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B Der Mensch im "Zeitalter der Extreme" S Das Leben des Menschen in der Moderne ist geprägt von Innovationen, Veränderungen und Brüchen. Nie zuvor sind Lebensläufe und Grunderfahrungen innerhalb kurzer Zeit so fundamental revolutioniert und umgekrempelt worden wie im 20. Jahrhundert. Neben der immer rasanter werdenden technologischen Entwicklung haben unter anderem zwei Weltkriege, Völkermord, Massenarbeitslosigkeit, Inflation und nukleare Bedrohung sowie die Veränderung von Familien- und Gesellschaftsstrukturen den modernen Menschen geprägt. Handlungsmuster und Wertmaßstäbe differenzieren…mehr

Produktbeschreibung
B Der Mensch im "Zeitalter der Extreme" S Das Leben des Menschen in der Moderne ist geprägt von Innovationen, Veränderungen und Brüchen. Nie zuvor sind Lebensläufe und Grunderfahrungen innerhalb kurzer Zeit so fundamental revolutioniert und umgekrempelt worden wie im 20. Jahrhundert. Neben der immer rasanter werdenden technologischen Entwicklung haben unter anderem zwei Weltkriege, Völkermord, Massenarbeitslosigkeit, Inflation und nukleare Bedrohung sowie die Veränderung von Familien- und Gesellschaftsstrukturen den modernen Menschen geprägt. Handlungsmuster und Wertmaßstäbe differenzieren sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehr und mehr aus - die Individualisierung von Lebensläufen nimmt fortschreitend zu. Aus der Beschreibung und Charakterisierung von verschiedenen Sozialtypen, die für dieses Jahrhundert kennzeichnend sind, entsteht ein Gesamtbild unserer Epoche mit all ihren Widersprüchen. Renommierte Historiker wie Richard Bessel, Christoph Conrad, Peter Gay u.v.a. portr ätieren in ihren Beiträgen Sozialtypen, deren Bedeutung, Rolle und gesellschaftliche Funktion sich im 20. Jahrhundert enorm verändert haben, oder die in dieser Zeit erst "erfunden" wurden. Die Herausgeber Ute Frevert und Heinz-Gerhard Haupt lehren Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld.
Autorenporträt
Ute Frevert und Heinz-Gerhard Haupt lehren Sozialgeschichte an der Universität Bielefeld. Ute Frevert schrieb u.a. Mann und Weib und Weib und Mann. Geschlechter-Differenzen in der Moderne (1995), Heinz-Gerhard Haupt Die Kleinbürger. Eine europäische Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts (1998, mit Geoffrey Crossick). Zusammen veröffentlichten sie bei Campus Der Mensch des 19. Jahrhunderts (1999).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.01.2000

Überall wird Sonne gebucht
Eine Handvoll Typen, die Geschichte gemacht haben – ein Sammelband zum „Menschen des 20.  Jahrhunderts”
Vor Verallgemeinerungen und ihren Nebenwirkungen wird gewarnt in diesem Band: „,Der Rentner‘ existiert genauso wenig wie ,der Mensch‘ des 20. Jahrhunderts.” Untersucht wird sowieso nur der Mensch des Abendlandes, deutscher oder angloamerikanischer Provenienz – anderen wie beispielsweise dem Japaner, obwohl ebenfalls hochzivilisiert, wird allenfalls ein Vignettendasein eingeräumt. Südamerikaner, Afrikaner oder Südasiaten kommen ebenso wenig vor wie die Angehörigen Resteuropas.
Der Mensch des 20.  Jahrhunderts, damit sind jene Figuren und Rollen gemeint, die typisch sind – die es nur in diesem Jahrhundert so und nicht anders gegeben hat. Folgerichtig fehlen Bauern, Handwerker, Musiker und andere berufliche oder soziologische Gruppierungen, die eine längere Geschichtlichkeit aufweisen. Arbeiter, Hausfrau, Star, Sportler, Tourist, Journalist, Wissenschaftler, Intellektueller, Jugendlicher, Rentner, Funktionär, Konsument und Soldat – das ist dagegen die Palette derer, die erst im 20.  Jahrhundert die (europäische) Bühne betreten, gewissermaßen auf der Aktiv-Seite. Ihnen gegenüber steht, auf der Passiv-Seite, der Mensch im „therapeutischen Netz”, dem ebenfalls ein Beitrag gewidmet ist. Jugendliche oder Soldaten hat es zweifellos auch in früheren Jahrhunderten gegeben – Aufmerksamkeit als gesellschaftliche Gruppe haben die Jugendlichen jedoch erst mit dem ausgehenden 19. Jahrhundert erlangt, und auch der Soldat als eine zum Wehr- oder Kriegsdienst verpflichtete Person ist spezifisch für dieses Jahrhundert.
Einige der hier behandelten Gruppen, so scheint es, werden wohl ihr Dasein kaum über das 20.  Jahrhundert hinaus verlängern können. Der Arbeiter zum Beispiel, der in seiner „klassischen” Gestalt bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts zu existieren aufgehört hat. „Das 20. Jahrhundert”, resümiert Richard Bessel, „mag das Jahrhundert der Angestellten, der Erwerbstätigen im tertiären Sektor oder der Arbeiterinnen sein, aber es ist nicht das des männlichen Industriearbeiters. ” Zumindest nicht des europäischen: „Viele Arbeiter, die heute Reisepässe der Europäischen Union besitzen, sind afrikanischer oder asiatischer Herkunft, wodurch die einstigen europäischen Kolonialmächte nun durch ihre ehemaligen Kolonien kolonialisiert werden . . . Wenn man auf der Suche nach dem alten, klassischen Arbeiterbild in Europa ist, findet man es eher unter den ,Ausländern‘ . . . als unter den ,Einheimischen‘”.
Noch nicht entscheiden ist das Schicksal des Intellektuellen – „gegen das ominöse Jahr 2000 hin erklärte man ihn für verschwunden”, was Dietz Bering nicht daran hindert, an seine Weiterexistenz zu glauben: Die Intellektuellen sind „am Ende des 20. Jahrhunderts mindestens ebenso wichtig wie an seinem Anfang. Und Zukunft haben sie auch. ”
Der Funktionär, den Thomas Mergel beinahe ausschließlich in Deutschland ausmachen will (ohne einen Blick auf seine Präsenz etwa in Osteuropa) ist wohl ebenfalls ein Auslaufmodell, er „ist nicht tot, aber er weckt keine kulturkritischen Assoziationen mehr. ” Was den Rentner angeht: „Es ist nicht ohne Reiz, die Entstehung, Verbreitung und Normalisierung des Ruhenstandes für alle Arbeitnehmer als eine Episode des zurückliegenden Jahrhunderts zu begreifen . . . ” (Christoph Conrad).
Die Hausfrau hingegen wird nolens volens nach der Jahrtausendschwelle weitermachen (müssen), und ihre Rolle wird, so Merith Niehuss, staatlicherseits (also: mehrheitlich männlicherseits) festgeschrieben. Staatliche Unterstützungen haben „den Nebeneffekt, sie in ihrer Hausfrauenrolle gleichsam einzuzementieren. Das Pflegegeld, das die teure institutionelle Pflege entlasten soll und für heimische Pflege bezahlt, gehört dazu: Auf wen kommt denn die häusliche Pflege zu? . . . Auch der Erziehungsurlaub hat den Nebeneffekt, nicht nur den Arbeitsmarkt zu entlasten, sondern auch die Frauen in ihrer Hausfrauenrolle zu bestätigen. ” Auch der Konsument dürfte eine Figur von zunehmender Vitalität sein. Wegen seiner vielen Gesichter hat er das schwächste Profil der hier präsentierten Idealtypen, weshalb Heinz-Gerhard Haupt auch mehr den Konsum und die mit ihm verbundenen Zeiterscheinungen (Werbung usw. ) thematisiert.
Munter und hektisch wird es auch weitergehen mit den Stars (Film, Rock und Fernsehen), Sportlern, Journalisten oder Wissenschaftlern, wenn auch ihr Habitus manch radikaler Veränderung unterworfen sein wird. Vom rasenden Journalisten mit Schirmmütze, wie ihn noch Jules Verne zeichnete, ist einhundertfünfzig Jahre später nur der „Schirm” des PC oder Laptop geblieben. Schließlich hat auch der Tourist gute Aussichten, weit ins dritte Jahrtausend hinein seine Haut dem Krebsrisiko auszusetzen: „Die ,Vergleichgültigung des Reiseziels‘ ist dabei vorangeschritten: Es wird lediglich ,Sonne‘ gebucht. ” (Hasso Spode)
Etwas aus der Reihe fällt, wie angedeutet, das Kapitel über die „Menschen im therapeutischen Netz” (Peter Gay), insofern es Behandelnde und Behandelte zum Gegenstand macht. Charakteristisch für den „therapeutischen Menschen” ist der Grundgedanke: „Das Individuum trägt keine Verantwortung für sein Handeln. ” Eine Philosophie mit forensischen Konsequenzen: In der Kriminalistik wurden so „moralische Fragen allmählich in medizinische Fragen umgewandelt. ”
Auch in der Zeiterscheinung lustvoller öffentlicher Schmutzwäsche oder des Sich-outens im Fernsehen (mutatis mutandis auch in der Autobiografie) sieht der Autor eine Facette dieses Typus: „Durch die Beteiligung des Publikums, dem es freisteht, Ratschläge zu geben, wird die ganze Sendung zu einer kollektiven therapeutischen Sitzung. ” Hier findet sich auf den Kopf gestellt eine Erkenntnis, die bei Sigmund Freud entwickelt wurde: „Freud, der weder Revolutionär noch gläubig war, distanzierte sich vom therapeutischen Menschen, noch ehe dieser Mensch die breite Popularität erreicht hatte, die er heute genießt. Seltsamerweise stammt also der stärkste Widerstand gegenüber jenem oberflächlichen Alibi ,Es ist nicht meine Schuld‘ aus einer Therapie, die die Flucht aus der Verantwortung nicht anerkennt. ”
Der Band versucht, durch die Darstellung verschiedener (aber miteinander verknüpfter) Sozialtypen „ein Gesamtbild unserer Epoche mit all ihren Widersprüchen und Facetten” zu entwerfen – ein Vorhaben, das am Ende durchaus gelungen scheint.
FRIEDEMANN KLUGE
UTE FREVERT, HEINZ–GERHARD HAUPT (Hg. ): Der Mensch des 20. Jahrhunderts. Campus Verlag, Frankfurt, New York 1999. 386 S. , 58 Mark.
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