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Produktdetails
  • Verlag: Olzog
  • ISBN-13: 9783789283321
  • Artikelnr.: 33168012
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.07.2011

Die EU als Transferunion
Hat Deutschland 61 Milliarden Euro zu viel bezahlt?

Dieses Buch ist eine trockene und doch brisante Lektüre, mit sehr vielen Zahlen, Tabellen und Rechnungen. Es diskutiert Deutschlands Rolle als "Zahlmeister" der Europäischen Union (EU) und das Reizthema Transferunion. Der Autor Franz-Ulrich Willeke, emeritierter VWL-Professor an der Universität Heidelberg, kommt auf unglaubliche Summen: 324 Milliarden Euro steuerte Deutschland seit der Wiedervereinigung zu den operativen Ausgaben der EU bei, 178 Milliarden Euro flossen zurück. Für den Zeitraum 1991 bis 2008 errechnet Willeke so die gigantische Summe von 146 Milliarden Euro Nettozahlungen durch Deutschland.

Die absolute Summe von 324 Milliarden Euro hört sich anders an als jene Größenordnung von gut 1 Prozent vom Bruttonationaleinkommen, die sonst oft genannt wird. Deutschland finanzierte in den zwei Jahrzehnten 45,1 Prozent der EU-Ausgaben, rechnet Willeke vor. Frankreich kam auf 243 Milliarden Euro Brutto- und 33,6 Milliarden Euro Nettozahlung. Seine Nettobelastung war geringer, weil es viel größere Rückflüsse, etwa Zahlungen an seine Landwirte, erhält.

Für die Jahre 2004 bis 2008 errechnet Willeke für Deutschland einen Anteil von 33,4 Prozent an der Finanzierung der EU, für Frankreich 16,7 Prozent, für Italien 13,8 Prozent, für Großbritannien 12,1 Prozent und für die Niederlande 10,4 Prozent. Gemessen an ihrer Wirtschaftskraft, leisten die Niederlande die größten Beiträge an die EU, während die Briten einen nur geringen Anteil zur Finanzierung der Union leisten.

Deutschlands Nettobeitrag ist der absolut größte in der EU. Die 146 Milliarden Euro seit der Wiedervereinigung schulterte das Land zusätzlich zur Belastung durch den Aufbau Ost. Angesichts der bisherigen Zahlungsströme muss man die Europäische Union schon längst als eine große Transferunion bezeichnen. Seit Anfang der neunziger Jahre hat sie fast 300 Milliarden Euro bewegt. Das Geld floss vom Zentrum in die Peripherie, vor allem nach Südeuropa, in die heutigen Pleitestaaten.

Willeke ist nicht grundsätzlich gegen Transfers. Er gibt auch zu, dass Deutschland als größte, exportorientierte Volkswirtschaft vom gemeinsamen Markt in der EU erheblich profitiert hat. Wofür der Autor plädiert, ist eine gerechtere Lastenverteilung. Dabei müssten die Lasten innerhalb der Gruppe der Nettozahler "solidarisch" verteilt werden. Dazu hat Willeke ein Konzept der "angemessenen Nettobeiträge" entwickelt. Es basiert auf dem Prinzip der Gleichbehandlung der Nettozahler nach ihrer Wirtschaftskraft. Sie sollen alle den gleichen prozentualen Anteil vom Bruttonationaleinkommen (BNE) zahlen, fordert Willeke. Gut 0,2 Prozent vom BNE wären der angemessene, ausreichende Nettobeitrag. Die Ausgaben der EU für die Empfänger würde nicht gekürzt, nur die Finanzierung anders verteilt.

Nach diesem Konzept der "angemessenen Nettobeiträge" hätte Deutschland von 1991 bis 2008 nicht 146 Milliarden Euro, sondern 84,9 Milliarden Euro zahlen müssen. Somit wurden Deutschland "61,1 Milliarden Euro zu viel zugemutet", rechnet Willeke. Er nennt Deutschland nicht nur Zahlmeister, sondern Melkkuh, und erlaubt sich die Bemerkung, Deutschland werde "ausgeplündert". Ebenfalls deutlich entlastet werden müssten nach seinem Konzept die Niederländer und Schweden. Viel mehr beitragen sollten Briten, Franzosen und Italiener. Der Hauptgrund für die ungleiche Belastung der Nettozahler ist der Briten-Rabatt (nachdem 1985 Margaret Thatcher ihre Handtasche auf den Tisch geschlagen und gefordert hatte: "I want my money back"). Seitdem haben die Briten nach Willeke 84 Milliarden Euro gespart. Die Abschaffung dieses und anderer Rabatte ist eine der Hauptforderungen Willekes.

Jüngst hat die Europäische Kommission Vorschläge zur Reform der EU-Finanzierung gemacht, die in den Jahren 2014 bis 2020 auf 1025 Milliarden Euro steigen soll. Zum Teil gehen sie in die von Willeke geforderte Richtung, etwa was das komplizierte Rabattsystem angeht. Die Kommission will auch die weit überproportionale Belastung Deutschlands und der Niederlande etwas senken, doch bliebe ein Gefälle.

Ein Defizit von Willekes Studie ist, dass er fast ausschließlich die Einnahmenseite untersucht und über die Verwendung der EU-Gelder kaum ein Wort verliert. Die Milliarden-Kreditpakte zur "Euro-Rettung" werden nur kurz am Schluss des Buches kritisch angesprochen.

PHILIP PLICKERT.

Franz-Ulrich Willeke: Deutschland, Zahlmeister der EU. Olzog Verlag, München 2011, 158 Seiten, 19,90 Euro

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