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Hans-Ulrich Treichels Erzählung handelt von einer Familie, an deren Leben nichts außergewöhnlich scheint: Der Flucht aus den Ostgebieten im letzten Kriegsjahr folgt der erfolgreiche Aufbau einer neuen Existenz in den Zeiten des Wirtschaftswunders. Doch es gibt für sie nur ein einziges, alles beherrschendes Thema: die Suche nach dem auf dem Treck verlorengegangenen Erstgeborenen, nach Arnold.
»Arnold ist nicht tot. Er ist auch nicht verhungert«. Das erfährt der kleine Bruder und Ich-Erzähler eines Tages von seinen Eltern: »Jetzt begann ich zu begreifen, daß Arnold, der untote Bruder, die
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Produktbeschreibung
Hans-Ulrich Treichels Erzählung handelt von einer Familie, an deren Leben nichts außergewöhnlich scheint: Der Flucht aus den Ostgebieten im letzten Kriegsjahr folgt der erfolgreiche Aufbau einer neuen Existenz in den Zeiten des Wirtschaftswunders. Doch es gibt für sie nur ein einziges, alles beherrschendes Thema: die Suche nach dem auf dem Treck verlorengegangenen Erstgeborenen, nach Arnold.

»Arnold ist nicht tot. Er ist auch nicht verhungert«. Das erfährt der kleine Bruder und Ich-Erzähler eines Tages von seinen Eltern: »Jetzt begann ich zu begreifen, daß Arnold, der untote Bruder, die Hauptrolle in der Familie spielte und mir die Nebenrolle zugewiesen hatte.« In der Vorstellung des Jungen wird das, was der Eltern größter Wunsch ist, zum Alptraum: daß der Verlorene gefunden wird.

Lakonisch-distanziert und zugleich ungemein komisch erzählt Treichel von den psychischen Auswirkungen der Brudersuche, von den emotionalen Höhen und Tiefen und den subtilen Mechanismen, die die Eltern und auch der Sohn im Umgang mit dieser alle belastenden Situation entwickeln.

Autorenporträt
Hans-Ulrich Treichel, am 12.8.1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Er war Lektor für deutsche Sprache an der Universität Salerno und an der Scuola Normale Superiore Pisa. Von 1985-1991 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere Deutsche Literatur an der FU Berlin und habilitierte sich 1993. Von 1995 bis 2018 war Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt.  
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.1998

Das dauerhafte Grinsen im Opel Admiral
Westfälischer Unfriede: Hans-Ulrich Treichels meisterhafte Erzählung "Der Verlorene" / Von Gerhard Schulz

Diese Geschichte vom verlorenen Sohn, die Hans-Ulrich Treichel erzählt, ist traurig, komisch, makaber, amüsant, beklemmend, banal, eine unerhörte Begebenheit und ein kleines Meisterwerk. Kriegsszenerie: Flüchtlingszüge, eine junge Mutter mit ihrem kleinen Sohn auf dem Arm. Feindliche Soldaten ergreifen die Frau, die angstvoll das Kind einer anderen gibt; aber nachher, als die Männer ihre Lust an ihr gestillt haben, ist die Fremde mit dem Kind uneinholbar davongezogen im Sog des Trecks und der Weltgeschichte. Das ist Stoff, aus dem sich antike Tragödien oder Shakespearesche Verwechslungskomödien machen ließen; bei Treichel ist eine deutsche Tragikomödie daraus geworden. Ihr Anfang ereignet sich im Ostpreußen des Jahres 1945, und nicht recht zu Ende geht sie irgendwo in dem allmählich wieder zu Wohlstand gekommenen deutschen Westen.

Das schlimmste Leid, das einer Frau widerfahren kann, sagt man zuweilen, sei der Verlust ihres Kindes. Diese Mutter hier bekommt allerdings nach dem verlorenen, vom Sturm des Krieges verwehten Sohn später noch einen zweiten, der dafür sorgt, daß Tragödie und Satyrspiel wie ein Teig vermischt werden, denn dieser etwas "zu dick geratene pubertierende Knabe" ist der Erzähler von Treichels unerhörter Begebenheit. Verlorene Söhne pflegen einen privilegierten Status bei den Eltern innezuhaben, wie man vom Apostel Lukas weiß. Diesem Sohn hier kann zwar zur Heimkehr kein gemästetes Kalb geschlachtet werden, denn er kehrt nicht heim; aber man wird ihn immerhin in einem Fleischerladen beinahe gefunden zu haben glauben. Bis dahin jedoch ist es noch ein verwickelter Prozeß.

Von der schwierigen, hindernisreichen Suche nach dem verlorenen Arnold handelt hauptsächlich, was der kleine Bruder zu berichten hat, und da diese Suche zum Lebensinhalt der Mutter geworden ist, muß das jüngere Kind um ihre Liebe auf seine Weise ringen. "Sibling rivalry" - Geschwisterrivalität - nennt die Psychoanalyse dergleichen Konflikte, und auch die können gelegentlich die Dimensionen großer Tragik annehmen. Aber nicht bei den Atriden spielt sich ab, was hier erzählt wird, sondern irgendwo im Westfälischen, wohin der Krieg diese Kleinfamilie gespült hat und wo man sich eine neue Existenz gründet. Denn man ist fleißig. "Weder der schwäbisch-pietistische noch der ostpreußische Mensch ist auch nur annähernd in der Lage, so etwas wie Freizeit oder Erholung zu genießen", weiß der kleine Bruder aus dem Munde der Eltern zu berichten, wenn sie von ihrer Herkunft reden. Das Gespräch über deutsche Stammeseigentümlichkeiten aber ist ebenso beliebt wie fragwürdig.

In Treichels Erzählkunst steckt viel Hinterhältigkeit. Was dieser dicke Knabe arglos, zutraulich, gutgläubig, grollend, bekümmert mitzuteilen hat, ist in Wirklichkeit ein ganzes Panorama deutscher Trivialitäten und Platitüden. Ohne Zweifel gehört dieser Erzähler in die von Oskar Matzerath angeführte Schar tückischer deutscher Literatursöhne. Ständig erbricht er sich unterwegs, auch in des Vaters neuen Opel Admiral, und er leidet bei allen unpassenden Gelegenheiten an einer Trigeminusneuralgie, einem krampfartigen Grinsen, das seinen Vater stets in Rage bringt.

Geschwisterrivalität bedeutet zumeist auch Kampf gegen die Eltern, nur daß hier Familienpsychologie und Kleinbürgermentalität ineinander übergehen. Deutscher Fleiß ist am Werk. Der Vater steigt vom Leihbüchereibesitz über das Lebensmittelgeschäft zum Großhandel für Fleisch- und Wurstwaren auf, veranstaltet fröhliche Schweinehirnessen und strebt nach immer größeren, eleganteren Autos, in die ihm der Sohn nur eben leider hineinkotzt. Die Mutter aber entwickelt sich zur Meisterin im Terror des Vorwurfs, um aus dem Trauma von einst einen Lebensinhalt zu machen. Terror bietet Lustgewinn, dem fröhlichen Schweinehirnessen vergleichbar, und der verlorene Arnold wandelt sich immer mehr zur Waffe im Ehe- und Familienkrieg. "Ein Gefühl von Schuld und Scham" schwelt beständig in dieser Familie, der Vater "büßt durch Arbeit", die Mutter durch den obsessiven Willen, den Sohn zu finden. Treichel erzählt dergleichen psychologische Grabenkämpfe mit staunenswerter Virtuosität.

Wirklich unerhört wird die Begebenheit um die Wiedergewinnung des verlorenen Sohnes allerdings erst, als man ihn in einem Findelkind entdeckt zu haben glaubt. Denn nun greift Universitätsgelehrsamkeit ein, um die Verwandtschaften festzustellen. Es entfaltet sich eine Wissenschaftsgroteske von ebenso umwerfender Komik wie verstörender Ernsthaftigkeit: deutsche Professorenherrlichkeit errichtet aus Vergleichen von Körpermerkmalen, aus den Maßen von Tubera frontalia, Integumentmerkmalen und Triradien ein Gebäude von pseudowissenschaftlichem Widersinn, das in seiner Pomposität umgekehrt proportional zu seiner Nichtigkeit und Ertraglosigkeit steht.

Treichel beobachtet genau und beschreibt präzis. Ebenso lächerlich wie bedrückend ist diese Atmosphäre eines in feudalen Zuständen verharrenden deutschen Universitätsinstituts, bestehend aus dem hohen, gelegentlich leutseligen Herrn und seinen unterwürfigen Arbeitssklaven. Treichel ist vom akademischen Fach, wenngleich dem der Literaturwissenschaft, aber er dürfte kennen, wovon er schreibt. Nur ist das alles nicht auf bare Universitätssatire angelegt. Treichel gibt seiner Erzählung wie seinen Gestalten Fülle, indem er untergründige Bezüge spürbar macht zwischen Handeln und Herkunft, Gegenwart und Schicksal.

Ein Beispiel bietet der weißbekittelte Professor Dr. med. und phil. Freiherr von Liebstedt vom "gerichtsanthropologischen" Institut, der die Eltern des verlorenen Arnold wissen läßt, daß auch er seine Sorgen "mit den Russen" gehabt habe, die ihm sein ostpreußisches Land zuschanden gemacht hätten. Oder er bringt die prächtig witzige Gestalt eines Leichenwagenfahrers voller Kantinen-Weisheiten ins Spiel, der zur Gerichtsanthropologie nicht ohne Affinität zu sein scheint. Psychopompos, der mythische Seelenführer? Auch der Tod spielt ja in der Geschichte, die in dieser Zeitung vorabgedruckt wurde, keine unbedeutende Rolle, denn der Vater wird die Suche nach dem Sohn nicht überleben.

Treichel hat sich mit Untersuchungen zur Literatur und Poetik der Moderne habilitiert, was natürlich die Frage herausfordert, ob sich womöglich der Geist als Widersacher der Seele, die Wissenschaft als Widersacher der Literatur aufspielt. Man mag irgendwo einmal den Ton Thomas Bernhards wiedererkennen, über den Treichel geschrieben hat, aber Professorenliteratur ist das nicht. Treichels Erzählung ist ein kleines Kunstwerk von erstaunlichem Reichtum der Perspektiven und Lesemöglichkeiten. Zeitgeschichte, Deutschheit, Wissenschaftskritik gehören zu ihren Bestandteilen, aber zugleich gehören dazu die Gefühle und Charaktereigenschaften von lebendigen Menschen, also Gier und Liebe, Dummheit, Ehrgeiz, Fleiß und Borniertheit. Kein sympathisches, harmonisches Bild kommt heraus, eher ein Kaleidoskop von Dissonanzen, aber ein bemerkenswertes, faszinierendes.

Hans-Ulrich Treichel: "Der Verlorene". Erzählung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1998. 175 S., geb., 32,- DM.

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Die Geschichte einer Kindheit in den fünfziger Jahren, eine ironisch-humorvolle, bisweilen bitter-lakonische Version der Parabel vom »verlorenen Sohn«, doch auch die Geschichte der vergeblichen Suche einer Mutter nach ihrem Kind. »Ohne viel Aufhebens davon zu machen, trägt Treichel mit dieser Erzählung zur inneren Geschichtsschreibung seiner Generation bei«, hieß es in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zum Vorabdruck.