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Produktdetails
  • Verlag: Aufbau-Verlag
  • Seitenzahl: 526
  • Abmessung: 220mm
  • Gewicht: 724g
  • ISBN-13: 9783351028688
  • ISBN-10: 3351028687
  • Artikelnr.: 24142274
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1999

Gewundene Fluchtwege
Weltuntergangskomik: Paul Salamons schwarzer Exilroman

Paul Salamons "Wahrsager" ist ein Exilroman aus Ungarn. Die geschichtlichen Hintergründe liegen einerseits in dem von den Nazis veranstalteten Holocaust, andererseits in der bolschewistischen Herrschaft über Osteuropa. Sie sorgt dafür, dass die Heimat weiter verschlossen bleibt. Auf beiden Seiten ist zweifellos Autobiographisches in die Geschichte gewoben.

Verknüpft werden die zahlreichen Episoden und Handlungsstränge durch die Freundschaft der ungleichen Zentralgestalten und ein Romanmanuskript, das der eine geschrieben hat und dem der andere unter Einsatz aller Kräfte zum Durchbruch in der literarischen Öffentlichkeit verhelfen möchte. Dass dies misslingt, ist der philosophischen Tendenz des Werkes zu verdanken, der Optimismus fern liegt: Nicht materielle Triumphe, sondern die Übungen des Geistes adeln das Leben. Ein hübscher Kontrast entsteht auch dadurch, dass ja der eine Roman, der das Scheitern des andern erzählt, darüber fortschreitet und zum Abschluss gelangt. Darin drückt sich die Überlegenheit des Autors über seine Gestalt aus, so viele Ähnlichkeiten sie auch sonst miteinander verbinden mögen. Die Ungleichheiten der beiden Protagonisten sind mannigfaltig. Der eine ist Jude, der andere Christ; nach einer gemeinsamen Initialphase in Österreich landet der eine in Israel, der andere in Amerika; der eine ist Vertreter einer vita contemplativa, der andere hält es mehr mit einer vita activa, wenngleich dieser Gegensatz zum Vorteil des Romans nicht streng durchgehalten wird.

Emigrantengeschichten gibt es in diesem gewalttätigen Jahrhundert schon so viele, dass man mit einer weiteren kaum noch Aufmerksamkeit erregen kann. Gebraucht man heute das Exilthema, dann muss man sich Neues einfallen lassen, und mit neuen, oft skurrilen Einfällen geizt Salamons Buch glücklicherweise nicht. Ein Unterschied zum "normalen" Emigrantendasein besteht etwa darin, dass die beiden Freunde pausenlose Erfolge beim weiblichen Geschlecht erzielen. Emigranten sind Verlierer, und die Frauen gehören bekanntlich den Siegern. In diesem Roman sind aber die Frauen nicht nur schön und begehrenswert, sondern auch stets zugänglich und willig, sie fliegen beiden Helden nur so zu, manchmal müssen sie sich ihrer geradezu erwehren. Dieses erotische Paradies dürfte weniger der Biographie als den Wunschträumen des Verfassers entsprossen sein. Wie dem auch sei, einer der Vorzüge des Romans ist die reichhaltige Galerie von interessanten Frauenporträts und sexuellen Abenteuern, die er präsentiert.

Es ist ein Zeichen besserer Erzählwerke, dass die Darstellungsweise ebenso viel Gewicht hat wie der Inhalt, und das trifft auch hier zu, wo der Gedankenreichtum gegenüber der bloßen Fabel zu einem Faden zusammenschrumpft, an dem die Perlen des Stils aufgezogen sind. Witz, Tiefsinn und Lebensweisheit verwandeln das Wortgespinst in einen Teppich, auf dem der Leser in ferne Regionen fliegen kann, seelische und geographische. Wenn es heißt, heutzutage hätten sich die geographischen Distanzen zwar so verringert, "dass Wien von London oder auch von New York nur noch einen Sprung weit entfernt ist", dass aber die Welt "in Bezug auf das gegenseitige Verstehen so unendlich wie das Universum selbst" bleibt, so ist damit das Urteil über beide Ausdehnungen, die innere und die äußere, unmissverständlich gefällt. Die Formel, auf die der heutige Gesellschaftszustand gebracht wird, lautet: "Das Jahrhundert von Sodom", und damit sind vor allem die Vergötterung des Geldes und die Verdummung des Geistes gemeint.

Die Anprangerung dieses Missstandes geschieht freilich nicht in schwer verdaulichen Hasstiraden, sondern auf leichte und witzige Weise, so dass man die bitteren Pillen der Wahrheit mit einem angenehmen Überguss aus Zucker schlucken darf, eine bekannte Erzählweise, die schon die Römer als ridendo dicere verum bezeichnet haben. Dies ist kein realistischer Roman. Keine noch so umfassende soziologische Abhandlung über die Vereinigten Staaten könnte die Widersprüchlichkeiten des dortigen Lebens anschaulicher beschreiben als die Schilderungen des religiösen Erweckungs- und Predigerwesens, in das einer der beiden Helden verstrickt ist. Seine pikaresken Erlebnisse in diesem "Glaubens-Unternehmen" gipfeln wie viele andere in einem bestechend formulierten Aphorismus: "Sich mit Gott befassen, über Wunder nachdenken, predigen in einem Land, wo trotz der zahlreichen Kirchen tagtäglich Gottes Überflüssigkeit, seine Nicht-Existenz bewiesen wird." Israel kommt nicht besser weg, auch dort wird dem Goldenen Kalb geopfert. In diesen Aussagen zeigt sich dann doch die unauflösliche Einheit der Exilerfahrung und der Denkweise.

Durch Schrägdruck hervorgehobene Briefe und Phantasien, Gespräche mit Mäusen und längst verstorbene Größen der Weltgeschichte wie etwa Flavius Josephus, entstellte, verborgene und manchmal auch gekennzeichnete Zitate aus Werken von Tolstoi, Rilke, Shakespeare, García Lorca und andere tragen zur stilistischen Verschnörkelung und Ornamentierung bei. Wenn einer der Helden beim Wiederlesen einer Epistel sich klar wird, "nur verspielte Gedanken niedergeschrieben", dabei aber "durchaus ein Programm, eine nicht länger aufschiebbare Aufgabe" erfüllt zu haben, so beschreibt der Autor auch sein eigenes Verfahren. Und wenn er den anderen Helden erklären lässt: "Ich glaube, es ist die größte künstlerische Leistung, die traurigen menschlichen Zustände so darzustellen, dass sie keine Verzweiflung aufkommen lassen", so charakterisiert er ebenfalls den ganzen Roman. Denn die auf jeder Seite aufblitzenden Scherze, Satiren, Ironien und tieferen Bedeutungen lassen, wie es heißt, "keine Zeit zu melancholischem Nachdenken über den sinnlosen Sinn des Seins".

EGON SCHWARZ

Paul Salamon: "Der Wahrsager". Roman. Aus dem Ungarischen übersetzt von Hans Skirecki. Aufbau Verlag, Berlin. 526 S., geb., 49,90 DM.

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