Marktplatzangebote
2 Angebote ab € 24,88 €
Produktdetails
  • Verlag: Bertelsmann
  • ISBN-13: 9783763244195
  • Artikelnr.: 25018346
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 08.09.2012

Auf dem brüchigen Eis des endlichen Lebens
Mit dem Teufel durch Moskau und dann ins himmlische Jerusalem: Alle lieben Michail Bulgakows großen Roman
„Meister und Margarita“, aber dieses Buch kennen sie noch nicht - zur Neuübersetzung von Alexander Nitzberg
VON FRIEDRICH WILHELM GRAF
Im Jahr 1909 veröffentlichte der Philosoph Arthur Drews, ein begeisterter Leser von Eduard von Hartmanns „Philosophie des Unbewussten“, den ersten Band seines christentumskritischen Hauptwerks „Die Christusmythe“. In Fortschreibung jener radikalen historischen Kritik der neutestamentlichen Texte, die protestantische Theologen seit dem späten 18. Jahrhunderts vorangetrieben hatten, wollte Drews das Christentum als eine Religion der Lüge entlarven. Jesus von Nazareth habe niemals gelebt, und die Vorstellung, er sei der Stifter einer neuen Religion gewesen, sei schon deshalb blanker Unsinn. Die Erzählungen von seinen Wundertaten, der Bildung eines Jüngerkreises und schließlich dem Kreuzestod auf Golgatha seien nur schöne Geschichten, von geschäftstüchtigen Glaubenskündern erfunden, um die Leute durch religiöse Sozialdisziplinierung unter Kontrolle zu halten.
  Hatten kritische protestantische Theologen wie David Friedrich Strauß einst zwischen dem historischen Jesus, also dem Juden Jesus, und dem mythischen Christus, dem posthum von versprengten Anhängern zum auferstandenen Heilsbringer verklärten Retter der sündigen Menschheit, unterschieden, so ging Drews in kirchenkritischer Absicht noch einen Schritt weiter, indem er nicht nur den bloß mythischen Charakter aller Christus-Überlieferungen betonte, sondern zugleich die Geschichtlichkeit des vermeintlich historischen Jesus bestritt. Hat Jesus niemals gelebt, gibt es auch keinen gnädigen Gott, der in ihm Menschengestalt angenommen hat, und keinerlei Versöhnung, Erlösung oder sonstige heilsame Rettung.
  Wer an Jesus Christus glaube, betrüge nur sich selbst, und wer auf Auferstehung in einem Gottesreich allumfassender Versöhnung hoffe, sei bestenfalls ein Idiot. Mit dieser Glaubenskritik machte Drews „Christusmythe“ weit über die Grenzen der akademischen Theologie hinaus Sensation. Berufsatheisten aller Couleur, Propagandisten der marxistischen Gottlosenbewegung ebenso wie radikalnationalistische Nietzsche-Jünger, griffen seine Thesen begeistert auf. Auch in der UdSSR stützten sich kommunistische Agitatoren in ihrem Kampf gegen die als korrupt erlittene orthodoxe Staatsreligion gern auf zentrale Narrative aus Drews „Christusmythe“.
  Im wohl wichtigsten, jedenfalls meistgelesenen russischen Roman des letzten Jahrhunderts, Michail Bulgakows „Meister und Margarita“, tritt gleich zu Beginn der Redakteur einer Kulturzeitschrift auf, der dem Dichter Iwan Nikolajewitsch den Auftrag gegeben hatte, „ein großes antireligiöses Poem“ zu schreiben. Der Dichter schreibt sehr schnell und malt seinen Jesus in ganz dunklen Farben. Dennoch lehnt der Redakteur Michail Alexandrowitsch Berlioz, der Vorsitzende einer bedeutenden Vereinigung von Literaten, den Text ab. Denn des Dichters Jesus „wirkte quicklebendig, ganz und gar existent, wenn auch versehen mit allen möglichen schlechten Charakterzügen“.
  Der „überaus belesene“ Berlioz aber machte „dem Dichter“ klar: „Es kommt nicht darauf an, wie Jesus als Mensch ist, böse oder gut, sondern einzig darauf, dass es ihn als Person überhaupt nicht gibt. Alle Erzählungen über ihn sind Hirngespinste, Mythen eben“. Weil er so viel liest, kennt Berlioz nicht nur das 1835/36 publizierte „Leben Jesu, kritisch bearbeitet“ des jungen Tübinger Stiftsrepetenten David Friedrich Strauß, sondern auch die neuesten Forschungsergebnisse der radikal historistischen Theologen der „Religionsgeschichtlichen Schule“, die in ihren Arbeiten zur „Umwelt“ des Alten wie Neuen Testaments seit 1890 gezeigt hatten, dass in der „Heiligen Schrift“ der Christen keine einzige relevante religiöse Vorstellung verkündet wird, die sich nicht auch in anderen antiken Religionen finden lässt. „So haben die Christen nichts Neues erfunden und ihren Jesus, den es in Wirklichkeit gar nicht gab, auf gleiche Weise erschaffen. Und genau darauf sollte der Hauptakzent gesetzt werden.“ Nur wenig später ist Berlioz tot, und sein Kopf rollt, durch eine Straßenbahn vom restlichen Körper getrennt, über die Straße – nachdem ein gut gekleideter ausländischer Professor ihm diesen Tod kurz zuvor prophezeit und obendrein von seinen beim Frühstück mit Immanuel Kant geführten Gesprächen über die Beweisbarkeit Gottes berichtet hat. Kann ein fremder Gelehrter im Moskau der 1930er Jahre selbst noch dem Königsberger Großkritiker begegnet sein? Wie vermag er die Todesstunde des so wissensstolzen Redakteurs vorauszusagen?
  In wenigen Sätzen führt Bulgakow in eine Erzählwelt, die üblicher Gewissheiten und Ordnungsstrukturen entbehrt. Hier ist alles elementar anders als sonst. Nichts ist verlässlich, und zwischen Wahn und Wirklichkeit, harten Fakten und schlechten Einbildungen lässt sich nicht unterscheiden. Die überkommenen Distinktionen von Gut und Böse, Innenwelt und Außenwelt, Diesseits und Jenseits entfalten keinerlei kognitive Kraft mehr. Das dünne, brüchige Eis endlichen Lebens trägt nur noch momentan. Bulgakows Menschen sind haltlos und ohne jede Orientierung. Sie stehen stundenlang in allgegenwärtigen Warteschlangen, leben in verdreckten Gemeinschaftswohnungen und sprechen ein Propagandaidiom, das nur allgemeine Angst, immer neues Misstrauen und bleierne Müdigkeit verstärkt. Sie verlieren Körperteile, verbrennen, lösen sich auf, verschwinden, fallen ins Bodenlose, werden annihiliert. Dabei sehen sie sich einer anonymen, diffusen Macht konfrontiert, für die Bulgakow ein geniales Bild erfindet: Ein Beamter telefoniert, kopf- und körperlos, nur im leeren Anzug, mit einer Macht, die niemand kennt. Das mag für stalinistischen Terror stehen, aber auch die Eigengesetzlichkeit moderner bürokratischer Herrschaft überhaupt symbolisieren.
  Michail Afanassjewitsch Bulgakow, geboren im Mai 1891 in Kiew, stammte aus einer Familie russisch-orthodoxer Theologen und Mediziner. Sein Vater, religiös liberal und bildungsbesessen, lehrte an der Geistlichen Akademie zu Kiew vergleichende Religionswissenschaft und veröffentlichte Bücher über die Freimaurer. Biblische Geschichten, heilige Riten, die Welt der Opern und Konzertsäle, das Interesse an Bildung und Aufklärung waren Bulgakow von Kindheit an vertraut, auch dank der Mutter, einer Lehrerin. Zudem scheint der junge Bulgakow, der in seiner Heimatstadt Medizin studierte und mit Drogen experimentierte, die Arbeiten seines Vaters zur Freimaurerei gelesen zu haben. In „Meister und Margarita“ spielen maurerische Initiationsriten und Konzepte der Selbstbildung des Menschen zu einer vollkommeneren Persönlichkeit jedenfalls eine zentrale Rolle. An seinem großen Roman arbeitete der oft depressive, mit dem Alkohol kämpfende Bulgakow seit 1927/28. Überliefert sind, auch aus den Geheimarchiven der GPU, acht sehr unterschiedliche Vorfassungen. Zunächst von Maxim Gorki gefördert und auch von Stalin bewundert, geriet der Sekretär der Literaturabteilung im Volkskommissariat für Bildungswesen, Journalist und Regieassistent bald in Konflikte mit den Zensurbehörden, die ihn als Konterrevolutionär verdächtigten; den Wunsch, nach Paris zu emigrieren, redete ihm Stalin bei einem überraschenden Telefongespräch wieder aus. Doch wurden seine Stücke seit 1930 nicht mehr aufgeführt und in der Presse Hetzkampagnen gegen das „Bulgakowtum“ inszeniert. Viele Freunde aus der Kunst- und Intellektuellenszene wurden bei den Terroraktionen 1937 verschleppt und hingerichtet.
  Der unter Nierensklerose und Schwund des Augenlichts leidende Autor zog sich in Sanatorien und die Moskauer Wohnung zurück. Bis drei Wochen vor seinem Tod im März 1940 diktierte er seiner dritten Frau erste umfangreiche Korrekturen des letzten Entwurfs. Zur erhofften weiteren Überarbeitung hatte er keine Kraft mehr. So enthält der Text zahlreiche Brüche und Widersprüche, ohne dass klar wäre, wo Bulgakow nach zwölf Jahren Arbeit noch hätte ändern und disparate Erzählstränge zusammenführen wollen. Erst 25 Jahre nach dem Tod des Autors, im politischen Tauwetter seit 1965 konnte der Roman veröffentlicht werden. Ab November 1966 erschien ein von der Zensur erheblich gekürzter Text im Literaturalmanach Moskwa. Die von den Zensurbehörden unterdrückten Passagen verbreiteten Oppositionelle aus den Alternativszenen in zahlreichen Abschriften im Untergrund. Der frühe Tod des Autors, das späte Erscheinen seines Hauptwerks, die Eingriffe der Zensur, die heimliche Zirkulation als Samisdat-Literatur trugen erheblich dazu bei, dass „Meister und Margarita“ schnell zum Kultbuch einer von den tristen Verhältnissen frustrierten russischen Jugend wurde. Diffuse Sehnsucht nach Glaube und Lebenssinn spielte dabei ebenso eine Rolle wie Hoffnung auf bessere Zeiten durch politischen Wandel. Bulgakows zeitweilige Wohnung Nr. 50 in der Moskauer Sadojawa 302b, die im Roman eine wichtige Rolle spielt, wurde trotz polizeilicher Gegenmaßnahmen zur Pilgerstätte vieler Unzufriedener. Tausende junger Russen lernten den Roman auswendig. Eine erste ungekürzte Fassung erschien 1967 im YMCA-Verlag in Paris und dann in Moskau 1973. Die erste deutsche Übersetzung von Thomas Reschke, 1968 im „Verlag Kultur und Fortschritt“ in der „Hauptstadt der DDR“ erschienen, bietet nur den von der Zensur gekürzten Text. Er wird bei Luchterhand noch im selben Jahr nachgedruckt. Erweitert um die von Gisela Drohla übersetzten fehlenden Passagen legt dtv die Reschke-Ausgabe 1978 neu auf. Nun legt der 1969 in Moskau geborene und derzeit in Wien lebende Lyriker Alexander Nitzberg eine grundlegend neue Übersetzung des vollständigen Textes vor. Zu bewundern ist eine faszinierende sprachschöpferische Leistung, die die außerordentlich komplexe, nicht selten verwirrende Vielschichtigkeit von Bulgakows Erzählweisen sichtbar werden lässt.
  Kants gut gekleideter Gesprächspartner, der „Professor für Schwarze Magie“, Woland erscheint mitten in der Karwoche in Moskau, begleitet von verschiedenen Assistenten, unter denen vor allem Behemoth, ein ungestiefelter riesiger Kater auf zwei Beinen, Aufsehen erregt. Durch seine Auftritte als Zauberkünstler erzeugt der diabolische Woland viel Verwirrung. Menschen verschwinden, finden sich an anderen Orten wieder, landen in der Psychiatrie und sterben plötzlich, ohne zuvor krank gewesen zu sein. Inspiriert vom „wissenschaftlichen Materialismus“ wollen die Behörden das große Durcheinander „rein naturwissenschaftlich“ deuten und führen alle Irritationen auf Hypnose zurück.
  Diese Moskauer Teufeleien werden dreimal durch einen zweiten Handlungsstrang unterbrochen, in dem es in dumpfem, düsterem Ton um die Verurteilung eines Jeschua han-Nasri durch den römischen Prokurator Pontius Pilatus geht. Dieser Jeschua ist, anders als in den neutestamentlichen Überlieferungen, ein gutherziger Narr und naiver Pazifist, der Tolstoi gelesen haben mag. Pilatus leidet unter Migräne, misstraut den Menschen, liebt nur seinen Hund, hasst das schwül-heiße Jerschalajim und denkt in seiner Dauerdepression an Suizid. Seine Gespräche mit Jeschua entfalten immerhin die therapeutische Wirkung gesteigerter Nachdenklichkeit. Dass er diesen grenzenlos gutmütigen, aber auch unterhaltsamen jungen Mann zum Kreuzestod verurteilen soll, widert ihn an. Doch muss er es tun, weil das Recht es gebietet. Jeschua kann noch sein bald kommendes „Reich der Gerechtigkeit und der Wahrheit“ verkünden, „das aller Gewalt entbehrt“, wird dann aber auf den „Kahlen Berg“ gebracht – in der russischen Literatur der klassische Ort für Hexensabbat und Teufelstanz. Zum Personal dieses antiken Handlungsstrangs zählen noch Judas aus Kirjath, ein eitler Schönling, den der römische Geheimdienst wegen seiner dubiosen Rolle und Mitwisserschaft beim Justizmord an Jeschua später umbringt, und Jeschuas Schüler Levi Matthäus, der die Worte seines Herrn aufschreibt – oft aber falsch. Wie wenig Verlass auf seine Niederschrift ist, belegt die Geschichte von der behaupteten Auferstehung Jeschuas. Levi Matthäus hat diese Geschichte einfach frei erfunden. In beiden Handlungssträngen sprechen alle Akteure jeweils ihre höchst individuelle, nur ihnen eigene Sprache. Diese Fülle der vielen Sprechweisen steigert Bulgakow noch dadurch, dass er intensiv mit gegenläufigen Rhythmen, Refrains und eigenwilligen Metaphern arbeitet. Auch legt er einzelnen Figuren Formulierungen in den Mund, die gezielt die sprachlichen Konventionen verletzen.
  Erst nach gut zweihundert Seiten tritt der „Meister“ des Titels auf, ein ehemaliger Schriftsteller, nun Ende dreißig, der einst als hochgebildeter Historiker in einem Moskauer Museum gearbeitet hatte, jetzt aber in der Psychiatrie sitzt. Er gibt sich als Autor eines großen Romans über die Leiden des Pontius Pilatus zu erkennen. Die Veröffentlichung einiger Kapitel seines Meisterwerks erregte jedoch so viel öffentliches Ärgernis, dass er in Wahnsinn verfiel. Seine Geliebte, die mit einem anderen Mann verheiratete wohlhabende Margarita, hat er seitdem nicht wiedergesehen. Sie fehlen einander, und so lässt sich Margarita, verwöhnt, gelangweilt und an Abenteuern interessiert, auf einen faustischen Pakt mit einem Assistenten Wolands ein. Der feine Professorenteufel will in der Sadojawa 302b, Wohnung 50, einen Ball geben und lässt dafür Margarita als „Ballkönigin“ anwerben. Verjüngungscremes und eine Flugsalbe verwandeln Margarita in eine fliegende Hexe, die ihre heikle Aufgabe beim Ball so souverän meistert, dass ihr professoraler Dämon das Wiedersehen mit ihrem geliebten Meister ermöglicht. Auf Anweisung Jeschuas lassen Woland und seine Assistenten den „Meister und Margarita“ dann sterben; denn sie haben „Ruhe verdient“. Auf ihrem postmortalen Weg ins „ewige Haus“ führen Woland und die Assistenten die nun im Tode Vereinten noch durch die Wüste und an Jerusalem vorbei, wo sie dem depressiven Pilatus begegnen. Der Meister schickt Pilatus mit der ihm von Woland übermittelten Frohbotschaft, dass Jeschua auf ihn warte, nun in den Himmel, wo offensichtlich Allversöhnung inszeniert wird.
  Nicht nur sind die diversen Handlungsstränge im himmlischen Jerusalem zusammengeführt. Auch hat Jeschua nun den Roman des Meisters gelesen und ist sich so selbst transparent geworden – wahrlich ein Meisterstück der kerygmatischen Verwandlung des historischen Jesus in den mythischen Christus. Bulgakow hat eine einst als häretisch verurteilte, seit Schleiermacher aber zum Gemeingut liberaler Theologie gewordene Lehre grandios verdichtet: die Lehre von der apokatastasis ton panton, der Wiederbringung aller Menschen und Geschichten am Ende der Zeiten, bewirkt von einem Gnadengott, der auch die ganz Bösen, selbst elegante Professorenteufel, nur dazu nutzt, kontrafaktisch die humane Hoffnung auf den Sieg des Guten zu erfüllen. Spätestens seit Kant weiß man, dass es denen, die das Gute tun, in dieser Welt nur selten gut und den Bösen jedenfalls oft besser geht. Auch darüber mag der Teufelsprofessor mit dem Meisterdenker beim Königsberger Frühstück gesprochen haben. Bulgakow setzt alle Kraft des Fabulierens darauf, dass es zu guter Letzt auch den Guten gut ergeht – gemeinsam mit den konventionell als böse Geltenden.
  Seit dem Massenerfolg von „Meister und Margarita“ ist eine eigene hochspezialisierte Deutungsindustrie entstanden, die Faust-Motive studiert, Goethe-Bezüge freilegt, nach Zitaten aus sowjetischen Propagandatexten fahndet und mögliche autobiografische Anspielungen finden will. Gern streiten die gelehrten Philologen über konkurrierende Lesarten. Muss man „Meister und Margarita“ primär politisch lesen, als große Satire auf den stalinistischen Wahnstaat, in dem eine allwissende, omnipräsente Geheimpolizei den Genossen von heute als Verräter von morgen verfolgt und jeder immer schon unter dem Generalverdacht steht, insgeheim ein Konterrevolutionär zu sein? Oder sind religiöse Lektüren der vielen Bilder entfesselter Destruktivität und brutaler Gewalt plausibler, etwa als trotziges Gegenzeugnis von Existenz und Nachleben des einzig wahren Herrn und Meisters? Karl Schlögel hat in „Terror und Traum“ „Margaritas Flug“ über Moskau als ein „Itinerar für eine Zeitreise zurück ins Moskau der 30er Jahre“ gelesen, die in einen „Raum des Realphantastischen“ führt: „Niemand kann mehr genau sagen, wo die Wirklichkeit anfängt und das Phantastische beginnt“. Dieser Flug, der zu zentralen Orten im Moskau von 1937 führt, bedeutet zugleich Entgrenzung und erinnert an die Levitation der Mystiker im Akt der visio beatifica, der selig machenden Gottesschau. So deutet Schlögel den Flug als ein Entschwinden in die Freiheit. Alexander Nitzberg folgt dem insoweit, als er ein „Großstadtpoem“ im Geist der russischen Moderne souverän übersetzt, das in rein politischen oder nur religiösen Lesarten nicht aufgeht. In einem ausführlichen Kommentar erläutert er auch den des Russischen unkundigen Lesern seine Strategien, dem Reichtum von Bulgakows Sprachen und der Präzision seiner dichten Beschreibungen von Angst, Gewalt, Vernichtung im Deutschen zu entsprechen. So hält er das Spiel der vielen Deutungen offen. Für einen Roman, dessen Helden schließlich in himmlische Freiheit entschwinden, ist das die richtige Entscheidung. Ob Erlösung nur bloße Einbildung ist, lässt sich im Streit der Philologen gar nicht entscheiden. Mythen, gerade auch Christusmythen beweisen darin ihre Kraft, dass sie in keiner ihrer rationalen Deutungen aufgehen.
1966 erschien eine stark zensierte
Fassung des Romans
Pontius Pilatus leidet unter der
Hitze und Depressionen
Worüber nur sprach der
Professorenteufel mit Kant?
Moskau in den dreißiger Jahren: Keiner vermochte mehr zu sagen, wo die Wirklichkeit anfängt und wo das Phantastische beginnt: Juri Iwanowitsch Pimenows (1903-1977) Gemälde „Das neue Moskau“ aus dem Jahr hängt heute in der Tretjakow-Galerie.
FOTO: AKG
  
    
Michail Bulgakow: Meister und Margarita. Roman. Aus dem Russischen übersetzt und kommentiert von Alexander Nitzberg. Mit einem Nachwort von Felicitas Hoppe. Galiani Berlin, 2012. 604 Seiten, 29,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2012

Am Karfreitag lädt Satan sich gern Gäste ein

Ein teuflisch gutes Stück russischer Weltliteratur: Michail Bulgakows "Meister und Margarita" über die Stalin-Zeit ist von Alexander Nitzberg auf hochpoetische Weise neu übersetzt worden.

Von Kerstin Holm

Michail Bulgakows Jahrhundertroman "Der Meister und Margarita", an dem der Autor seine letzten zwölf Lebensjahre unter Stalin schrieb, der dann aber erst während Chruschtschows "Tauwetter" veröffentlicht wurde, kann einem auch heute noch das Moskauer Lebensgefühl nahebringen. Wie in Bulgakows dämonischer Chronik kommt es in der jetzigen Wirklichkeit wieder manchmal vor, dass jemand, der dem freundlichen Milizmann für eine Minute aufs Revier folgt, auf längere Zeit verschwindet. In ungeöffneten Geschäftsakten können, wie in dem Kultklassiker beschrieben, plötzlich nie gesehene Dokumente auftauchen. Und da Russlands Hauptstadt sich, wie damals schon, gewaltsam neu definiert hat, fliegt ihren Bewohnern, wie den Helden Bulgakows, auch schon mal die Geschichte in bunten Fetzen um die Ohren.

Das Buch, das den Satan im Moskau der stalinschen Terrorjahre einen Ball feiern, historische Meuchelmörder auferstehen, aber auch den Autor einer gottlosen Passionserzählung aus dem Irrenhaus herausholen lässt, wurde vielfach verfilmt und auf der Bühne inszeniert. Auf Deutsch aber gab es bisher nur Thomas Reschkes korrekte Linearübersetzung, die, vielleicht weil die deutsche Sprache weniger Schönrednerei-Erfahrungen in sich aufgenommen hat als die russische, das tückisch Quecksilbrige des Originaltexts nur in abgeschwächter Form reproduzierte.

Der in Moskau geborene deutsch-russische Dichter Alexander Nitzberg, der sich insbesondere durch seine Lyrikübertragungen aus dem Russischen verdient machte, hat nun das Sprachfenster in seine Urheimat ein tüchtiges Stück weiter aufgestoßen. Nitzbergs Neuübersetzung, an der er fünf Jahre gearbeitet hat, liest den sechshundert Seiten langen Roman wie ein Prosagedicht. Indem er lange Sätze teilt und für Sprachbilder idiomatische, aber um eine Spur exzentrischere Äquivalente findet, bringt er den deutschen Text zum Funkeln. Er setzt die indirekte Rede in den Indikativ, wie es das Russische tut, wodurch die Figuren unmittelbarer zu Wort kommen. Vor allem aber schuf der studierte Komponist für jede Person eine stilistisch ganz eigene Sprechpartie. Dafür löste er die Dialoge zunächst aus dem Lauftext, um sie schließlich wieder einzusetzen - wie fertig geschliffene Steine in die Fassung.

Bulgakow kannte den Herrn der Finsternis, der in "Meister und Margarita" das nicht mehr heilige Russland heimsucht, seit seiner Kindheit. Der Vater des Schriftstellers war Theologieprofessor, und beide Großväter waren Priester. Anhand des Hexenflugs der Heldin in einer Vollmondnacht im Mai lässt sich ausrechnen, dass der elegante Weltmann Woland, in dessen Haut der Böse geschlüpft ist, Moskau in der orthodoxen Karwoche besucht, am "krummen" Mittwoch vor Ostern. Mit wahrhaft diabolischem Vergnügen heizt der Leibhaftige durch rabiate Wunder der ohnehin paranoid sich selbst zerfleischenden russischen Gesellschaft ein und bringt das atheistische Establishment in akuten Erklärungsnotstand. Eingangs kündigt er in einem kleinen Erholungspark im Stadtzentrum einem hohen Literaturfunktionär einen grotesken Tod an, der den Mann auch unverzüglich ereilt. Dabei ist die Straßenbahn, die ihm den Kopf abschneidet, im realen Moskau hier nie gefahren.

Am abgeschafften Gründonnerstagabend lädt der durch alle Geheimdienstnetze schlüpfende "Ausländer" zur Magie-Séance im Varieté-Theater. Dessen Ansager wird der Kopf abgerissen und fein säuberlich wieder aufgesetzt. Das Nomenklaturapublikum greift begeistert nach den Geldscheinen und Nobelroben, die Wolands missgestaltete Assistenten, gleichsam als zeitgemäße Alternative zum Letzten Abendmahl, verteilen, und die sich nur - ein toller Spezialeffekt! - im Morgengrauen in Luft auflösen und so die bourgeoise Gier der bolschewistischen Elite hochnotpeinlich bloßlegen.

Der Termitenbau des NKWD-Hauptquartiers, das kafkaesk nur "die Behörde" genannt wird, rotiert und beliefert die Zwangspsychiatrie mit immer neuen Verrücktgewordenen. Dort wurde zuvor schon Bulgakows Hauptheld eingesperrt, ein gelehrter Meister ohne Namen, der nach einem Lottogewinn Literat geworden war und versucht hatte, dem historischen Tohuwabohu Sinn abzugewinnen. Sein unpublizierbarer Embryo der Passionsgeschichte Jesu ist in den Roman eingeschlossen wie die Fliege im Bernstein. Schon dessen episch ironiefreier Duktus, den Nitzberg manchmal hexametrisch auffasst, verrät die archäologische Tiefenschicht.

Geschildert wird die Aburteilung des guten Menschen von Nazareth, der hier nur ein naiver Freund aller ist und an eine bessere Welt glaubt, durch Pontius Pilatus - ohne christliche Deutung und Überhöhung. Die Namen klingen aramäisch und damit fremd. Vom Gefolge Jesu tritt nur Matthäus, der einzige Augenzeuge unter den Evangelisten, als wilder Streuner auf, der auch noch, wie sein Idol klagt, alles falsch notiert. Hinrichtungsspektakel erscheinen hier als geradezu notwendige Methode, die hysterisierten Menschenmassen zu managen. Tragisch wirkt eher, dass der Statthalter Pilatus den sympathischen Unschuldigen, mit dem er sich gern unterhalten hätte, töten lassen muss, weil die Priesterkaste es so will. Die politische Pflicht macht ihn zum einsamen Menschenverächter.

Diese Mär hat es der von keinem Überlebenskampf angefochtenen Heldin angetan, einer Maria-Magdalena-Figur mit dem russischen Gretchennamen Margarita. Sie ist die untreue Frau eines Nomenklatura-Wissenschaftlers, die die Haft ihres geliebten Meisters unwillentlich verschuldet hat, weil sie ihn drängte, sich um eine Publikation seines Manuskriptes zu bemühen. Aus Liebe zu ihm, aber auch aus Abenteuerlust schließt sie den Teufelspakt.

Dafür darf sie als unsichtbare Hexe eine Stunde lang den Moloch Moskau fliegend erkunden und sich als seine Herrin fühlen. Wobei sie an der Wohnung des Kritikers, der ihren Meister geschmäht hat, mit bacchantischem Furor Rache übt. Durch Teufelszauber verjüngt und im Blutbad getauft, lockt sie in der Karfreitagsnacht zu den Klängen eines frivolen "Halleluja"-Foxtrots Sünderseelen aus dem Jenseits, was sie selbst in eine Wiedergängerin von Margarete von Valois verwandelt, der promisken französischen Königin, deren Hochzeitsfest mit der Bartholomäusnacht endete.

Der Meister und Margarita werden nur Stunden nach seiner Befreiung am Samstag vor Ostern in der Souterrainwohnung des Meisters umgebracht. Ihre Seelen verlassen die Stadt im Gefolge des Teufels. In die Abschiedsszene hat Alexander Nitzberg jene drei kurzen Absätze wieder eingefügt, die Bulgakows Freunde schockiert haben sollen und die von seiner Witwe gestrichen wurden. Während die Bündnispartner in der Abendsonne von der Anhöhe der Sperlingsberge aus einen letzten Blick zurück werfen, fliegt ein Flugzeug über Moskau hinweg. Wolands Assistent Fagott will es aus Spaß wegpusten. Doch der Chef, der, wie Bulgakows Widmung mit Goethe betont, stets das Böse will und stets das Gute schafft, verbietet ihm das. Der Pilot, der sich, höchst symbolisch, auf etwa gleicher Höhe mit ihm bewegte, habe Mut, urteilt Woland, und er mache seine Sache völlig richtig. Bulgakows Zeitgenossen war klar, dass mit dem Bild vom einsamen Flieger über Moskau nur Stalin gemeint sein konnte.

Der Roman ist in Russland heute wieder heiß umstritten. In spätsowjetischer Zeit hatte er viele junge Leser der Kirche zugeführt, in den neunziger Jahren brachte er auch viele zum Satanismus. Orthodoxe Missionare warnen jetzt davor, den "Meister und Margarita" als Schulstoff früher als in der Oberstufe durchzunehmen. Der gelehrte Mönch Dmitri Perschin hielt in der Staatliche Universität Moskau unlängst eine Vorlesung, in der er erklärte, wie lange schon Schriftsteller in Jesus Christus ein moralisches Vorbild, aber nicht Gottes Sohn sehen wollten, angefangen von David Friedrich Strauß über Ernest Renan bis hin zu Leo Tolstoi. Bei Bulgakow sei dafür aber der Teufel echt, so Vater Dmitri. Deswegen müsse er auch Moskau vor Ostern verlassen mitsamt seinen erbeuteten Seelen.

Der Moskauer Theologe Andrej Kurajew wies in einem Vortrag vor Studenten darauf hin, wie unfaustisch willensschwach, ja schöpferisch impotent die Figur des Meisters sei, der sein Werk verbrennt und nichts mehr schreiben will. Und dass Margarita durch ihre Hexerei vor allem erreiche, dass beide bis zum Jüngsten Gericht in eine idyllische Datscha-Zweisamkeit gepfercht werden. Kommentare von diesem Kaliber hätten den Text dem Leser sicher besser aufschließen können als das begeisterte, aber etwas ratlose Nachwort von Felicitas Hoppe in der neuen deutschen Übersetzung.

Michail Bulgakow: "Meister und Margarita". Roman.

Herausgegeben und aus dem Russischen übersetzt von Alexander Nitzberg. Galiani Verlag, Berlin 2012. 608 S., geb., 29,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr