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Joan Maragall (1860-1911) ist für die neusprachliche katalanische Lyrik von entscheidender Bedeutung. Hatten die Autoren der »Renaixença« (Wiedergeburt) das Katalanische ab 1830 aus seiner literarischen Marginalisierung befreit, so gelang es Maragall, die Sprache von historisierenden Tendenzen zu befreien und das Alltags-Katalanisch für den poetischen Gebrauch zu emanzipieren. Maragall, neben dem Architekten Antoni Gaudí der Hauptvertreter des »Modernisme«, war ein großer Bewunderer Goethes, von dem er Gedichte und Dramen übersetzte; in seinem Werk treffen sich pantheistisches Weltgefühl und…mehr

Produktbeschreibung
Joan Maragall (1860-1911) ist für die neusprachliche katalanische Lyrik von entscheidender Bedeutung. Hatten die Autoren der »Renaixença« (Wiedergeburt) das Katalanische ab 1830 aus seiner literarischen Marginalisierung befreit, so gelang es Maragall, die Sprache von historisierenden Tendenzen zu befreien und das Alltags-Katalanisch für den poetischen Gebrauch zu emanzipieren. Maragall, neben dem Architekten Antoni Gaudí der Hauptvertreter des »Modernisme«, war ein großer Bewunderer Goethes, von dem er Gedichte und Dramen übersetzte; in seinem Werk treffen sich pantheistisches Weltgefühl und christlicher Glaube, liberales Bürgertum und soziales Engagement, literarischer Pioniergeist und naiv-kindliches Staunen.Bislang sind Übersetzungen von Gedichten Maragalls ins Deutsche nur sehr vereinzelt in Anthologien und Zeitschriften veröffentlicht worden, die meisten bereits vor Jahrzehnten. Mit diesem Band liegt zum ersten Mal eine zusammenhängende deutschsprachige Auswahl in Buchform vor, die dazu einlädt, einen Eindruck von der poetischen Frische und Tiefe dieses Autors zu gewinnen.Àxel Sanjosé, geb. 1960 in Barcelona, ist Lyriker und Lyrik-Übersetzer. Er lebt seit 1978 in München, wo er Germanistik studierte und hauptberuflich für ein Designbüro arbeitet; darüber hinaus ist er Lehrbeauftragter am Institut für Komparatistik der Universität München. Aus dem Katalanischen hat er u.a. Die Spiegel. Der öde Raum von Pere Gimferrer (Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, 2007), die Anthologie vier nach (Lyrik Kabinett, 2007) sowie den Band Poesies/Gedichte von Màrius Torres (Rimbaud, 2019) herausgegeben und übersetzt. Sein jüngster Gedichtband Das fünfte Nichts (ebenfalls Rimbaud) erschien 2021.
Autorenporträt
Joan Maragall i Gorina (_ 10. Oktober 1860 in Barcelona; 20. Dezember 1911) war ein katalanischer Dichter. Er war der Hauptvertreter des literarischen Modernisme und der einflussreichste Dichter der katalanischen Moderne.

Àxel Sanjosé zog 1978 nach München, wo er Germanistik studierte und heute für das Designbüro KMS tätig ist. Seit 1988 ist er darüber hinaus Lehrbeauftragter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München. Von Sanjosé sind bislang zwei Gedichtbände erschienen, außerdem übersetzt er Lyrik aus dem Katalanischen und Spanischen und ist als Juror für den Lyrikpreis München tätig.[Für die Übersetzung wurde Àxel Sanjosé mit dem Ramon-Llull-Preis für Literarische Übersetzung ausgezeichnet.

Àxel Sanjosé, geb. 1960 in Barcelona, ist Lyriker und Lyrik-Übersetzer. Er lebt seit 1978 in München, wo er Germanistik studierte und hauptberuflich für ein Designbüro arbeitet; darüber hinaus ist er Lehrbeauftragter am Institut für Komparatistik der Universität München. Aus dem Katalanischen hat er u.a. "Die Spiegel. Der öde Raum" von Pere Gimferrer (Edition Lyrik Kabinett bei Hanser, 2007), die Anthologie "vier nach" (lyrik Kabinett, 2007) sowie den Band "Poesies/Gedichte" von Màrius Torres (Rimbaud, 2019) herausgegeben und übersetzt. Sein Gedichtband "Das fünfte Nichts" (ebenfalls Rimbaud) erschien 2021.
Rezensionen
TraLa Lit Magazin für übersetzte Literatur, 5. APRIL 2023 - REZENSION "Wozu nutzlos das Blut vergießen?" Àxel Sanjosé hat die Gedichte des katalanischen Dichters Joan Maragall neu ins Deutsche gebracht. Von seiner Herangehensweise kann man viel über das Übersetzen von Lyrik lernen. VON MATTHIAS FRIEDRICH Joan Maragall (1860-1911) zählt zu den einflussreichsten Dichtern der katalanischen Moderne. Zu Lebzeiten veröffentlichte er fünf Lyrikbände und einige verstreute Gedichte. Von einigen sporadischen Publikationen abgesehen, ist er im deutschsprachigen Raum bislang allerdings unbekannt. Das ist erstaunlich, denn er bemühte sich zeit seines Lebens um einen Dialog zwischen der deutschen und der katalanischen Literatur und übersetzte unter anderem Goethe. Sein Schattendasein hierzulande ist aber keine Überraschung, wenn man bedenkt, dass Spanien im Laufe seiner Geschichte das Katalanische oft zugunsten des Kastilischen verdrängt hat. Erst durch die renaixença, die "Wiedergeburt" im späten 19. Jahrhundert, kam ein neues Interesse an der katalanischen Sprache auf und zugleich ein gesteigertes Interesse an Übersetzungen. Joan Maragall bewegt sich in diesem kulturhistorischen Kontext, wenn sein Werk aus literaturhistorischer Sicht auch zum modernisme gehört. Modern sind nicht die Themen seiner Gedichte (oft Liebes- und Naturgedichte mit Beschreibungen ländlicher Szenen), sondern ihre Ausarbeitung. Denn Maragall schreibt so, wie das Volk spricht, und orientiert sich dabei an Beobachtungen des Alltags, an Sagenstoffen oder populären Liedern, aber auch an der wechselvollen politischen Beziehung zwischen Katalonien und Spanien: Stoffe, die sozusagen auf der Straße liegen. Die Innovativität von Maragalls Gedichten liegt also vor allem auf der metrischen Ebene. Denn er verwendet viele unterschiedliche Formen, klassische wie moderne, und löst die starren Strukturen des Verses nach und nach auf. Der katalanische Vers unterscheidet sich allerdings erheblich vom deutschen. Romanische Sprachen kennen nur eine festgelegte Silbenzahl pro Vers - wobei je nach Formvorlage Akzente an verschiedenen Stellen gesetzt werden können, beispielsweise in der Mitte oder am Ende des Verses -, germanische nur regelmäßige Abfolgen betonter und unbetonter Silben, aus denen sich ein metrisches Muster ergibt, z. B. ein Jambus. Verse werden im Katalanischen dementsprechend meist nach der Anzahl ihrer Silben benannt: decasíl·lab (Zehnsilber), enneasil·lab (Neunsilber), octosíl·lab (Achtsilber), heptasíl·lab (Siebensilber), hexasíl·lab (Sechssilber), pentasíl·lab (Fünfsilber) usw. Für den Transfer vom katalanischen System ins germanische kommen mehrere Lösungen in Frage: Man kann versuchen, das Versmaß so genau wie möglich zu kopieren, die Vorlage in Prosa übertragen oder sie nachdichten, wobei man die formalen Vorgaben nicht allzu schulmeisterlich übernimmt und Raum für freiere Deutungen lässt, etwa rhythmisierte Prosa mit festen metrischen Strukturen kombiniert. Die Schwierigkeiten bei der Übertragung eines romanischen Versmaßes spielen natürlich auch für die deutsche Maragall-Rezeption eine wichtige Rolle. Zwar zählt der Übersetzer Ramon Farrés in einem Artikel insgesamt 27 deutsche Fassungen von Maragalls Gedichten, weist jedoch auf große qualitative Unterschiede hin. Schaut man sich einige dieser Texte an, merkt man schnell, wie komplex Lyrikübersetzungen sein können und wie die Übersetzer:innen ihre Herausforderungen meistern: Die einen versuchen, eine möglichst exakte Entsprechung für das Versmaß zu finden, manche fokussieren sich nur auf den Inhalt. Andere hingegen sind in Festschriften für Professoren erschienen oder wurden in Marketingkampagnen der katalanischen Regionalregierung für das europäische Ausland verwendet. Solche Übersetzungen sind allerdings oft nur interlinear und sagen rein gar nichts über die literarische Qualität ihrer Vorlage aus. Der Lyriker Àxel Sanjosé hat nun mit Der Pinien Grün, des Himmels Blau in der Stiftung Lyrik Kabinett eine Anthologie vorgelegt, die einen Einblick in verschiedene Stufen von Maragalls Werk gewährt. Die großen Klassiker, die in Katalonien einen ähnlichen Rang genießen wie hierzulande Goethes bekannteste Texte, sind darin genauso enthalten wie laut eigener Aussage so mancher Liebling des Übersetzers. Auch lassen die ausgewählten Texte Rückschlüsse auf typische Motive und Formen von Maragalls Dichtung zu. Bei seiner Übertragung folgt Sanjosé einem Prinzip, das er im Nachwort als "Rhythmus für Reim" bezeichnet. Metrische Strukturen belässt er nach Möglichkeit nah am katalanischen Text, nimmt für einen decasíl·lab etwa einen Blankvers, und verzichtet auf den Reim, da romanische Sprachen eine größere Vielfalt an Gleichklängen kennen als germanische. Das hat den großen Vorteil, dass er den Zieltext weder inhaltlich noch rhythmisch zurechtbiegen muss, nur um ihn in ein bestimmtes Schema zu pressen. Aber auch bei Sanjosé geht Rhythmus nicht vor Inhalt. Wenn ein Wort vom Versmaß her nicht passt, aber die Vorlage genauer wiedergibt als das aus metrischer Sicht zutreffendere, schließt er es nicht aus. Würde Sanjosé sich allzu sklavisch ans Metrum halten, könnte er Maragalls alltagsnahe Sprache nicht als solche wiedergeben, schlimmstenfalls klänge seine Übersetzung sogar so altbacken und pseudopoetisch wie frühere Versuche. Stur in Prosa überträgt er jedoch keinesfalls, sondern er dichtet nach: Sanjosé verwendet Jamben, Trochäen, Daktylen usw., er baut Assonanzen und Binnenreime ein und arbeitet gezielt an der Wortwahl, etwa, um einen volksliedhaften oder märchenhaften Eindruck zu erzeugen. Wie stark sich seine Methode in Metrik, philologischer Genauigkeit und Ton von einem Vorgänger mit einer ähnlichen Arbeitsweise unterscheidet, wird aber erst bei einem Vergleich mit zwei früheren Übersetzungen klar. La vaca cega ist eines von Maragalls bekanntesten Gedichten und erzählt von einer Kuh, die - nach dem Steinwurf eines Knechts erblindet - über ihre Weide zur Tränke läuft. Das Gedicht wurde erstmals 1923 von Rudolf Großmann übersetzt: Topant de cap en una i altra soca, avançant d'esma pel camí de l'aigua, se'n ve la vaca tota sola. És cega. D'un cop de roc llançat amb massa traça, el vailet va buidar-li un ull, i en l'altre se li ha posat un tel. La vaca és cega. Ve a abeurar-se a la font com ans solia, mes no amb el ferm posat d'altres vegades ni amb ses companyes, no: ve tota sola. Ses companyes, pels cingles, per les comes, pel silenci dels prats i en la ribera, fan dringar l'esquellot mentres pasturen l'herba fresca a l'atzar... Ella cauria. Topa de morro en l'esmolada pica i recula afrontada... Però torna i abaixa el cap a l'aigua i beu calmosa. Beu poc, sens gaire set... Després aixeca al cel, enorme, l'embanyada testa amb un gran gesto tràgic; parpelleja damunt les mortes nines, i se'n torna orfe de llum sota del sol que crema, vacil·lant pels camins inoblidables, brandant lànguidament la llarga cua. Die blinde Kuh Die Hörner hie und da an Bäume stoßend Und wie im Traum zur Wasserstelle wandelnd, Stapft einsam ihres Wegs die Kuh - die blinde. Ein Stein, vom Viehknecht allzugut geworfen, Schlug ihr ein Auge aus, indes das andre Ein Schleier trübte, bis sie blind geworden. Nach dem gewohnten Quell zur Tränke geht sie, Doch nicht so festen Schritts wie wohl vorzeiten, Auch nicht mit den Gefährtinnen. Nein, einsam Die Schwestern lassen über Schlucht und Halde, Am Uferrand und durch der Triften Frieden Die Glocken klingen, während sie nach Laune Am Gras sich gütlich tun: sie würde straucheln. Da stößt ihr Maul sich am zerwaschnen Kübel, Sie prallt entsetzt zurück, kehrt dennoch wieder, Taucht in den Trog den Kopf und trinkt bedächtig. Trinkt wenig, ohne Durst. Darnach erhebt sie Das riesige gehörnte Haupt gen Himmel Mit furchtsam-schmerzlicher Gebärde, zwinkert Aus toten Augensternen und entfernt sich, Des Lichtes Stiefkind trotz glühheißer Sonne, Auf einprägsamen Wegen hilflos irre, Den langen Schweif entkräftet um sich schlagend. (Rudolf Großmann, 1923) Die erblindete Kuh Den Kopf an diesen, jenen Baumstamm stoßend, aus altem Trieb auf ihrem Weg zum Wasser kommt eine Kuh, allein. Das Tier ist blind. Mit einem allzu gut geworfnen Stein leerte ein Junge einst ihr Aug. Das andre trübt nun ein Schleier ein. Die Kuh ist blind. Zur Tränke kommt sie ebenso wie früher, doch nicht mehr mit dem sichren Schritt von damals noch mit der Herde: Nein, sie kommt allein. Auf stillen Wiesen und an Baches Ufer, auf Felsen, Hügeln lassen ihre Glocken erklingen die Gefährtinnen und weiden aufs Geratewohl ... Sie würde stürzen. Das Maul stößt unsanft an die harte Tränke, sie setzt gekränkt zurück ... kehrt jedoch wieder und neigt den Kopf zum Wasser, trinkt gemächlich. Nur wenig trinkt sie, ohne Durst ... Dann hebt sie ihren gehörnten Kopf zum weiten Himmel mit tragisch großer Geste, regt die Lider über den toten Pupillen und geht dann, an Licht verwaist unter sengender Sonne, geht zögernd auf den unvergessnen Pfaden, bewegt den Schwanz nur träge hin und her. (Àxel Sanjosé, 2022) Schon beim Titel muss man aufpassen. Großmann scheint die Nebenbedeutung der "Blinden Kuh" im Deutschen nicht bedacht zu haben, wohingegen Sanjosé die irreführende Assoziation mit dem Kinderspiel, das in Katalonien "Blindes Huhn" heißt, elegant umschifft. Zudem verwendet Maragall decasíl·labs: "To pant de cap en u na i alt ra so ca", wobei im vorliegenden Fall die Betonung auf der vorletzten Silbe liegt und "una i" eine Synaloiphe ist, die End- und Anfangssilbe zweier Wörter, die auf einen Vokal enden bzw. beginnen, also zusammengezogen und als eine einzige Silbe ausgesprochen werden. Daher hat die erste Zeile des Gedichtes elf Silben und nicht zwölf. Germanische Sprachen kennen zwar keinen decasíl·lab, aber dafür einen Vers, der ebenfalls elf (oder, je nach Versendung, zehn) und insgesamt fünf betonte Silben aufweist: den Blankvers. Ebenjenen setzen sowohl Großmann als auch Sanjosé in ihrer Übersetzung ein: "Den Kopf an die sen, je nen Baum stamm sto ßend" (Sanjosé), "Die Hör ner hie und da an Bäu me sto ßend" (Großmann). Soviel zu den Gemeinsamkeiten. Sonst bestechen beide Fassungen aber vor allem durch ihre Unterschiede. In den ersten beiden Versen ist noch nicht klar, wer hier aus welchem Grund was genau tut. Ohne dass sie es zunächst ahnen, nehmen die Leser:innen also die Perspektive der Kuh ein, sie sehen genauso wenig wie sie. Dann, im dritten Vers, wird das Subjekt benannt, und plötzlich wird klar, was hier eigentlich gespielt wird. Zu Zwecken der Leseführung sollte das auch in der Übersetzung so bleiben, und sowohl Großmann als auch Sanjosé zeigen, dass das im Deutschen ohne weiteres klappt. Nur ist Großmanns Lösung weniger gelungen als Sanjosés. Die entscheidende Information, nämlich dass die Kuh blind ist, klappert wie ein unwillkommener Schweif am Satzende. Großmann fasst die beiden Sätze der ersten drei Verse, die bei Maragall so klar sind, zu einem einzigen zusammen. Der fügt sich zwar locker in die gewählte Versstruktur ein, leiert wegen des nachgeschobenen Adjektivs jedoch vor sich hin. Sanjosé hingegen bleibt näher am Text: Er verzichtet auf Großmanns wortreichen Bombast, der einem schlichten, an der Allgemeinsprache gehaltenen Blankvers nicht wirklich guttut ("Stapft einsam ihres Wegs") und entscheidet sich für eine schmucklosere Lösung: "kommt eine Kuh, allein". Daran lässt sich Maragalls lakonisches "És cega." nahtlos in den Blankvers fügen: "Das Tier ist blind". In Sanjosés Übersetzung geht nichts verloren, weder aus inhaltlicher noch aus poetischer Sicht. Das ist in den nächsten beiden Versen augenscheinlich anders, denn Sanjosé erlaubt sich hier eine kleine Freiheit: "leerte ein Junge einst ihr Aug" steht da. Ein Blankvers, der mit einem Trochäus einsetzt, ist erst einmal ungewöhnlich, ja sicher auch dilettantisch, aber hier die einzige gescheite Möglichkeit, Maragalls Verb "buidar" wiederzugeben (das er wörtlich als "leeren" übersetzt). Eine seltsame, ja vielleicht sogar falsche Wortwahl, denn wie kann ein Stein etwas leeren? Zwar ist Großmanns Übersetzung aus metrischer und inhaltlicher Sicht korrekt ("Ein Stein, vom Viehknecht allzugut geworfen, / Schlug ihr ein Auge aus"), aber er tauscht nicht nur Maragalls "unsachgemäßen" gegen den idiomatisch korrekten Ausdruck ein, sondern verzichtet - anders als Sanjosé - auch auf die Zeitangabe: nämlich wann genau der Knecht den Stein geworfen hat. Das muss, obwohl hier kein Plusquamperfekt steht, zu einem nicht näher benannten Zeitpunkt in der (Vor-)Vergangenheit passiert sein, so viel kann man sich aus Großmanns Version erschließen, aber Sanjosés "leerte einst" gibt Maragalls "va buidar" deutlich treffender wieder. Zwar mag Großmanns Fassung die metrischen Vorgaben des Blankverses besser einhalten als Sanjosés, sie unterschlägt jedoch Maragalls eigentümliche, eben nicht am Standardvokabular orientierte Wortwahl und die klare Trennung der beiden Zeitebenen. Auch in den folgenden anderthalb Versen erweisen sich Sanjosés Lösungen als treffender. Wieder fasst Großmann zwei durch Punkte voneinander getrennte Sätze zu einem zusammen: "indes das andre / Ein Schleier trübte, bis sie blind geworden", wohingegen sich Sanjosé enger an die einfache Sprache und Struktur der Vorlage hält: Aus Maragalls "i en l'altre / se li ha posat un tel. La vaca és cega" macht er "Das andre / trübt nun ein Schleier ein. Die Kuh ist blind." Großmanns Text wirkt auch deshalb so altbacken, weil die Lösung mit dem weggelassenen Hilfsverb ("blind geworden") einzig und allein dem Blankvers geschuldet ist, der eingehalten werden will. "Nach dem gewohnten Quell zur Tränke geht sie", schreibt Großmann. Die altertümelnde Dativform "Nach dem ... Quell" klingt mit einhundert Jahren Abstand etwas schräg, hinzukommt die Syntax, die nicht der Mündlichkeit der Vorlage entspricht, sondern zugunsten der Metrik zurechtgedrechselt wurde. Großmanns Vers klappert unangenehm, Sanjosé hingegen entscheidet sich für eine prägnantere Lösung: "Zur Tränke kommt sie ebenso wie früher" - was nicht nur deshalb funktioniert, weil der Satz ungefähr so klingt, als würde man ihn gesprochen hören, sondern auch, weil er Maragall "com ans solia" (wörtlich: "wie sie es früher zu tun pflegte") mit einem lapidaren "ebenso wie früher" wiedergibt. Ganz nebenbei baut Sanjosé über mehrere Zeilen hinweg noch ein paar simple, aber subtile Klangeffekte ein. Sie geben seiner Übersetzung einen beschwingten Klang, der gut zum lebhaften Plauderton des katalanischen Textes passt: "Stein", "ein", "nein", "allein". Auch aus Sanjosés Übersetzung gewinnt man den Eindruck, hier erzähle jemand dem Dichter von einer erblindeten Kuh, die er auf einer Weide beobachtet hat. Dagegen wirkt Großmanns Übersetzung recht schwerfüßig und oft schwermütiger als die Vorlage erlaubt - was sicherlich auch daran liegt, dass sie schon 100 Jahre alt ist. Insgesamt verfestigt sich im Folgenden der Eindruck, dass sich die neue Fassung näher an den katalanischen Text hält. "Das Maul stößt unsanft an die harte Tränke", schreibt Sanjosé, die Tränke aus dem siebten Vers wieder aufgreifend, und Großmann: "Da stößt ihr Maul sich am zerwaschnen Kübel". Wieso der Behälter, aus dem die Kuh trinkt, bei Großmann durch wiederholtes Waschen abgenutzt sein soll, erschließt sich nicht, auch im Katalanischen steht nur "esmolada pica", also ein Eimer - oder sonst irgendein Bottich -, der abgewetzt ist. Zwar erlaubt sich Sanjosé eine kleine Freiheit - im vorherigen Vers "Ve a abeurar-se com ans solia", den er mit "Zur Tränke kommt sie ebenso wie früher" übersetzt, ist von einer Tränke oder einem Eimer nicht die Rede, nur vom Trinken an irgendeiner wie auch immer gearteten Quelle -, aber seine Lösung ist insgesamt überzeugender, auch, weil er in den nächsten Versen einige lockere, dazu passende Assonanzen einbauen kann ("gekränkt", "gemächlich"). Nichts davon bei Großmann, der wieder nur allzu beflissen auf die Einhaltung des Blankverses achtet (Sanjosé hingegen verzichtet frech auf eine unbetonte Silbe: "kehrt jedoch wieder"). Das von Großmann nachgeschobene "Trinkt wenig, ohne Durst" hat etwas Lakonisches, das durchaus zu Maragalls Ton passt, aber gleich im übernächsten Vers hebt das Tier "[m]it furchtsam-schmerzlicher Gebärde" ihren Kopf in den Himmel (Maragall: "un gran gesto tràgic"). Das Adjektiv "furchtsam" ist vermutlich eine Anspielung auf die Tragödienkonzeption des Aristoteles, in der "eleos" (Jammern) und "phobos" eine Katharsis auslösen sollen: zweifelsohne eine Bedeutung, die der Übersetzer in den Text hineingelesen hat, denn bestimmt musste er sich überlegen, wie er Maragalls Ausdruck in den Blankvers pferchen konnte. Sanjosés "mit tragisch großer Geste" ist hingegen so nah am Text wie nur irgend möglich. Auch findet er einen Weg, das Verb "parpellejar" (zwinkern) so wiederzugeben, dass es nicht unfreiwillig komisch wirkt: Großmanns Kuh "zwinkert / Aus toten Augensternen", bei Sanjosé "regt" sie bloß "die Lider". Hier ist vermutlich eher ein Flattern als ein neckisches Zwinkern gemeint, auch wirken die "Augensterne" zu gestelzt für Maragalls "nines" ("Pupillen"). Die letzten drei Verse sind noch einmal schwierig, aber auch hier zeigt sich, dass Sanjosé präziser übersetzt als Großmann. Letzterer gibt Maragalls ungewöhnliche Formulierung "orfe de llum" als "Des Lichtes Stiefkind" wieder, was schlichtweg falsch ist, denn ein "orfe" ist ein Waisenkind. Sanjosés "an Licht verwaist" ist auch deshalb treffender, weil daraus nicht klar wird, von welchem Licht genau das Tier denn nun im Stich gelassen worden ist (von dem der Augen? der Sonne? des Verstandes?), wohingegen Großmanns Übersetzung nahelegt, die Kuh werde von einem ganz bestimmten Licht allenfalls stiefmütterlich oder väterlich behandelt. Und auch im folgenden Vers liegt Großmann leicht daneben: "Auf einprägsamen Pfaden hilflos irre" schreibt er da für Maragalls "vacil·lant pels camins inoblidables", und Sanjosé: "geht zögernd auf den unvergessnen Pfaden". Großmann unterstellt der Kuh, sie sei - vermutlich wegen ihrer Blindheit - vollkommen verloren, ja wahnsinnig geworden, während sie in Sanjosés Übersetzung noch ein wenig Kontrolle über sich selbst behält: Sie geht langsam, weil sie ihren Weg erst noch finden muss, aber auch sie kommt voran! Das ist ein weiteres Indiz dafür, weshalb Großmanns Übersetzung so sehr aus der Zeit gefallen ist: Eine Behinderung heißt nicht automatisch, dass man "hilflos irre" ist - weder als Mensch noch als Tier. Für den letzten Vers finden beide Übersetzer jedoch eine jeweils prägnante Lösung: "bewegt den Schwanz nur träge hin und her" (Sanjosé), "Den langen Schweif entkräftet um sich schlagend" (Großmann). Auch wenn Großmann bei genauerem Hinsehen mit seiner Übersetzung scheitert, so wird doch schon bei einer oberflächlichen Lektüre klar, dass er eine poetisch exakte Übertragung seiner Vorlage zumindest angestrebt haben muss. Der Text hat größtenteils einen feinen Rhythmus, ist daher gut lesbar. Sanjosé verfolgt ein ähnliches Ziel, erkennt jedoch an, dass das Ergebnis niemals perfekt sein wird, und nimmt dort, wo es nötig ist, Anpassungen vor, die oft formaler Natur sind. Warum also ist Großmanns Übersetzung nicht gelungen? Sie schlägt den falschen Ton an, ist zu elegisch geraten. Sanjosé dagegen bewahrt den zärtlichen, ja plauderhaften Ton der Vorlage. Neben Großmanns pedantischer Kopie der metrischen Vorgaben und Sanjosés Kompromissbereitschaft gibt es allerdings noch einen dritten Weg, nämlich die reine Prosaübersetzung, die auf das Versmaß und den Reim verzichtet und auf die reine Vermittlung des Inhalts abzielt. Ein Beispiel hierfür sind die Übersetzungen des Romanisten Johannes Hösle, die 1970 in einer Anthologie mit katalanischer Lyrik erschienen. Gemeinsam mit seinem Co-Herausgeber Antoni Pous entschied er sich für "größtmögliche Texttreue". "Bei unserer Auswahl ging es darum, die politische Entwicklung Kataloniens im Spiegel [von Maragalls] Dichtung zu zeigen", steht im Vorwort. Anders als bei Sanjosé ist die Nachformung des Textes und seiner Wirkung in einer anderen Sprache nicht der Hauptbeweggrund für diese Übersetzungen, sie sollen ihrem Publikum - den Studierenden der Katalanistik - eine Einführung in die Beschäftigung mit Katalonien geben. Hösle setzt also weniger auf die Ästhetik von Maragalls Gedichten als auf ihr politisches Potenzial. Beides muss sich jedoch nicht unbedingt automatisch ausschließen, wie ein Blick auf Oda a Espanya zeigt: Escolta, Espanya, - la veu d'un fill que et parla en llengua - no castellana; parlo en la llengua - que m'ha donat la terra aspra: en 'questa llengua - pocs t'han parlat; en l'altra, massa. T'han parlat massa - dels saguntins i dels qui per la pàtria moren; les teves glòries - i els teus records, records i glòries - només de morts: has viscut trista. Jo vull parlar-te - molt altrament. Per què vessar la sang inútil? Dins de les venes - vida és la sang, vida pels d'ara - i pels que vindran: vessada, és morta. Massa pensaves - en ton honor i massa poc en el teu viure: tràgica duies - a mort els fills, te satisfeies - d'honres mortals i eren tes festes - els funerals, oh trista Espanya! Jo he vist els barcos - marxar replens dels fills que duies - a que morissin: somrients marxaven - cap a l'atzar; i tu cantaves - vora del mar com una folla. On són els barcos? - On són els fills? Pregunta-ho al Ponent i a l'ona brava: tot ho perderes, - no tens ningú. Espanya, Espanya, - retorna en tu, arrenca el plor de mare! Hör, Spanien, die Stimme eines Sohnes, der mit dir eine Sprache redet, die nicht kastilisch ist; ich rede in der Sprache, die mir das rauhe Land gegeben hat; in dieser Sprache haben wenige mit dir geredet; in jener anderen allzuviele. Sie haben mit dir zuviel geredet über die Saguntiner und von jenen, die für das Vaterland sterben: dein Ruhm, deine Erinnerungen, sind nur Erinnerungen und Ruhm von Toten: traurig hast du gelebt. Ich will zu dir ganz anders reden. Wozu das Blut nutzlos vergießen? In seinen Adern ist das Blut Leben, Leben für die von heute, und für die, die kommen: Vergossenes Blut ist tot. Zuviel hast du gedacht an deine Ehre und viel zu wenig an dein Leben: in tragischer Verblendung gibst du dem Tod die Söhne, du läßt es dir genug sein an sterblichen Ehren, und deine Feste waren die Begräbnisse, trauriges Spanien! Ich sah die Schiffe bei der Ausfahrt voll mit deinen Söhnen die du hingibst - zum Sterben: sie fahren lächelnd in das Ungewisse; und du sangst am Rand des Meeres wie eine Irre. Wo sind die Schiffe? Wo sind die Söhne? Die wilde Welle und den Westen kannst du danach fragen: alles verlorst du, keiner blieb dir, Spanien, Spanien, geh in dich, beweine sie wie eine Mutter! Denk an dein Heil, rette dich vor soviel Übel, damit du durch die Tränen fruchtbar, lebendig und heiter wirst; denk an das Leben, das du um dich hast: erhebe deine Stirn, lächle den sieben Farben in den Wolken zu. Wo bist du Spanien? Ich sehe dich nirgends. Hörst du nicht meine Donnerstimme? Verstehst du diese Sprache nicht, die in Gefahren sich an dich wendet? Hast du verlernt, die eigenen Kinder zu verstehen? Spanien, leb wohl! (Hösle 1970) Hör, Spanien - die Stimme eines Sohnes, der mit dir spricht - in nicht-kastilischer Sprache; ich spreche in der Sprache - die mir die rauhe Erde gab: In dieser Sprache - redeten wenige mit dir, in der andren allzu viele. Zu viel haben sie geredet - von den Saguntern und von jenen, die fürs Vaterland sterben; dein Ruhm - und deine Erinnerungen, Erinnerungen und Ruhm - stammen von Toten: du lebtest traurig. Ich will mit dir reden - auf ganz andre Art. Warum nutzlos das Blut vergießen? In den Adern - Leben ist das Blut, Leben für die Heutigen - und für die Kommenden: Vergossen, ist es tot. Zu viel dachtest du - an deine Ehre und zu wenig an dein Leben: tragisch führtest du - zum Tod die Söhne, hattest Gefallen - an Totenehrungen, und deine Feste waren - Begräbnisse, trauriges Spanien! Ich sah die Schiffe - randvoll auslaufen mit deinen Kindern, die du - zum Sterben führtest: Sie gingen lächelnd - ins Ungewisse; und du, du sangst - am Meeresufer wie eine Irre. Wo sind die Schiffe? - Wo sind die Söhne? Frage den Westwind, die Sturmeswoge: alles verlorst du - niemanden hast du. Spanien, Spanien, kehr zurück zu dir, brich aus in Mutterweinen! (Sanjosé 2022) Dieses Gedicht, das vom Niedergang eines Imperiums erzählt - 1898 hatte Spanien seine letzten Kolonien an die USA verloren -, zeigt, wie Maragall zunächst eine Struktur einführt, um sie im weiteren Verlauf Stück für Stück aufzubrechen. Die Verse bestehen aus jeweils zwei aneinandergefügten Viersilbern, die durch einen Gedankenstrich - eine Zäsur - voneinander getrennt sind. Die letzte Silbe des ersten Halbverses ist meistens unbetont, die letzte Silbe des zweiten Halbverses meistens betont. Jede Strophe enthält einen Paarreim (die vorvorletzte und letzte Zeile), die übrigen Verse sind ungereimt. Im weiteren Verlauf erscheinen Verse ohne Zäsur, ebenso werden die Halbverse länger. Wie Sanjosé in seinem Nachwort schreibt, vollzieht das Gedicht die Auflösung des Imperiums auf der metrischen Ebene nach. Ging es bei Großmann noch um die möglichst genaue Wiedergabe der Versstruktur, interessiert das Gedicht als solches Hösle höchstens noch auf der inhaltlichen Ebene: Was bedeuten die Wörter in ihrem Kontext? Und: Was ist dafür die möglichst exakte deutsche Entsprechung? Zwar mag eine erste Lektüre zunächst den Eindruck erwecken, dass Hösle die philologische Übersetzung gelingt, aber es gibt bereits erste Irritationsmomente: Auf Maragalls charakteristische Gedankenstriche verzichtet er vollständig, vielleicht, weil sie in einer Prosaübertragung bloß stören würden, sie sind ja ein individuelles Kennzeichen von Maragalls Vers, oder schlichtweg aus typographischen Ursachen, weil die Zeilen sonst zu lang würden. Während Hösle die metrische Struktur der Vorlage ignoriert, übersetzt Sanjosé sie auf lockere Weise mit. Seine Verse haben mal vier/sieben, vier/acht, sieben/zwei, sechs, fünf/acht und acht Silben und demzufolge auch unterschiedlich viele Betonungen. Ein tetrasíl·lab ist nämlich noch schwieriger ins Deutsche zu bringen als ein decasíl·lab, weil katalanische Wörter oft schlichtweg kürzer sind als deutsche. Hinzukommen die Eigenheiten der Metrik: "Es col ta, Es pa nya, - la veu d'un fill, / que et par la en llen gua - no cas tel la na". Alleine in den ersten beiden Versen stehen drei Wörter nacheinander, die jeweils auf einen Vokal enden (a/E, e/e, a/e), daher werden ihre letzte und erste Silbe zu jeweils einer einzigen zusammengezogen. Die Übergänge von Silbe zu Silbe klingen im Katalanischen weich, im Deutschen prallen sie oft etwas härter aufeinander, da eine Synaloiphe nicht möglich ist: "Hör, Spa ni en, - die Stim me ei nes Sohnes, / der mit dir spricht - in nicht- kas ti li scher Sprache" (Sanjosé), und Hösle: "Hör, Spanien, die Stimme eines Sohnes, / der mit dir eine Sprache spricht, die nicht kastilisch ist". Zwar kann Sanjosé auch im ersten Halbvers noch vier Silben unterbringen (zwei davon betont), das ist im nächsten aber schon gar nicht mehr möglich. Auch lässt er im zweiten zitierten Vers zwei unbetonte Silben aufeinanderfolgen. Während Maragall eine Struktur etabliert, die er nach und nach wieder zerschlägt, liegt sie bei Sanjosé bereits zerschlagen vor. Hösle hingegen reiht ungeschickt zwei Relativsätze aneinander. Das bekommt Sanjosé besser hin. Der Sohn "spricht". Und worin? In "nicht-kastilischer Sprache". Aus der nächsten Strophe geht klar hervor, worüber geredet wurde: über Siege und Niederlagen. "T'han parlat massa", schreibt Maragall und spricht damit das Du (womit Spanien gemeint ist) explizit an, bei Sanjosé steht jedoch (weil der Vers sonst noch länger würde?): "Zu viel haben sie geredet", ohne zu erwähnen, an wen sich die Sprechinstanz denn genau gewendet hat. Hösle hat es da mit seiner Prosaübersetzung deutlich einfacher, denn durch: "Zu viel haben sie mit dir geredet" kann er den Text wörtlich wiedergeben. Beide jedoch glätten Maragalls Text: "les teves glòries - i els teus records / records i glòries - només de morts", heißt es an einer Stelle der zweiten Strophe. Zwar lässt sich der Chiasmus mühelos retten (nur ist bei Sanjosé nicht klar, wie er sich in den Satz einfügen soll, denn streng genommen käme seine Fassung auch ohne diese Stilfigur aus), aber auf wen sich Erinnerungen und Ruhm beziehen, machen sowohl Sanjosé als auch Hösle deutlich, indem sie ein Verb hinzufügen, wo es im katalanischen Text ausgelassen wird: "stammen von Toten" (Sanjosé), "sind ... von Toten" (Hösle). Auch in den folgenden fünf Versen halten sich beide Übersetzer eng an den Text, wobei allerdings individuelle Unterschiede bestehen. "Per què vessar la sang inútil?", steht bei Maragall. Hieraus macht Hösle: "Wozu das Blut nutzlos vergießen?", und Sanjosé: "Wozu nutzlos das Blut vergießen?" Die Stellung des Adverbs ist entscheidend: Hösles Übersetzung suggeriert, es gäbe eine nützliche Art des Blutvergießens. Das ist aber nicht der Punkt, denn Maragall klagt Spaniens gewalttätige Neigungen an. Aber Hösle hat nicht nur hier eine Nuance übersehen, er trifft auch in der vierten Strophe eine fragwürdige Wahl. Zwar übersetzt er Maragalls "Massa pensaves - en ton honor" noch korrekt mit "Zu viel gedacht hast du an deine Ehre" (auch wenn man hier streiten könnte, ob das Imperfekt für den getragen-pathetischen Tonfall nicht doch besser wäre), bringt im Folgenden jedoch Maragalls Vergangenheitsformen ("duies", "te satisfeies") - wie auch in der nächsten Strophe - ins Präsens ("gibst du", "läßt es dir genug sein") - um am Ende dann doch wieder ins Imperfekt umzuschwenken. Sanjosé hingegen behält die Vergangenheitsformen bei. Nutzt Hösle hier das historische Präsens, um möglichst plastisch zu verdeutlichen, wie gnadenlos und todesbesessen Spaniens Imperialismus ist? Das lässt sich kaum sagen. Tatsache ist, dass ein historisches Präsens in Maragalls Text nicht vorkommt, zumal die Anklagen gegen Spanien - auch wenn sie eher allgemeiner Natur sind - schon eindringlich genug wirken. Hösle, der in seiner Übersetzung "größtmögliche Worttreue" anstrebt, greift an diesen Stellen also in den Text ein, während Sanjosé, der ja keine philologische Übersetzung liefert, sondern "nur" eine Nachdichtung, möglichst nah dranbleibt. Nicht nur in der Wortstellung und den Tempora, auch in der Wortwahl muten Hösles Lösungen mitunter seltsam an. Maragalls "Salva't, oh!, salva't!" übersetzt er mit "Denk an dein Heil", eine viel zu schwülstige, sicher auch unangebrachte Formulierung, wo die Stelle doch besser - wie Sanjosé es vormacht - wörtlich mit "Rette, oh rette dich!" zu übersetzen wäre. Aber auch die Möglichkeitsform gibt Hösle nicht angemessen wieder. "... que el plor et faci fecunda, alegre i viva", fordert Maragall von Spanien, "damit du durch die Tränen fruchtbar, heiter und lebendig wirst", schreibt er. Zwar ist es durchaus möglich, den subjuntiu, der zumindest punktuell einige Gemeinsamkeiten mit dem deutschen Konjunktiv aufweist, im Präsens Indikativ wiederzugeben, da hier aber ein Wunsch geäußert wird, müsste es - wie Sanjosé korrekt übersetzt - folgendermaßen heißen: "möge das Weinen dich fruchtbar machen, froh und lebendig". Die Lektüre von La vaca cega und Oda a Espanya und den jeweiligen deutschen Fassungen hat gezeigt, dass Lyrik anders zu übersetzen ist als Prosa. Zwar muss sich Johannes Hösle in seiner Ode an Spanien keine Sorgen ums Metrum machen, aber der klangliche Aspekt geht vollkommen verloren. Das jedoch ist, wie Sanjosé in einem Interview mit Susanne Lange darlegt, eine der größten Herausforderungen beim Übersetzen von Lyrik. Er hat sich für Assonanzen und mit Bedacht eingesetzte Binnenreime entschieden und reizt das Spektrum der Vokale und Diphthonge großzügig aus ("mit schwanenschönem Niederbeugen" für "amb moviments de cígnia bellesa"). Oder aber er nutzt im Gedicht Romanze ohne Worte für die sprachliche Darstellung fließenden Wassers gezielt Worte mit verdoppeltem S ("Nässe"), auf L ("fließt") und auf Sch ("frisch"). Wiederholungen - z. B. "sempre, sempre mar endins" in Excelsior - vermitteln den oft volksliedhaften Ton der Vorlage: "immer, immer mehrwärts fahr". Ebenso baut er archaisch tönende Worte ein, etwa in Der schlimme Jäger: "gar fröhlich ist das Urteil" ("alegre és la sentència"). In seinem Artikel fragt sich Ramon Farrés, ob man die insgesamt 27 deutschen Texte nicht in einer Anthologie versammeln könnte. Zum Glück ist noch kein Verlag auf diese glorreiche Idee gekommen, denn es hat sich gezeigt, dass die Übersetzungen bislang zu schlecht waren. Àxel Sanjosé, der die schwierige Aufgabe auf sich genommen hat, die prägnantesten Texte aus Maragalls Werk auszusuchen und nachzudichten, bastelt das Vers- und Reimschema nicht allzu eifrig nach, produziert aber auch keine reine Interlinearübersetzung, sondern findet einen Mittelweg: Er akzeptiert die metrischen Herausforderungen des katalanischen Textes und weicht nötigenfalls von ihnen ab. Damit haben deutschsprachige Leser:innen, die bislang noch nichts von diesem Dichter gehört haben, endlich Gelegenheit, ihn in einer literarisch ansprechenden deutschen Fassung kennenzulernen. Und auch angehende Lyrikübersetzer:innen können viel aus Sanjosés Lösungen lernen.…mehr