Forschungsinstitut zu gründen, am deutsch-nationalen Monopolanspruch des 1897 etablierten Kunsthistorischen Instituts in Florenz gescheitert. Erst 1972 gelang dem Berliner Kunsthistoriker und Venedig-Experten Wolfgang Wolters die Eröffnung des "Deutschen Studienzentrums in Venedig". Begünstigt durch die Rettungsaktionen für Venedig nach der Jahrhundertflut 1966 und finanziert von der Fritz-Thyssen-Stiftung sowie wechselnden Bundesministerien, erwarb das Studienzentrum zwei traumhafte Etagen samt Riesenterrasse im Palazzo Barbarigo della Terrazza, der 1570 am Canal Grande entstand und für die Tizian-Sammlung der Adelsfamilie Barbarigo berühmt war.
Seit 1972 haben dort über sechshundert Stipendiaten aus Wissenschaft und Kunst gearbeitet, die ihre Forschungen und Werke nun in einer reichhaltigen Anthologie vorstellen. Darin wird die Kunst eines zweiten Blicks auf die Stadt kultiviert, die nicht nur eine Hauptattraktion des globalen Tourismus ist. Vielmehr hat sich Venedig zum lebendigen Denkmal einer einzigartigen politischen, wirtschaftlichen und künstlerischen Konstellation entwickelt, deren republikanische und ebenso papst- wie monarchieferne Staatsform über tausend Jahre währte und deren Erscheinungsbild bis heute in einem Umfang erhalten ist wie kaum ein anderes Geschichtszeugnis auf der Welt.
In den Anfangsjahren des Zentrums entschied noch eine Handvoll Ordinarien diskret über Stipendiaten und Themen. Erst 2005 sorgten die Berliner Kulturstaatsminister für eine transparente Führung und sichere Finanzierung. Weil Venedig als mittelalterlichste aller Städte und reinste Repräsentation der Gotik gilt, widmen sich viele Studien der Kunst und Geschichte seit dem zwölften Jahrhundert. Zu den Kernthemen zählt auch der ökonomische Aufstieg der Seerepublik zur ersten "global city", die den gesamten Mittelmeerraum bis weit in den Orient kolonisierte. Allerdings gibt es bislang kaum Untersuchungen zum florierenden Sklavenhandel und kolonialen Kunstraub Venedigs. Als westlichster Ausläufer der byzantinischen Kultur wurde Venedig zur am intensivsten orientalisierten Stadt Europas. Zudem brachten flüchtende Griechen nach der osmanischen Eroberung Konstantinopels 1453 gewaltige Bestände an spätantiken Dokumenten mit, die bis heute in der Biblioteca Marciana auf Erschließung warten.
Den wirtschaftlichen Niedergang seit der Entdeckung neuer Seewege im fünfzehnten Jahrhundert kompensierte die Republik mit ihrem Aufstieg zur ästhetischen Großmacht. Der Prachtband beschreibt die Schlüsselstellung der venezianischen Schule für die europäische Malerei, die selbst noch in den Bildhintergründen von Giovanni Bellini, Giorgione und Tizian Inspiration für ihre Landschaftsdarstellungen fand. Den wissenschaftlichen Aufstieg datieren die Forscher auf die erste neuzeitliche Weltkarte des Mönchs Fra Mauro von 1459. Danach fanden auch die topographisch-porträthaften Stadtdarstellungen von Gentile Bellini über Carpaccio bis Canaletto europaweit Beachtung.
Spätestens seit der ersten illustrierten Ausgabe der "Metamorphosen" von Ovid 1497 stieg Venedig auch zum Zentrum der druckgraphischen Reproduktion auf. Und die Selbstdarstellung von Künstlern in ihren Häusern und Grabmalen stand den Vorbildern in Rom und Florenz nicht nach. Derweil widmen sich die Musikwissenschaften neben Monteverdi, Vivaldi und Luigi Nono auch der Gründung des ersten kommerziellen, nicht an Adelshöfe gebundenen Opernhauses von 1637. Auch zeichnen sie die Entwicklung der ursprünglich karitativen "Ospedali"-Waisenhäuser zu Musikkonservatorien mit exzellenter Ausbildung nach; und die Zahl an Theatern in Venedig übertraf um 1800 sogar Paris.
Mit einem Jahresetat von 650.000 Euro von den Kulturstaatsministern, ergänzt durch Stipendien der Thyssen- und Hackerodt-Stiftung, bleibt das Studienzentrum das einzige ausländische Institut in Venedig, das den akademischen und künstlerischen Austausch sichert und jenseits der Biennalen die Stadtöffentlichkeit anspricht. Dabei geht es verstärkt um Zukunftsfragen, von der Bewältigung des Massentourismus bis zur Klima- und Meeresökologie, die für die Lagune seit 1500 Jahren eine Existenzfrage sind. Und den Palazzo Barbarigo kennen selbst Leute, die den Namen nie gehört haben: als Kulisse der Verfilmungen von Donna Leons "Commissario Brunetti". MICHAEL MÖNNINGER
Helen Geyer, Marita Liebermann, Michael Matheus (Hrsg.): "Deutsches Studienzentrum in Venedig". 50 Jahre Wissenschaft und Kunst. Brücken am Canal Grande.
Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2023. 448 S., Abb., geb., 69,- Euro.
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