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Heinrich August Winkler hat eine dramatische, spannend zu lesende deutsche Geschichte vorgelegt. Er greift auf die Quellen zurück, um die Beweggründe der Handelnden freizulegen und die Geschichtsbilder nachzuzeichnen, von denen sie sich leiten ließen. Entstanden ist eine deutsche Geschichte, wie es sie so noch nicht gab: auf das Wesentliche ausgerichtet, anschaulich, entschieden im Urteil – und so verständlich geschrieben, daß nicht nur die Fachleute, sondern alle gefesselt sein werden, die wissen wollen, wie Deutschland wurde, was es heute ist. Heinrich August Winkler versteht es, seine Leser…mehr

Produktbeschreibung
Heinrich August Winkler hat eine dramatische, spannend zu lesende deutsche Geschichte vorgelegt. Er greift auf die Quellen zurück, um die Beweggründe der Handelnden freizulegen und die Geschichtsbilder nachzuzeichnen, von denen sie sich leiten ließen. Entstanden ist eine deutsche Geschichte, wie es sie so noch nicht gab: auf das Wesentliche ausgerichtet, anschaulich, entschieden im Urteil – und so verständlich geschrieben, daß nicht nur die Fachleute, sondern alle gefesselt sein werden, die wissen wollen, wie Deutschland wurde, was es heute ist.
Heinrich August Winkler versteht es, seine Leser von der ersten bis zur letzten Seite in Spannung zu halten. Er läßt sie teilhaben an den Entscheidungen, die die weitere Entwicklung prägten. Er zitiert aus den Quellen und verleiht damit seiner Darstellung Farbe und Anschaulichkeit. Er erzählt, um zu erklären, warum es eigentlich so gekommen ist.
Autorenporträt
Heinrich August Winkler, geb. 1938 in Königsberg, studierte Geschichte, Philosophie und öffentliches Recht in Tübingen, Münster und Heidelberg. Er habilitierte sich 1970 in Berlin an der Freien Universität und war zunächst dort, danach von 1972 bis 1991 Professor in Freiburg. Seit 1991 ist er Professor für Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bei C.H.Beck liegen von ihm vor: Streitfragen der deutschen Geschichte (1997); Weimar 1918-1933 (31999); Weimar. Ein Lesebuch zur deutschen Geschichte (Hrsg. zusammen mit Alexander Camman, 31997).
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.03.2000

Die verschleppte Freiheit
Weg nach Westen: Heinrich August Winkler präsentiert den ersten Band seiner Deutschen Geschichte
Die Warnung war deutlich: „Täuschen wir uns nicht darüber”, bilanzierte Gustav Stresemann im Februar 1928, „wir stehen in einer Krise . . . Diese Krise hat zwei Ursachen: einmal das Zerrbild, das aus dem parlamentarischen System in Deutschland geworden ist, zweitens die völlig falsche Einstellung des Parlaments in Bezug auf seine Verantwortlichkeit gegenüber der Nation. ” Zu diesem Zeitpunkt war die erste deutsche Demokratie nicht mal zehn Jahre alt, und es sollte keine weiteren fünf Jahre dauern, bis ihr Siechtum zu einem Ende führte, das auch Stresemann so nicht vorhergesehen hat.
Heute kann sich keine Darstellung der deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert dieser Zäsur entziehen, auch nicht die jüngste des an der Berliner Humboldt-Universität wirkenden Historikers Heinrich August Winkler. Mit dem Januar 1933 endet der erste Band seines monumentalen Unternehmens – der abschließende zweite folgt im Herbst. Als Hitler die Macht übernahm, so die Bilanz, hatte das „Bekenntnis zur demokratischen Republik” schon seit Jahren „nur noch eine Minderheit” in Deutschland mobilisieren können; der „lange Weg nach Westen” war zu einer Sackgasse geworden – nicht zum ersten Mal in der deutschen Geschichte, und auch nicht zum letzten Mal.
Hier findet Winkler sein Thema, und das braucht er auch, wenn er seine Leser sicher durch die wechselvolle neuere deutsche Geschichte führen und sein Werk zugleich auf einem Markt positionieren will, der üppig ausgestattet und dabei gut sortiert ist. An Gesamtdarstellungen der neueren deutschen Geschichte herrscht nicht gerade ein Mangel – allein der Münchner Verlag C. H. Beck, in dem auch Winkler sein Opus vorlegt, ist mehrfach hervorgetreten: Thomas Nipperdeys dreibändige „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert”, Otto Pflanzes zweibändige Bismarck-Biografie oder Hans-Ulrich Wehlers auf vier Bände angelegte „Deutsche Gesellschaftsgeschichte”, von denen zwei das 19. Jahrhundert abdecken – das ist die Konkurrenz, gegen die Winkler antritt.
Er tut das souverän und erfolgreich, weil er konsequent eine Frage im Auge behält: Warum ist der deutsche „Weg nach Westen”, der Weg zu einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie und zu einem von seinen Bewohnern wie seinen Nachbarn akzeptierten Nationalstaat so lang geraten und von so vielen Rückschlägen begleitet gewesen? Genau genommen erzählt Winkler die Geschichte eines permanenten Scheiterns.
Dabei bewegt er sich gleichsam von Ende zu Ende – vom Ende des durch Franz II. lustlos verwalteten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das angesichts der revolutionären Dynamik und der Modernität des voranstürmenden westlichen Nachbarn 1806 endgültig aufgegeben wurde, zum Ende der ersten deutschen Demokratie, die nicht stark genug war, um das auszuhalten, was vorausgegangene Generationen angerichtet hatten: die „Verschleppung der Freiheitsfrage im 19. Jahrhundert”.
Hier also zeigt sie sich jene „Ungleichzeitigkeit der politischen Modernisierung”, die für Deutschlands „langen Weg” charakteristisch gewesen ist: eine vergleichsweise „frühe Demokratisierung des Wahlrechts”, die schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von unten gefordert und dann endgültig 1871, in der Verfassung des Deutschen Reiches, von oben durchgesetzt worden war – das war die eine Seite. Und das war die andere: eine „verspätete Demokratisierung des Regierungssystems”, die bis in die Endphase des Ersten Weltkrieges hinein nie ernsthaft betrieben, dann aber in einem Tempo realisiert worden ist, das Konstruktionsfehler fast unvermeidlich machte. Von Anfang an war die erste deutsche Demokratie „so verfasst, dass sie sich selbst aufheben konnte. ”
Für das wiederholte Scheitern gibt es mithin einen handfesten Grund: die Unfähigkeit, beziehungsweise – so jedenfalls sieht das Winkler – die „Unmöglichkeit, Einheit und Freiheit zur gleichen Zeit zu verwirklichen. ” Ist es ein Zufall, dass diese Ungleichzeitigkeit erst nach zwei Jahrhunderten und in einem Augenblick überwunden werden konnte, den andere, die alliierten Sieger des Zweiten Weltkrieges, für geeignet hielten? Gerade die alten Nationalstaaten des Westens, Frankreich und England, blickten ja auf einen Jahrhunderte währenden Prozess der „nationalen Vereinheitlichung” zurück. Wer im Laufe dieser Entwicklung „mehr Freiheit wollte, fand den staatlichen Rahmen schon vor, in dem die Veränderungen erfolgen sollten. In Deutschland musste der staatliche Rahmen für das Vorhaben der Liberalen und Demokraten erst noch hergestellt werden. ” So war dann auch die „Nationsbildung” mit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 keineswegs vollendet, sondern sie trat „in ein neues Stadium. ” Das erklärt, warum zwar beim Abtritt Bismarcks die „Herausbildung einer deutschen Staatsnation” als weitgehend abgeschlossen, das Haus also als errichtet gelten konnte, dass ihm aber weiterhin der Innenausbau fehlte.
Dieser Zustand schuf Orientierungslosigkeit. Im deutschen Fall gab es eben nicht jene „nationale Identität”, die Selbstgewissheit im Innern verbürgen und damit die Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und souveränes Auftreten nach außen ermöglichen konnte. Schon die frühen deutschen Nationalisten – die Fichtes, die Jahns, die Arndts – hatten der Menschheit „keine universalen Werte wie Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit anzubieten, sondern nur das Ansinnen, die Überlegenheit des deutschen Geistes anzuerkennen und sich von Deutschland erlösen zu lassen. Da die Welt keine Anstalten traf, dies zu tun, musste zunächst Gott in die Bresche springen”, später taten es andere: „Die Erfahrung der Ohnmacht erzeugte Machtträume, die nur ein Allmächtiger verwirklichen konnte. ”
Weil mithin die Deutschen ihrer nationalen Identität „zutiefst unsicher” blieben, hatten ihr andere bei der Beantwortung der Frage zu helfen, „was deutsch und was undeutsch sei”; nachdem der „äußere ,Erbfeind‘”, nachdem Frankreich 1871 überwunden worden war, musste ein neuer, ein innerer Erbfeind her: „Das ,internationale Judentum‘ eignete sich für diese Rolle besonders gut, weil es mit fast allem in Verbindung gebracht werden konnte, was Deutsche als Bedrohung empfanden. ” Das ist eine sehr weitgehende These, und man wird sehen müssen, ob sie sich durchzusetzen vermag. Gewiss, der „Antisemitismus war schon im Kaiserreich kein Monopol antisemitischer Parteien und Verbände”; doch ob man darin ein oder gar das konstitutive Element des ersten Nationalstaats auf deutschem Boden sehen kann, bedarf der Diskussion. Jedenfalls ist in dieser Hinsicht wohl kein deutscher Historiker so weit gegangen wie Winkler.
Aber auch hier, im Aufwerfen unangenehmer Fragen und im Aufzeigen unorthodoxer Perspektiven, zeigt diese „Deutsche Geschichte”, was eine solche Gesamtdarstellung heute zu leisten hat: Sie muss anregen, sie muss wohl auch in angemessener Weise provozieren und sie muss in der Sache wie in ihrer Präsentation überzeugen, das heißt: neben der politischen Geschichte in einem umfassenden Sinne müssen die Sozial- und Wirtschafts-, die Religions- und Kirchengeschichte oder auch, in dieser Darstellung besonders eindrucksvoll, die Geistes- und Ideengeschichte ihren Raum haben. Heinrich August Winkler zeigt, wie man das macht.
GREGOR SCHÖLLGEN
HEINRICH AUGUST WINKLER: Der lange Weg nach Westen. Band 1. C. H. Beck, München 2000. 652 S. , 78 Mark
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Die Gipfelstürmer vom Piz Perdü
Heinrich August Winkler auf ideengeschichtlicher Bergwanderung / Von Klaus Hildebrand

Heinrich August Winkler verfasst derzeit eine zweibändige Darstellung der deutschen Geschichte im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Erschienen ist jetzt der erste Band, der sich vom Ende des Alten Reiches im Jahre 1806 bis zum Ende der Weimarer Republik im Jahre 1933 erstreckt; im Herbst wird der zweite Teil folgen, der die Entwicklung des "Dritten Reiches" und der geteilten Nation bis zu ihrer Wiedervereinigung im Jahre 1990 zum Gegenstand haben wird.

"Der lange Weg nach Westen" beschreibt den windungsreichen Gang der Deutschen durch die europäische Geschichte vor dem Hintergrund jener drei Grundtatsachen, die die deutsche Geschichte über viele Jahrhunderte bestimmt haben: das mittelalterliche Reich, die Glaubensspaltung im sechzehnten und der Gegensatz zwischen Österreich und Preußen im achtzehnten Jahrhundert. Existenz und Folgen dieser Phänomene bewirkten, dass Deutschland nicht einen mit Frankreich, England oder Spanien vergleichbaren Weg zum modernen Nationalstaat einschlug.

Das Reich zeigte sich durch jene geschichtsmächtigen Eigenheiten charakterisiert, die seine vielumrätselte Zwitterexistenz ausmachten - zwischen Nation und Staat, zwischen Wittenberg und Rom, zwischen Ost und West, zwischen Geist und Macht, zwischen Innerlichkeit und Staatsräson. Trennendes überlagerte seit dem Ausgang des Mittelalters den allmählichen Prozess deutscher Nationsbildung, den Winkler zwischen 1000 und 1500 im Hinblick auf ein durch die Sprache definiertes Gemeinsamkeitsgefühl nachvollzieht. Zwar wurde der Gegensatz der Konfessionen im Augsburger Religionsfrieden von 1555 gemildert, doch ging mit der religiösen Toleranz die politische Spaltung einher. Die stärkste überterritoriale Gemeinsamkeit verband von nun an die Deutschen gleichen Glaubens, aber unterschiedlicher Herrschaft.

Im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts, nach dem Ende der preußisch-österreichischen Kriege und vor dem Hintergrund der gemeineuropäischen Entwicklung zum Nationalstaat, setzte eine neue Debatte über Sinn und Notwendigkeit eines deutschen Nationalstaates ein, vorläufig noch auf literarischer und philosophischer Ebene. Sie geriet jedoch, durch das Epochenjahr 1789 in Frankreich und seine bis zum Wiener Kongress währenden Folgen befördert, sehr bald in die Antinomie von Freiheit und Einheit, von Revolution und Tradition, die das gesamte neunzehnte Jahrhundert durchziehen sollte.

Aufs Neue machte sich - im Vergleich mit der englischen Revolution des Siebzehnten und der amerikanischen sowie der französischen Revolution des achtzehnten Jahrhunderts - ein deutsches Spezifikum bemerkbar; seine janusgesichtige Entwicklung hat die Geschichte der Deutschen bis tief in unser Saeculum hinein begleitet: "Der Fortschritt als Fessel", so umschreibt Winkler diesen paradoxen Sachverhalt, den Rudolf Stadelmann einmal so resümiert hat: "Nicht die deutsche Reaktion, sondern der deutsche Fortschritt hat Deutschland gegenüber dem Westen zurückgeworfen." In der Tat: Die Vorbildlichkeit der allgemeinen Verhältnisse in nicht wenigen der deutschen Territorien, die im europäischen Vergleich gar nicht zu verkennen ist, machte die Revolution überflüssig und stabilisierte zugleich so manche Erbschaft, die sich mit voranschreitender Zeit zur Belastung auswuchs.

Das ist die Problemlage zwischen 1830 und 1850, als sich der deutsche Liberalismus, so Winkler, selbst "überforderte" mit seinen ehrgeizigen, ja hypertrophen Zielen, 1848 alles auf einmal zu erreichen: Einheit und Freiheit, Verfassung und Imperium. Danach allerdings, nach den Zäsuren der Revolution von 1848 und dem Ende des Krimkriegs von 1856, brach sich die realistische Einsicht Bahn, dass nur eines nach dem anderen zu haben sei und daher die Einheit der Freiheit wohl vorangehen müsse. Europa sah sich, Gott sei Dank, vor dem tollkühnen Mut derjenigen Liberalen und Demokraten bewahrt, die, auf der äußersten Linken am entschiedensten, nach Krieg und Revolution verlangten, um ihren Geschichtsplan zu verwirklichen: "Der linke Ruf nach dem ganz Europa erfassenden Befreiungskrieg der Völker", beschließt Winkler dieses Kapitel seiner Darstellung, "war ein Ausdruck deutschen intellektuellen Wunschdenkens, bar jeder Rücksicht auf die tatsächlichen Kräfteverhältnisse in den einzelnen Gesellschaften wie zwischen den Staaten und folglich blind für die menschlichen Kosten der eigenen Desperadopolitik."

Bismarck zog aus der historischen Tatsache, dass dem Idealismus des Vormärz der Realismus der zweiten Jahrhunderthälfte folgte, seine Konsequenz: Preußen, wirtschaftlich mit seiner freihändlerischen Orientierung zum Westen gehörig, konstitutionell mit seiner militärischen Verfasstheit nach Osten ausgerichtet, versprach absehbare Aussicht auf jene Einheit der Deutschen, die nicht wenigen Liberalen nach 1848 wie "ein Vorgriff auf die Freiheit ganz Deutschlands" vorkam. Gewiss, nach wie vor gab es auch die anderen im liberalen Lager: Unbeirrt hielten sie am Vorrang der Freiheit fest, verurteilten die Tatsache, dass in Preußen offensichtlich nur die Könige Revolutionen zu machen im Stande schienen, und lehnten die Bewunderung für Bismarck als einen "Götzendienst des Erfolgs" leidenschaftlich ab. Doch für die Mehrheit der deutschen Liberalen war es eben nicht nur eine rhetorische Frage, die einer ihrer führenden Repräsentanten, Ludwig Bamberger, am Ende des Epochenjahres 1866 stellte: "Ist denn die Einheit nicht selbst ein Stück Freiheit?"

Als Bismarck schließlich, nicht zuletzt im Zusammenwirken mit den bürgerlichen Kräften, das Deutsche Reich begründet hatte und tatkräftig zu entwickeln versuchte, als vor allem der Nationalismus zwischen 1870 und 1890 sich von einer linken in eine rechte Sache verwandelte, da war ungeachtet aller Mitwirkung der Liberalen am Bau des modernen Deutschland doch klar, was Winkler bündig feststellt: "Eine Chance zur Parlamentarisierung Deutschlands hat unter Bismarck nie bestanden." Der deutsche Konstitutionalismus, das zeitgenössisch plausible Ergebnis einer langen Entwicklung, blieb aus westlichen und östlichen Verfassungselementen zusammengesetzt, deren problematische Mischung bis in die Existenz der Parteien hinein unübersehbare Wirkungsmacht entfaltete: "So wie Bernstein die Entwicklung der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung mit den Augen englischer Reformer sah, so Rosa Luxemburg mit den Augen einer Revolutionärin, die von den Erfahrungen des Zarenreiches geprägt war."

Auch im wilhelminischen Deutschland, dessen Parlamentarisierungschancen und -tendenzen Winkler nicht unterschätzt, fehlte selbst nach der die innenpolitische Szene erschütternden "Daily Telegraph-Affäre" des Jahres 1908 für eine Parlamentarisierung "eine wesentliche Voraussetzung: eine Reichstagsmehrheit, die ein solches System anstrebte und zu tragen bereit war". Das dauerte im Grunde an, bis sich in der zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs ein schleichender Verfassungswandel immer stärker bemerkbar machte und das Reich schließlich am 28. Oktober 1918 parlamentarisiert wurde - ungeachtet jener mächtigen Kräfte der Beharrung, die mit allen Mitteln dagegen Front machten: Als Zeugen für diese à la longue verhängnisvolle Tendenz der deutschen Geschichte benennt der Autor Thomas Mann. "Die deutsche Kultur, die er der westlichen Zivilisation entgegenstellte, bedurfte des vom Westen gescholtenen Obrigkeitsstaates, weil dieser sie von der Politik abschirmte."

Dass es trotz der deutschen Oktoberreformen im November des Jahres 1918 zur Revolution kam, hatte mit dem hinhaltenden, ja sich aktivierenden Widerstand jener auf das Hergebrachte orientierten, rückwärts gewandten Kräfte zu tun: "Die Revolution von unten brach aus", diagnostiziert Winkler, "weil die Revolution von oben, in Gestalt des Regimewandels vom Oktober, gescheitert war - gescheitert an militärischer Obstruktion. Die Obstruktion des Militärs und hier in erster Linie der Seekriegsleitung, machte es unmöglich, die Institution der Monarchie aufrechtzuerhalten."

Damit hat die Darstellung die Weimarer Republik erreicht, deren Geschichte der Berliner Historiker so gut kennt wie kaum ein anderer. Dass die deutsche Revolution am Ende des Ersten Weltkriegs nicht das Ausmaß und den Schrecken der französischen oder der russischen annahm, erklärt Winkler in Anlehnung an Eduard Bernstein damit, dass Deutschland, wie schon zuvor in vergleichbaren Entscheidungslagen, einfach zu entwickelt, zu fortschrittlich und zu modern, "bereits zu industrialisiert und zu demokratisch" war, "um eine radikale Umwälzung zu ertragen". Die proletarische Revolution hätte zur Diktatur und nicht zur Demokratie geführt, hätte geradezu abgeschnitten, was dem deutschen Parlamentarismus an evolutionärem Potenzial innewohnte. Daher verhinderte die SPD, dass es zu einer Diktatur des Proletariats kam, die binnen kurzem zu einer Diktatur über das Proletariat geworden wäre. Denn der Gewinn an politischer Freiheit, den die Weimarer Reichsverfassung den Deutschen gab, war ohne Zweifel beträchtlich. Doch die Bewahrung dieser Freiheit in schwierigen Zeiten "war durch die Verfassung nicht gesichert. Die ,demokratischste Demokratie der Welt' war nicht nur durch die Kräfte bedroht, die sie ablehnten und bekämpften. Sie war viel mehr so verfasst, dass sie sich selbst aufheben konnte."

Eben diese Schwäche machten sich die Feinde von links und rechts zu Nutze und bekämpften die "vorbelastete Republik" ohne Erbarmen, bis sie zu existieren aufhörte: "Der 30. Januar 1933", beurteilt Winkler den Untergang der Weimarer Demokratie, "war weder ein zwangsläufiges Ergebnis der vorangegangenen politischen Entwicklung noch ein Zufall . . . Wenn es eine Ursache ,letzter Instanz' für den Zusammenbruch der ersten deutschen Demokratie gibt, liegt sie in der historischen Verschleppung der Freiheitsfrage im 19. Jahrhundert - oder anders gewendet, in der Ungleichzeitigkeit der politischen Modernisierung Deutschlands: der frühen Demokratisierung des Wahlrechts und der verspäteten Demokratisierung des Regierungssystems. Hitler wurde nach 1930 zum Hauptnutznießer dieses Widerspruchs und legte damit das Fundament seines Erfolges."

Heinrich August Winkler hat mit diesem Buch ein Stück großer Geschichtsschreibung vorgelegt, das Deutschlands Eigenweg durch die Jahrhunderte souverän und deutungsmächtig verfolgt: In den ersten Kapiteln ein Zeugnis brillanter Geistesgeschichte, eine ideenhistorische Gipfelwanderung, verbreitert sich die Darstellung vom neunzehnten Jahrhundert an zu einer ebenso systematischen wie detaillierten Geschichte der deutschen Innenpolitik, die ihresgleichen sucht. Sie wird den Ansprüchen des Spezialisten ebenso gerecht, wie sie für ein hoffentlich großes Publikum eine außerordentlich niveauvolle und gut lesbare Synthese bietet. Gewiss, die außenpolitischen Probleme des Landes in der Mitte zwischen den Weltanschauungen und Mächten der Zeit kommen insgesamt zu kurz, hätten, angemessener berücksichtigt, die innenpolitischen und geistesgeschichtlichen Zusammenhänge und Verwerfungen Deutschlands noch intensiver erklären können, hätten die deutsche Gemengelage zwischen West und Ost hier und da womöglich anschaulicher illustriert, hätten zudem die spezifische Ideenarmut der durch "Nichts-als-Staatlichkeit" ausgezeichneten und durch den antiquierten Reichsmythos beschwerten Nation zu Tage treten lassen. Doch vielleicht kommen diese Gegenstände im zweiten Band des "Langen Weges nach Westen" stärker zur Sprache. Nach diesem Opus magnum darf man gespannt darauf sein.

Heinrich August Winkler: "Der lange Weg nach Westen". Erster Band: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik. Verlag C. H. Beck, München 2000. 652 S., geb., 78,-, bei Bezug beider Bände je Band 68,- DM.

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