meines Gutes ein Reich. - Ich bin der Meister!“).
Mit dem Erscheinen von Herkules Bell, einem Amerikaner, spitzt sich die Situation zu. Bell entwickelt sich zum erbitterten Gegenspieler von Patera. Der Machtkampf führt zur Apokalypse. Bell ist zwar der Gegner von Patera, aber alles andere als eine Lichtgestalt. Dies wird bereits in seiner Proklamation „Werdet alle Söhne Luzifers!“ deutlich. Das Reich löst sich allmählich auf.
Insbesondere in der zweiten Hälfte des Romans verschmelzen Traum und Realität miteinander. Die Beschreibungen wirken grotesk. Die Auseinandersetzung zwischen Lebenswillen und Todessehnsucht führt zur Apokalypse.
Fazit: Wenn das Ziel darin Bestand, die Hölle zu beschreiben, ist dem Autor das auch gelungen. Wegen der surrealistischen destruktiven Beschreibungen würde ich den Roman nicht empfehlen.
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