Produktdetails
  • Fischer Taschenbücher
  • Verlag: FISCHER Taschenbuch
  • Gewicht: 386g
  • ISBN-13: 9783596117864
  • ISBN-10: 3596117860
  • Artikelnr.: 23976729
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.04.2009

Liberale Würstchen

Der kanadische Autor Mordecai Richler pfeift auf das Swinging London, die eigene Herkunft und das Leben an und für sich.

Alles spricht gegen Jakob Hersch: das höhnische Filmprojekt "Die braven Briten", seine Bibliothek, die einem Marquis de Sade zur Ehre gereichen würde, und nicht zuletzt das pikante Detail, dass sich in seinem Schrank ein Sattel und eine Reitgerte verbergen, obwohl er kein Reiter ist. Aber hat sich der aus Kanada stammende, jüdische Regisseur wirklich des Straftatbestands der Perversion schuldig gemacht, indem er sich an dem deutschen Au-pair-Mädchen Ingrid Liebner vergriff? Ist das seine späte Rache an den Deutschen? Denn diese zu verabscheuen fällt ihm wahrlich leicht. Selbst Günter Grass kann der kultivierte Einwanderer "mühelos" hassen, Brecht "bis in die zehnte Generation".

Mordecai Richler erzählt in seinem 1971 unter dem Originaltitel "St. Urbain's Horseman" veröffentlichten Roman höchst amüsant davon, wie Jakob Hersch in diesen Schlamassel geraten konnte. Der 1931 in Montreal geborene und 2001 gestorbene Autor entwirft in "Der Traum des Jakob Hersch", der hierzulande lange Zeit vergriffen war, eine sarkastische Satire, die ebenso auf das vermeintlich liberale Swinging London der sechziger Jahre abzielt wie auf seine zwiespältige Hauptfigur, die auf die Familientradition pfeift, sich im weltgewandten Establishment, wo man "getto-emanzipierte Canapés" und "liberalisierte Schweinswürstchen" verspeist, gemütlich einrichtet und doch insgeheim davon träumt, ein Held zu sein.

Unterdessen spielen nahezu alle Beteiligten dem Protagonisten übel mit. Jakob geht nicht nur seine Mutter auf die Nerven, die sogar in einem unkoscheren Salami-Sandwich einen Aufruf zum Pogrom wittert, auch der findige Hochstapler Harry Stein wartet mit kompromittierenden Überraschungen auf. Dabei wollte Jakob, als er Richtung England zog, nur ein berühmter Regisseur werden, der irgendwann in seinem ruhmreichen Leben einen Nazi tötet, einen Oscar ablehnt, Heroin probiert und Mao kennenlernt. Doch schon die Einreise in die Vereinigten Staaten, erhoffter Ausgangspunkt seiner Karriere, wurde ihm verweigert, weil er mit seinem zumeist durch Abwesenheit glänzenden Cousin Joey verwechselt wurde.

Jener wird für Jakob - zu früh geboren, um im Zweiten Weltkrieg gegen den Nationalsozialismus zu kämpfen, und zu spät, um mit den hedonistischen Studenten-Revolten gegen andere Obrigkeiten aufzubegehren - zum glorifizierten Gegenbild seiner selbst; er, der immer nur der Beobachter aus sicherer Distanz war, sieht in ihm den gnadenlosen Reiter der heimischen St. Urbain Street, der Dr. Mengele persönlich über München bis nach Südamerika verfolgt; Joey ist für Jakob der legendäre Golem, "eine Art jüdischer Batman", wie er einem begriffsstutzigen Lieutenant erklärt; vielleicht ist Joey aber auch nur ein aufsässiger Hallodri, der sein Heil in der Flucht sucht.

Richler, der auch seiner Titelfigur des erst vor zwei Jahren in deutscher Übersetzung erschienenen Werks "Die Lehrjahre des Duddy Kravitz" einige Gastauftritte erlaubt, erzählt Jakobs von Selbstmitleid und -ironie geprägte Lebensgeschichte rasant und kurzweilig. Obwohl zahlreiche Fakten des Romans seinem eigenen Lebenslauf entsprechen, sollte man die derbe Groteske nicht autobiographisch lesen. Richler wuchs zwar ebenfalls im orthodox-jüdischen Einwandererviertel von Montreal auf und ging in den fünfziger Jahren nach Europa, wo ihm in London schließlich der literarische Durchbruch gelang. Zudem gab er einmal zu, die Figur des Jakob Hersch sei ihm charakterlich näher als irgendjemand sonst. Doch überzeichnet er, seiner Übertreibungskunst folgend, zuweilen maßlos, erfindet absurde Begebenheiten und drastische Anekdoten. Obgleich er sich manchmal allzu ausführlich in Jakobs schwadronierende Kultur- und Gesellschaftskritik vertieft, sind seine mit Esprit formulierten Sottisen auch für den heutigen Leser reizvoll. Immer wieder streut er geschickt Rückblenden in Jakobs nicht zuletzt von antisemitischen Vorurteilen geprägte Vergangenheit ein, um dessen gegenwärtige psychische Verfasstheit zu begründen.

Nebenbei zeichnet Richler, zeitlebens ein scharfzüngiger politischer Kommentator, ein Porträt seiner Zeit und einer Generation, die sich ihrer Rolle nicht sicher war, ja, die beispielsweise ihre eigene Herkunft, Kanada, als "unbedeutend" empfand. Freilich straft der unerwartete Erfolg des Schriftstellers Luke Scott, mit dem Jakob seiner Heimat einst den Rücken kehrte, den neidischen Freund später Lügen. Er selbst hingegen kommt nicht recht zum Zuge; er scheint nur mittelmäßig begabt; das einzige Glück, das ihm bleibt, ist seine Frau Nancy. Dass er sie tatsächlich zur Heirat bewegen konnte, führte allerdings dazu, dass Jakob von seinem Vater verstoßen wurde, weil Nancy als "Schikse" dem Ideal einer rein jüdischen Eheschließung nicht entsprach. Erst als Issy im Sterben liegt, kann er seinem Sohn ansatzweise verzeihen. Schließlich behauptet er, bald den neuen James-Bond-Film zu drehen.

In diesen Passagen gelingen Richler trotz aller vordergründigen Boshaftigkeit lebensnahe und beinahe anrührende Szenen. Raffiniert wechselt er den Tonfall, lässt seine Figuren munter drauflos plappern, wenn sie in burleske bis unappetitliche Situationen geraten, kann dann seine gelenkige Prosa aber rasch wieder in geordnete Bahnen lenken, um einen großen erzählerischen Bogen zu spannen. "Der Traum des Jakob Hersch" ist angefüllt mit etlichen zitierenswerten Aperçus, skurrilen Gestalten und pointierten Dialogen; selbst wenn dies nicht der stärkste Roman aus Richlers bemerkenswertem OEuvre sein mag, ist es ein Vergnügen, seinen gewitzten Wendungen zu folgen.

ALEXANDER MÜLLER

Mordecai Richler: "Der Traum des Jakob Hersch". Roman. Aus dem Englischen von Gisela Stege. Liebeskind Verlag, München 2009. 587 S., geb., 24,80 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr