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Ein kurzer Blick, zwei sich berührende Knöchel: Als Ervin, der Schwede, und Frau Dr. Bíró einander in Budapest gegenübersitzen, blitzt für einen Moment Wagemut zwischen ihnen auf. Liegt hier ein Anfang, ein Neubeginn - obwohl die Suche nach der Vergangenheit sie zusammengeführt hat?Gábor Schein erzählt unnachahmlich schwebend und zartfühlend die Geschichte Ervins und mit seiner die Nachkriegsgeschichte Ungarns, deren Folgen bis in die Gegenwart hineinreichen.

Produktbeschreibung
Ein kurzer Blick, zwei sich berührende Knöchel: Als Ervin, der Schwede, und Frau Dr. Bíró einander in Budapest gegenübersitzen, blitzt für einen Moment Wagemut zwischen ihnen auf. Liegt hier ein Anfang, ein Neubeginn - obwohl die Suche nach der Vergangenheit sie zusammengeführt hat?Gábor Schein erzählt unnachahmlich schwebend und zartfühlend die Geschichte Ervins und mit seiner die Nachkriegsgeschichte Ungarns, deren Folgen bis in die Gegenwart hineinreichen.
Autorenporträt
Schein, GaborGábor Schein, 1969 in Budapest geboren, gehört zu den wichtigsten Schriftstellern Ungarns nach 1989. Er veröffentlichte einige erfolgreiche Lyrikbände, sowien mehrere Romane und Dramen. Er arbeitet als Professor am Institut für Ungarische Literaturgeschichte an der Eötvös Loránd Universität in Budapest.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019

Regen von zweifelhafter Substanz

Wie man sich ein Ich zusammenfabuliert: Gábor Scheins Roman "Der Schwede" beschreibt Europa aus ungarischer Perspektive.

Von Ursula Scheer

Eine ungarische Psychiaterin reist, von Briefen in ausdrucksstarker Handschrift angelockt, im Jahr 2006 zu einem sterbenden Mann nach Schweden. Sie soll seinen letzten Willen erfüllen: dem entfremdeten Adoptivsohn eine Mappe mit Unterlagen über dessen bislang geheim gehaltene Herkunft überbringen - und ein Vernichtungswerk vollenden.

In der Wunderkammer des Todgeweihten, die wie fürstliche Kuriositätenkabinette vergangener Zeiten einen Schatz staunenswerter Gegenstände birgt, soll sie jedes einzelne Objekt zerstören. Das wird auch die Geschichten liquidieren, die der sammelwütiger Besitzer über ihre Provenienz erzählt. Die meisten klingen ohnehin zu absurd katastrophal, um von der Ärztin für wahr gehalten zu werden: Lag das Kaleidoskop wirklich 1941 in der Hand eines Kindes, dessen Vater an der Ostfront fiel? Und die Wasseruhr in der eines Polen, der vergeblich hoffte, den Eisernen Vorhang für sich Richtung Schweden öffnen zu können? Wer weiß das schon. Andererseits: So oder so ähnlich lauten sie nun einmal, die zahllosen, an Memorabilien gebundenen privaten Geschichten aus dem von Grauen zerrissenen und geeinten Europa des zwanzigsten Jahrhunderts - kleine Splitter großer Schrecken. Die Psychiaterin Dr. Biró tut, wie ihr von Herrn Grönwald geheißen, und schlägt alles in Scherben.

Mit dieser Exposition lockt der ungarische Schriftsteller Gàbor Schein seine Leser in das Dickicht des Romans "Der Schwede". Der schmale Band bahnt probeweise Wege durch einen Kontinent, der von seiner Vergangenheit so schwer überschattet wird wie Frau Biró auf ihrem Gang durch Stockholm von den tiefhängenden Wolken, aus denen "Regen von zweifelhafter Substanz" fällt. Es tropft Eis. Mit solchen bis ins Mark frösteln machenden Zweifelhaftigkeiten, die einzuordnen den Sinnen schwerfällt, haben wir es hier auf allen Ebenen zu tun. Mit beinahe medizinischer Genauigkeit protokolliert der Celan-Übersetzer, Literaturdozent und Lyriker Schein als Romancier jede Regung der Körper, die zu den Personen gehören, in deren Wahrnehmung er eindringt. Auch Körper sind ihm Gegenstände, die der Geist mit Erinnerungen behaftet, hinfällig, zerstörbar wie die Objekte in Herrn Grönwalds Kabinett.

Frau Dr. Biró macht sich also auf den Heimweg nach Budapest, und wir springen zurück in die Zeit, als die psychiatrische Klinik, in der sie arbeitete, geschlossen wurde. Im nächsten Kapitel landen wir ohne Vorwarnung in einer noch früheren Vergangenheit, in den Wahnvorstellungen einer Patientin, die einmal eine lupenreine Kommunistin war, aber eben auch Jüdin, was sie aus der Kaderordnung rückte, hinaus in die Verrücktheit. Der Apparat des Regimes wird in ihrem Kopf zur Maschine, die das Denken manipuliert. Diese Frau hat alles verloren, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Zukunft. Und schließlich begegnen wir ihrem Sohn, dem unglücklichen Übersetzer Ervin, der seinen Leib bei der Übertragung fremder Prosa von Satz zu Satz zwingt und in der Intimität mit seiner Frau keine Rettung vor der Einsamkeit findet. Seine Name ist - Ervin Grönwald.

Dass Ervin als Dreijähriger von dem alten Grönwald in einem österreichischen Flüchtlingslager, in das sich 1953 Ungarn vor dem Volksaufstand im eigenen Land gerettet hatten, "erworben" wurde wie ein Fund vom Flohmarkt, den man nach Gutdünken mit einer erfundenen oder wahren Vergangenheit aufladen kann, ist die ungeheuerliche Begebenheit im Kern des Romans. Schein hebt sie - wie er im Nachwort noch einmal betont - auf die metaphorische Ebene: als wohlmeinende Adoption des Ostens durch den Westen, die seine eigene Herkunft verdunkelt.

Aber es geht um mehr. Darum etwa, wie Menschen als ewig unfertige Wesen sich ihre Identität zusammenfabulieren müssen und dabei angewiesen sind auf das, was andere zu ihnen und über sie sagen. Ein vom Vater mit Randnotizen versehener Abschiedsbrief Ervins an seine Frau - im Roman sind die Einreden als Fußnoten wiedergegeben -, stellt Fremd- und Eigenwahrnehmung schonungslos einander gegenüber. Was bleibt da vom Ich? Es ist in seiner Selbstfindung zurückgeworfen auf von Schweigen umgebenen Relikte des Verderbens. Seine frühesten Phantasiereisen tritt Ervin als Kind unter einem monströsen Eichentisch an, der ein Siegel mit Adler trägt - das Zeichen dafür, dass dieses Möbel von aus dem NS-Staat geflohenen oder deportierten Juden enteignet wurde.

Der Holocaust ist in solchen Zeichen ebenso präsent wie die Zermalmung der jüdisch geprägten Psychoanalyse durch den Kommunismus in der Biographie von Ervins Mutter. Das Gestern fließt ins Heute und verbindet Lebenswege über immer neu gezogene Grenzen hinweg. Der Sprache, dem altmodischen Brief kommt dabei eine Schlüsselstellung zu. Doch nichts geht über den direkten Kontakt. Eine zufällige Berührung am Knöchel könnte Ervin und Frau Biró miteinander verbinden. Vielleicht wäre das aber auch schon zu viel der Nähe, vielleicht bleiben beide gefangen in der jeweils eigenen, paradox verstrickten Isolation. In diesem Roman, den Lucy Kornitzer in elegantes Deutsch übertragen hat, bleibt vieles unausgesprochen und in der Schwebe. Schein macht es seinen Lesern nicht leicht, weil er an Handlung kaum interessiert ist. Wer sich aber darauf einlässt, kann sich in der fein nuancierten Skizze eines aus winzigen Details zusammengesetzten europäischen Panoramas aus ungarischer Perspektive verlieren.

Gábor Schein: "Der Schwede".

Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Friedenauer Presse, Berlin 2019. 210 S., geb., 22,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.12.2019

Die Kinder des Konformitätsdrucks
Gábor Schein konfrontiert in seinem Roman „Der Schwede“ das gegenwärtige Ungarn mit der gescheiterten Revolution von 1956
In den Neunzigerjahren konnte man sich kurzzeitig der schönen Illusion hingeben, das 20. Jahrhundert sei doch noch friedlich zu einem Ende gekommen. Doch die Gesinnungsenkel totalitärer Machthaber sind heute, ausgestattet mit eindrucksvollen Fähigkeiten zur Geschichtsklitterung, politische Akteure mit zunehmendem Gewicht. Die Literatur vermag vielleicht besser als jedes andere Medium, jede andere Kunstform die inzwischen oftmals verleugneten Linien nachzuzeichnen, die von der Vergangenheit in die Gegenwart führen, von der Sehnsucht nach Vergessen zum pathetischen Retrokitsch. Und immer auch zurück.
Gábor Schein, geboren 1969 in Budapest, ist Dichter, Autor, Kritiker und Übersetzer deutscher Lyrik; er lehrt ungarische Literatur an der Eötvös-Loránd-Universität von Budapest. In seiner Heimat hat er etliche Gedichtbände und Theaterstücke veröffentlicht, hierzulande wurde sein Werk bisher kaum wahrgenommen. Auf Deutsch erschien 2004 im Verlag Merz und Solitude ein schmaler Roman mit dem Titel „Lazarus“.
Nun, 15 Jahre später, versucht die wiederauferstandene Friedenauer Presse den Autor mit seinem jüngsten Roman, übersetzt von Lacy Kornitzer, dem deutschsprachigen Publikum näherzubringen. „Der Schwede“, 2015 im Original erschienen, spannt einen Bogen von 1956 bis ins Jahr 2006, einer Zeit, wie Schein schreibt, „die schon vom baldigen Rückfall Ungarns in seine Vergangenheit kündet“. Das Buch handelt von jenen Gespenstern, die aus dem 20. Jahrhundert hinübergreifen ins Jetzt. Davon, wie sich das System der Lebenswelt der Individuen zu bemächtigen sucht.
Drei Figuren des Romans sind in den unaufhaltsamen Lauf der Geschichte zwischen dem neutralen Schweden und dem ehemals kommunistischen Ungarn verstrickt. Da ist zunächst Grönewald, der seine unheilbare Krankheit schon in sich trägt. Er hat zeit seines Lebens eine Sammelleidenschaft gehegt und sich mit „toten“ Gegenständen umgeben, die seiner „Fantasie Flügel“ verleihen sollten. Diese Beziehung zu den Dingen hat es ihm ermöglicht, menschlicher Nähe aus dem Weg zu gehen. Zu seinem Sohn Ervin hat er ein äußerst distanziertes Verhältnis. Der Kontakt ist längst abgebrochen.
Nach dem Tod seiner Frau interessiert Grönewald sich endlich für seinen Sohn, genauer: für die Leerstelle, die dessen Leben mitbestimmt. Ervin ist ein adoptiertes Kind. 1957 nahm das schwedische Paar Grönewald, den Flüchtlingsjungen aus Ungarn, zu sich in Obhut. Drei oder vier Jahre alt war er da, und das ist auch schon alles, was die beiden damals über das Kind wussten. Ervin wuchs in einer Umgebung auf, von der er wohl spürte, dass sie ihm etwas vorenthielt – aber die Pflegeeltern wollten den Jungen vor der Vergangenheit abschirmen, und sich selbst wohl auch. „Das bedeutete, Ervin nicht mit der dünnen Schicht seiner Geschichte, soweit sie ihnen bekannt war, vertraut zu machen.
Daran hielt sich Grönewald selbst nach seiner Pensionierung und dem Tod seiner Frau und auch, nachdem er der fehlenden Vorgeschichte schrittweise auf die Spur gekommen war, den Umständen, unter denen dem Kind zur Flucht verholfen worden war. Weshalb hatte sich die Person, die bei der Flucht bei ihm war, von ihm getrennt und ihm gewissermaßen zum zweiten Mal die Nabelschnur durchgeschnitten? Zu dieser Zeit war der Kontakt zwischen Frau Dr. Bíró und Herrn Grönewald entstanden. Sie verstand den Grund seines Schweigens, dachte sie, und auch, dass er sich Jahre später und nach dem Tod seiner Frau mehr und mehr, sozusagen ausschließlich mit Ervins Schicksal beschäftigte.“
Biró ist neben Vater und Sohn die Dritte im Bunde. Sie arbeitet in der größten Nervenheilanstalt Budapests, die im Jahr 2006 kurz vor der Schließung steht. Im Archiv dieser Klinik finden sich Dokumente über Anna Stiller, die Mutter Ervins. Sie war überzeugte Kommunistin, als Jüdin aber zugleich verdächtig; in ihrem Versuch, sich den rasch wandelnden Gegebenheiten anzupassen, eine treue Streiterin für das neue Ungarn zu sein, geriet sie immer tiefer in Widersprüche zur Partei, zum System, zu ihrer eigenen Überzeugung.
Die äußeren Spannungen erzeugten innere, und ihre Vorstellungswelt wurde zusehends wahnhaft, zumal nach dem gescheiterten Ungarnaufstand 1956. Sie wurde mehrfach in die Heilanstalt eingewiesen, das Kind ihr weggenommen. Die Psychiatrie diente nicht der Fürsorge, sondern als Erziehungsanstalt – Überwachen und Strafen: Mit Elektroschocks wurden die Genossinnen und Genossen, die dem Konformitätsdruck nicht mehr standhielten, behandelt oder besser: vernichtet.
Biró besorgt auf Bitte Grönewalds die Akte von Anna Stiller, und sie vertieft sich so sehr in diesen Fall, dass sie selbst aus dem Gleichgewicht gerät. Stillers Schicksal scheint ihr der Beweis dafür, „dass die Psychiatrie oder ein von der Psychiatrie unterstützter Zeitgeist jene als Kranke abstempelt, die sich den neuen gesellschaftlichen Erfordernissen nicht nahtlos anpassen können.“
Die drei Biografien vernäht Schein zu einem komplexen Gewebe. Grönewald, Ervin und Biró sind miteinander über verschiedene Länder hinweg verwoben, und die einzelnen Fäden lassen sich aus dieser dichten, teils undurchschaubaren Textur kaum noch herauslösen. Denn das ist das Problem dieser drei ungleichen Figuren: dass sie ihre Identität nicht unabhängig von der Unheilsgeschichte des 20. Jahrhunderts und ihrem unfreiwilligen Verstricktsein in deren Absurdität definieren können. Deshalb ist, obwohl sie aufeinander bezogen sind, eine Annäherung zwischen ihnen kaum denkbar.
Ihnen ist eine Rolle zugedacht, aus der sie nur durch einen Akt des Vergessens oder wiederum durch wahnhafte Selbstverleugnung heraustreten können. Sie scheitern auf je eigene Weise. Ervins Ehe missglückt, Dr. Biró wird ihr Tun zunehmend suspekt, und der patriarchal auftretende Grönewald stirbt einen einsamen Tod.
Gábor Schein zeigt in seinem vielschichtigen, fast schon überdeterminierten Roman, dass die Modalitäten des Lebens und Überlebens von der Vergangenheit bestimmt werden. Die Zukunft droht angesichts dieser Last zur Überforderung zu werden. Erbaulich ist das nicht. Aber als literarische Krankenakte des unverdauten 20. Jahrhunderts äußerst imponierend.
ULRICH RÜDENAUER
Die Hauptfiguren des Romans
sind miteinander verbunden, aber
sie können sich nicht annähern
Der Autor Gábor Schein.
Foto: Schein
Gábor Schein: Der Schwede. Roman. Aus dem Ungarischen von Lacy Kornitzer. Friedenauer Presse, Berlin 2019. 204 Seiten, 22 Euro.
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