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Aus dem Chor der Stimmen in diesem Roman spricht vor allem die Stimme Spaniens. Sie erzählt aus einem vom Rest Europas abgeschnittenen Land und aus einer Zeit, von der es heißt, damals, zwischen dem Ende des Bürgerkriegs 1939 und dem Beginn von Francos langem Abschied 1970 habe Schweigen geherrscht. Wie auf einem riesigen Wandgemälde erzählt Rafael Chirbes vom langen Weg zweier Generationen.

Produktbeschreibung
Aus dem Chor der Stimmen in diesem Roman spricht vor allem die Stimme Spaniens. Sie erzählt aus einem vom Rest Europas abgeschnittenen Land und aus einer Zeit, von der es heißt, damals, zwischen dem Ende des Bürgerkriegs 1939 und dem Beginn von Francos langem Abschied 1970 habe Schweigen geherrscht. Wie auf einem riesigen Wandgemälde erzählt Rafael Chirbes vom langen Weg zweier Generationen.
Autorenporträt
Rafael Chirbes, geboren 1949 in Tabernes de Valldigna bei Valencia, studierte in Madrid und lebt heute als freier Publizist in Beniarbeig bei Alicante. Früh verließ er den Ort seiner Kindheit und lebte in verschiedenen Städten Spaniens, u.a. in Salamanca, Madrid und Barcelona, später einige Zeit in Paris und in Marokko. Obwohl seine Liebe der Literatur galt, studierte Chirbes in Madrid Neuere Geschichte. Daneben interessiert er sich für Film, Malerei und Architektur und arbeitete zunächst als Literatur- und Filmkritiker für verschiedene Zeitschriften, u.a. lange Jahre für das Reise- und Gourmetmagazin Sobremesa. Rafael Chirbes verstarb im August 2015.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.04.1998

Sonne aus Blei
Rafael Chirbes erzählt aus der Franco-Zeit · Von Paul Ingendaay

In einem hintergründigen Cartoon von Charles M. Schulz betätigt Snoopy sich als Schriftsteller. Auf dem Dach seiner Hundehütte, vor sich die Schreibmaschine, tippt er zusammenhanglose Sätze aufs Papier. Einer lautet: "In einer kleinen Bauernkate wurde ein Mädchen geboren." Ein anderer: "Am Horizont erschien ein Piratenschiff." Ein dritter: "Die Patientin in Zimmer neun stöhnte leise." Jeder Satz ist ein wahllos eingeschlagener Nagel in einer nackten Wand. Im letzten Bild lächelt Snoopy dem Betrachter ins Gesicht und spricht Worte, die an das Geheimnis allen Erzählens rühren: "Jetzt muß ich das Ganze nur noch verknubbeln."

Ambitioniertes Verknubbeln entstammt einer Romanästhetik, die ihre beste Zeit schon lange hinter sich hat. Heute trifft man sie vor allem in den feuchten Niederungen des Trivialromans an, im historischen Sittengemälde oder in der eselsohrigen Familiensaga. In diese etwas anrüchige Nachbarschaft hat sich auch der Spanier Rafael Chirbes mit seinem Roman "Der lange Marsch" (La larga marcha) begeben. Noch beunruhigender könnte sein, daß dem Roman ein ziemlich schlampig produziertes Personenverzeichnis beiliegt, wie man es von Dickens und Dostojewski kennt. Es führt dreißig Leute aus sechs Familien auf, den einen oder anderen Schwager nicht mitgerechnet. Tatsächlich ist diese Liste nützlich, und sei es nur, weil sie ahnen läßt, wie Chirbes seine Figuren miteinander verknubbelt.

Danach beginnt eine Camouflage, die man wohl genial nennen muß. Denn unter der altmodischen Hülle dieses Romans (das spanische Original erschien vor zwei Jahren) verbirgt sich eine funkelnde Hochleistungsmaschine. Am Anfang wird, wie bei Snoopy, in einer kleinen Bauernkate ein Kind geboren. Während die Mutter in den Wehen liegt, rauscht Schmelzwasser den Bach hinab und reißt verdorrte Äste und Steine mit. Die Familie des galicischen Bauern Manuel Amado weiß, daß die Natur hier gewaltige Sachen anstellen kann. Wir befinden uns in den späten vierziger Jahren, im hohen Norden des Franco-Reichs, doch der Name des Diktators kommt im Roman kaum vor. Jahre später verwandelt Behördenwillkür das galicische Tal, in dem Manuel Amado wohnt, in einen Stausee. Die Bevölkerung wird karg abgefunden und ohne viel Federlesens aus ihrem alten Leben hinauskatapultiert.

Immer wieder ist in diesem Roman von einem "neuen Spanien" die Rede, und jeder, der an den Aufbruch glaubt, okkupiert den Begriff mit derselben naiven Begeisterung. Doch Chirbes hat eine Geschichte der großen Hoffnungen, der hehren Worte und der tiefen Enttäuschungen geschrieben. Erzählt wird von Familien aus verschiedenen Teilen Spaniens zwischen den vierziger und sechziger Jahren. Ein paar Erinnerungen reichen zurück in die dreißiger, ein paar dünne Fäden nach vorn in die siebziger Jahre; vor dem Tod Francos 1975 bricht das Buch ab. Das demokratische Spanien möchte ein anderes sein als jenes aus der Zeit der bleiernen Isolation.

Wie ehrlich ein Land mit sich selbst umgeht, hängt davon ab, wie gut es seine eigene Geschichte begreift, und wohl aus diesem Grund genießt der Roman von Rafael Chirbes in Spanien einen hohen Ruf. Die Lebensläufe, die er nebeneinander stellt, werden vergleichbar, ohne miteinander zu verschwimmen. Neben Amado, den galicischen Bauern, treten ein Straßenhändler aus Madrid, ein Eisenbahnarbeiter aus einem Dorf bei Valencia, eine junge Frau aus dem Madrider Großbürgertum, die sich aus Angst vor dem sozialen Absturz einem windigen Aufsteiger in die Arme wirft. Wir sehen einen Schuhputzer aus Salamanca, der im Suff seine Beine auf Eisenbahnschienen verliert; einen Tagelöhner aus Estremadura, dessen Frau im Bett des Bäckers dazuverdient; und einen Arzt aus der ehemaligen republikanischen Opposition, der nach der Haft in franquistischen Gefängnissen desillusioniert seine Tage verdämmert.

Jeder Figur oder Figurengruppe sind jeweils eigene Kapitel gewidmet. Dennoch wäre es falsch, von einem Roman der Stimmen zu sprechen, denn Chirbes behält die Fäden fest in der Hand. Wie der allmächtige Autor früherer Jahrhunderte weiß, sieht und hört er alles. Die Pointe seines Erzählens ist aber, daß damit nichts einfacher wird: Man kann die Daten eines Menschenschicksals aufblättern, ohne an dessen Substanz zu gelangen. Was Idealisten die "Wahrheit" einer Person nennen und was durchschnittliche Romane herauszufinden sich stets zutrauen, sofern sie nur massig genug daherkommen, das verschwindet bei Chirbes immer wieder im Kollektiv. Diese Zurückhaltung ist eine seiner Stärken, sie verrät Klugheit und Diskretion. Zwar zeigt der Autor uns die Vertreter einer betrogenen Nation, aber es bleibt durchaus noch zu ergründen, warum es so kommen mußte und wer der Betrüger war.

Rafael Chirbes hat nicht nur den Roman mehrerer Familien, sondern auch den Roman zweier Generationen geschrieben. Den ersten Teil beherrscht jene Altersgruppe, die den Bürgerkrieg erlebt, die mitgekämpft, sich geduckt oder profitiert hat, die korrumpiert oder gebrochen wurde; den zweiten dominieren ihre Kinder, deren Wege sich in den sechziger Jahren in Madrid kreuzen und die etwas Frischluft in den Muff des überlebten Franco-Regimes fächeln wollen. Auf beide Generationen übt die Metropole ihre Anziehungskraft aus. Wer sich ihr überläßt, wird geblendet, betäubt oder vergiftet. Wie nebenbei schleust Chirbes seine Requisiten durch das Buch, das Mobiliar der Kinosäle, in denen seine Figuren Zerstreuung suchen, den schlichten Pappkoffer, den sie beim Wohnungswechsel bei sich tragen. Für die einen ist Madrid ein luxuriöses Spielfeld, für die anderen ein wild nach draußen wucherndes Ödland aus Staub und Asphalt. Fassadenhaft ist vieles daran: eben weil auf dem Stillhalten der Wohlhabenden, auf altem Stil, alter Ordnung und falscher Weihe die autoritäre Herrschaft des "Caudillo" beruht.

Doch auch der wird älter. In den fünfziger Jahren bringen Studenten aus dem Ausland Elvis-Platten mit, dann die Beatles, schließlich Marx und Hermann Hesse. Man küßt sich in der Öffentlichkeit; ob mehr und Gewagteres gestattet wird, hängt nicht nur von der Erziehung ab, sondern auch von der aparten Frage, ob der Klassenkampf mit dem Gefühlsleben des Individuums nicht Schluß gemacht habe. In weit ausgreifenden Sätzen, deren Reichtum und Geschmeidigkeit völlig ohne rhetorische Girlanden auskommt - die Übersetzerin Dagmar Ploetz hat diesen Stil bewundernswert bewahrt -, erzählt Chirbes von allen Figuren mit derselben kühlen Aufmerksamkeit.

Am Ende des ersten Teils schleppt sich ein streunender Hund auf der Straße dahin, vielleicht wird er vor Hitze und Hunger umkippen und einfach liegenbleiben: "Cara al sol" (der Sonne entgegen), der leitmotivisch wiederkehrende Titel der Falangisten-Hymne, klingt hier mit böser Ironie nach. Am Ende des zweiten Teils sind abermals Hunde zu hören, diesmal jedoch vor dem berüchtigten Gefängnis an der Puerta del Sol, wo opponierende Studenten verhört und gefoltert werden. Darunter auch Helena Tabarca, der ihr Vater mit dem kriegerischen Namen den Widerstandsgeist übertragen wollte, an den er selbst in idealistischen Tagen geglaubt und der ihm wenig genützt hat. Inzwischen ist Don Vicente Tabarca zum Opportunisten geworden, der die linken Flugblätter seiner Tochter panisch beiseiteschafft. Bis in die kleinsten Details schildert "Der lange Marsch", wie die verzweifelten symbolischen Gesten von der Geschichte entwertet und lächerlich gemacht werden.

Rafael Chirbes hat auf deutsch bisher zwei schmale Bücher herausgebracht. In "Mimoun" (1990) treibt es einen gestrandeten Schriftsteller nach Marokko und wieder zurück, "Der Schuß des Jägers" (1996) besteht aus dem Monolog eines alten Mannes, der sich seines bürgerlichen Aufstiegs erinnert und das meiste daran schal findet. Daß Chirbes ein Erzähler von einigem Format ist, war nach diesen beiden Büchern klar; allerdings schien ihm irgend jemand zugeflüstert zu haben, die Handlung sei nicht so wichtig. Mit dem Ergebnis, daß seine Bücher kaum eine hatten.

"Der lange Marsch" scheint von einem anderen Autor zu stammen - spannend, aber nicht auf bequeme Weise pittoresk; sinnlich, doch zugleich präzise, durchdacht und von großer kompositorischer Raffinesse. Ein Hauptwerk in jedem Sinn. Chirbes, geboren 1949 in der Nähe von Valencia, ist selbst ein Vertreter der Generation, von deren frühen Jahren er schreibt. Sein Buch kann als Porträt und Analyse jenes öffentlichen Lebens gelesen werden, das immer schon da ist, bevor das private beginnt, das es beeinflußt, lenkt und womöglich deformiert. Dieser beeindruckende Roman macht das Ausmaß der Gewalt, des Selbstbetrugs und des störrischen Traditionalismus spürbar, aus denen Spanien vor gut zwanzig Jahren herauszutreten begann.

Rafael Chirbes: "Der lange Marsch". Roman. Aus dem Spanischen übersetzt von Dagmar Ploetz. Antje Kunstmann Verlag, München 1998. 330 S., geb., 42,- DM.

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