Marktplatzangebote
5 Angebote ab € 4,00 €
  • Broschiertes Buch

Kurt Schumacher, 1895 im westpreußischen Culm geboren, zählt zu den großen Führern der deutschen Sozialdemokratie. Der bekannte Fernsehjournalist Peter Merseburger zeichnet das Leben des leidenschaftlichen Politikers vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik nach.

Produktbeschreibung
Kurt Schumacher, 1895 im westpreußischen Culm geboren, zählt zu den großen Führern der deutschen Sozialdemokratie. Der bekannte Fernsehjournalist Peter Merseburger zeichnet das Leben des leidenschaftlichen Politikers vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik nach.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.1995

Immer seiner Zeit voraus
Peter Merseburgers Biographie des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher

Peter Merseburger: Der schwierige Deutsche. Kurt Schumacher. Eine Biographie. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1995. 544 Seiten, 34 Abbildungen, 58,- Mark.

Peter Merseburger hat über den wohl interessantesten deutschen Politiker der ersten Jahre nach 1945, Kurt Schumacher, eine Biographie verfaßt, die sorgfältig recherchiert und spannend geschrieben ist. Merseburger stellt "den schwierigen Deutschen", wie er Schumacher nennt, neben die großen Arbeiterführer Lassalle und Bebel. Der Westpreuße Kurt Schumacher, der in seiner Geburtsstadt Culm an der Weichsel das Zusammenleben von Deutschen, Polen und einer jüdischen Minderheit als positive Erfahrung auch nach dem Verlust der Heimat in der Erinnerung behalten hat, fühlte sich als deutscher Patriot und internationaler Sozialist. Er trat nach 1945 als erster deutscher Politiker mit einem gesamtdeutschen und europäischen Konzept auf die Bühne. Als Vorsitzender der SPD, als ein Sozialdemokrat, der zehn Jahre in den Konzentrationslagern Hitlers verbringen mußte, hatte er Moral und freiheitliche, demokratische Tradition auf seiner Seite.

Auch wenn heute, im Rückblick auf die ersten Nachkriegsjahre, die Person Adenauers übermächtig wirkt, prägte gerade die Polarität zwischen dem "Fuchs" Adenauer und dem "Löwen" Schumacher die junge Bundesrepublik. Merseburger greift treffend zur Fabel, um das Verhältnis der beiden großen Politiker zu beschreiben. Doch blieben Schumacher bis zu seinem Tod 1952 nur sieben Jahre. 1945 hatte er formuliert: "Entweder die neue deutsche Demokratie wird sozialistisch sein oder gar nicht sein. Und entweder ist der Sozialismus demokratisch oder er ist kein Sozialismus." Diese Ideen entsprachen dem Zuge der Zeit. Merseburger meint, es sei nicht unwahrscheinlich, daß Schumacher in den allerersten Nachkriegsjahren in ganz Deutschland eine Mehrheit für sein Konzept gefunden hätte.

Schumacher konnte es sich erlauben, auch in der geschichtlichen Katastrophe, im Niemandsland, in der Niemandszeit, aufrecht und mutig für die Deutschen einzutreten. Deutschland sei, so wandte er sich noch vor der Kapitulation an die Kriegsalliierten, nun "ein weißer Fleck auf der Landkarte", der ausgefüllt werden müsse: "Unser Kampf geht darum, diese Nation menschlich und sozial in den Kreis der freien Völker zu führen." Folgerichtig konstatiert Merseburger, daß die Forderung nach Einheit in Freiheit zum Primat von Schumachers Außenpolitik wurde. Weder "Rechte" noch "Linke" können ihn indessen heute für sich in Anspruch nehmen. Wenn die einen meinen, ihn im nationalistischen Sinne vereinnahmen zu können, so macht Merseburger deutlich, daß Schumacher im Nationalismus "geradezu die Entartung der nationalen Idee" gesehen habe. Für jene "Linken", die sich hinter historisch-moralischen Hecken vor jeder internationalen Verantwortung verstecken, hätte Schumacher ebenfalls kein Verständnis gehabt. Für ihn war entscheidend, daß die SPD im Inneren und im Verhältnis zu den Siegermächten eine eigenständige, unabhängige Politik machte.

Im Ringen um die deutsche Einheit war das von entscheidender Bedeutung. Denn es war nicht zu übersehen, daß die Sowjets ihrer Besatzungszone das kommunistisch-stalinistische System aufzwingen wollten. Ausführlich und objektiv, auch mit Hilfe der SED-Archive, hat Merseburger diesen Prozeß dargestellt. Dazu gehörte vor allem die Vereinigung der beiden "Arbeiterparteien" SPD und KPD mit allen Mitteln des politischen, physischen und psychischen Drucks, wobei das Vorgehen der Kommunisten in allen Einzelheiten mit Moskau abgesprochen war. Schumacher versuchte, diese Entwicklung aufzuhalten. Vom 5. bis 7. Oktober 1945 fand in Wennigsen bei Hannover die historische "Reichskonferenz" der Sozialdemokraten aus den Westzonen statt, zu der auch Vertreter aus der Sowjetischen Besatzungszone eingeladen worden waren. Im Einladungsschreiben an die Berliner Genossen vom 30. August 1945 hieß es: "Genau wie es der Wunsch aller deutschen Sozialdemokraten ist, ein einiges Deutsches Reich zu erhalten, wollen wir auch die einige und einheitliche Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Es ist unser fester Wille, die geistige und taktische Aufsplitterung der Partei zu vermeiden." Wie aktuell!

Selbstverständlich ging es bei dieser Konferenz hauptsächlich um den Vorsitz der Partei. Grotewohl beanspruchte ihn; Schumacher, der sich auf das Mandat des Exil-Vorstandes in London stützte, desgleichen. In einem persönlichen Gespräch vereinbarten beide, daß Schumacher für die Westzonen und Grotewohl für die Sowjetische Besatzungszone als Beauftragte fungieren sollten. Grotewohl sollte mit der Formulierung, daß erst ein "Reichsparteitag" über das Zusammengehen der "beiden Arbeiterparteien" SPD und KPD beschließen könnte, der Rücken gestärkt werden, um die Vereinigungsdiskussion in der Sowjetischen Besatzungszone abzublocken. Grotewohl versprach, daß er "eher die Partei in der Zone auflösen würde", als ohne Votum der Gesamtpartei einer Vereinigung zuzustimmen. Doch er hielt sich nicht daran. Als Schumacher ihm am 8. Februar 1946 in Braunschweig die Auflösung der längst nicht mehr unabhängigen Ost-SPD abverlangte, antwortete Grotewohl: Dazu ist es schon zu spät.

Merseburger schließt aus alledem, daß Schumacher "die Freiheit über die Einheit" gestellt habe. Dem muß ich heftig widersprechen. Es ist zwar richtig, daß Schumacher die Zwangsvereinigung von Sozialdemokraten und Kommunisten in der Sowjetischen Besatzungszone nicht verhindern konnte, aber er hat mit seinem Widerstand dem sowjetischen Totalitarismus und seinen deutschen Handlangern die Grenzen gezeigt. Mehr konnte damals niemand erreichen. Vor allem wäre ohne Schumachers Politik die Freiheit wenigstens West-Berlins nicht möglich geworden, jenes Pfahls im Fleisch der kommunistisch beherrschten Zone - denn die West-Berliner Sozialdemokraten konnten sich erfolgreich der Zwangsvereinigung widersetzen.

Schumacher, so zeigt auch Merseburger auf, ist der Entwicklung immer voraus gewesen. Es ist interessant, daß die Fehleinschätzungen der Kommunisten mit denen der Befürworter der Einheit aus dem sozialdemokratischen Lager in bestimmten Phasen übereinstimmten. Beide glaubten, die Massen hinter sich zu haben. So trat auch ein, was Schumacher den realitätsfernen Sozialdemokraten ebenso wie den Mitgliedern der Christlich-Demokratischen Union und den Liberaldemokraten prophezeit hatte, ob sie nun Kaiser, Lemmer, Hermes, Gradl, Külz hießen oder Sozialdemokraten waren wie Dahrendorf, Gniffke, Brill. Sie alle mußten früher oder später aus SBZ oder DDR fliehen. Es waren die Führenden, die geirrt hatten. Die kleinen Leute mußten dableiben.

So spannend sich die Phase der Parteienbildung nach dem Krieg heute liest - die charismatische Figur Kurt Schumachers verdeckt die Kontinuität einer konservativen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik im Westen Deutschlands. Die Wahl Konrad Adenauers zum Bundeskanzler 1949 machte das besonders deutlich. Indessen vollzog sich diese Entwicklung damals in ganz Westeuropa. Daß sie in Deutschland von den Alliierten unterstützt wurde, die in ihren Heimatländern die gleiche Politik machten - auch wenn inzwischen in England Labour regierte -, war keine Überraschung. Der große Dualismus zwischen Ost und West begünstigte den Prozeß noch zusätzlich. In Deutschland lag der Schlüssel in der Wirtschaftsverfassung und der Haltung Schumachers gegenüber dem Wirtschaftsrat in Frankfurt. Der Autor konstatiert hier die größte Fehlleistung Schumachers; er hält sie für den Ausgangspunkt jahrzehntelanger Kompetenzschwäche der SPD auf diesem Gebiet.

Nun kann man sicher nicht behaupten, daß die SPD in den Zeiten von Deist und Schiller, auch von Helmut Schmidt an ökonomischer Kompetenzschwäche gelitten habe. Schumacher allerdings befand sich in einer völlig anderen Situation. 1945 konnte man nicht die Karte der freien Marktwirtschaft ziehen. In diesen Jahren der Not wären die Arbeiter der SPD in Scharen davongelaufen. Und es sei noch einmal darauf hingewiesen, daß auch die CDU zu jener Zeit in ihr Ahlener Programm sozialistische Vorstellungen aufgenommen hatte. Im übrigen stellen sich auch heute manche Fragen nach der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik neu, nachdem wir ein Heer von mehr als vier Millionen Arbeitslosen haben.

Auf die entscheidende Leistung Kurt Schumachers weist Merseburger im Zusammenhang mit der Entstehung des Grundgesetzes hin. Gegen den überwiegenden Willen der Alliierten und Konrad Adenauers setzte Schumacher die Stärkung des Bundesstaates durch, zu dem eine zentrale Finanzverfassung gehört, die es ermöglicht, gleiche Lebensverhältnisse in allen Bundesländern herzustellen. Heute erleben wir wieder einmal gegenläufige Tendenzen, die unserem Land nicht guttun.

Die wachsende Souveränität der Bundesrepublik führte in Verbindung mit dem Koreakrieg auch zu der scharfen Debatte über einen Wehrbeitrag in der Zeit des Kalten Krieges. Merseburger hat sich dieser Diskussion ausführlich gewidmet. Ein Nein zu einem Wehrbeitrag, das bei vielen Mitgliedern der Sozialdemokratie, aber auch bei bürgerlichen evangelischen Gruppen um Gustav Heinemann und Pastor Niemöller viel Beifall gefunden hätte, kam für Schumacher nicht in Betracht. Es ging ihm aber um das "Wie". Schumacher erwartete als Gegengabe die Bereitschaft der Alliierten, unter eigenem Einsatz Deutschland zu verteidigen; damit griff er der späteren Nato-Doktrin vor, die über die Jahrzehnte des Kalten Krieges die Bundesrepublik vor einem neuen Krieg bewahrt hat. Vielleicht sollte man darauf hinweisen, daß Adenauer den deutschen Wehrbeitrag viel weniger unter strategischen Überlegungen oder etwa im Hinblick auf eine zukünftige Militärdoktrin betrachtete. Für Adenauer ging es um einen weiteren Schritt zur Integration in den Westen der Bundesrepublik. Schumacher dagegen, der im Ersten Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger einen Arm verloren hatte, dachte mehr an die Bündnisverpflichtungen der Alliierten, die Deutschland bereits an der Elbe vor einem möglichen Angriff schützen sollten.

Sicher spielt bei beiden Politikern ihre konfessionelle Prägung eine große Rolle. Anders als der katholische Rheinländer Adenauer, dessen Meisterschaft als Taktiker Merseburger immer wieder herausstellt, vertraute der in protestantischer Strenge aufgewachsene Preuße Schumacher mehr seinen klaren, strategischen Überlegungen. Es ist ein Verdienst von Merseburgers Biographie, diese heute weithin vergessene Konstellation wieder sichtbar gemacht zu haben. Es hat, in den ersten Jahren der Nachkriegszeit, gerade der Gegensatz von Opposition und Regierung, vom Löwen Schumacher und dem Fuchs Adenauer, den stabilen Aufbau unserer Demokratie möglich gemacht: Denn Schumacher stärkte mit der Art, wie er die Rolle des Oppositionsführers auffaßte und ausfüllte, das Parlament als Ort der politischen Entscheidung. Leider konnte Schumacher nicht mehr erleben, bei wie vielen Einschätzungen ihm die Geschichte recht geben sollte. Aber die sieben Jahre vor seinem Tod gaben ihm Zeit genug, nicht nur der SPD, sondern auch der Bundesrepublik Deutschland ein modernisiertes, weltoffenes Gepräge zu geben. An diesem Mann müssen sich seine Nachfolger in der deutschen Sozialdemokratie messen lassen. ANNEMARIE RENGER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
'Eine gründlich recherchierte, glänzend geschriebene, von der ersten bis zur letzten Seite spannende Biographie.' (Die Zeit)