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Unsere Aufarbeitung des Holocaust hat gerade erst begonnen, so lautet Geoffrey Hartmans zentrale These, die allen in diesem Buch versammenlten Essays zugrunde liegt. Aber geschieht diese Aufarbeitung, um zu vergessen oder um zu erinnern? Geoffrey Hartman schreibt in seinen Essays an gegen die Revisionisten, die Auschwitz und die massenhafte Vernichtung der Juden leugnen, aber auch gegen diejenigen, die aus Mahnmälern, Gedenkveranstaltungen, Museen einen Fetisch machen. Er appelliert für einen überlegten Umgang mit der Erinnerung.

Produktbeschreibung
Unsere Aufarbeitung des Holocaust hat gerade erst begonnen, so lautet Geoffrey Hartmans zentrale These, die allen in diesem Buch versammenlten Essays zugrunde liegt. Aber geschieht diese Aufarbeitung, um zu vergessen oder um zu erinnern?
Geoffrey Hartman schreibt in seinen Essays an gegen die Revisionisten, die Auschwitz und die massenhafte Vernichtung der Juden leugnen, aber auch gegen diejenigen, die aus Mahnmälern, Gedenkveranstaltungen, Museen einen Fetisch machen. Er appelliert für einen überlegten Umgang mit der Erinnerung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.1999

Von der Wunde sprechen, die sich nicht zeigen läßt
Die Belebung des Denkmalbaumarkts ist laut Geoffrey Hartman nicht unbedingt zu begrüßen

Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs. Während die Zahl der direkten Augenzeugen des Holocausts immer kleiner wird, treten die "intellektuellen Zeugen", die den Holocaust nicht erlebt haben, die Nachfolge an. Denkmäler, Museen, Kinofilme und Kunstwerke deuten auf ein neues Phänomen. Geoffrey Hartman, emeritierter Literaturprofessor der Universität Yale, untersucht in zehn Essays die verschiedenen Formen der Auseinandersetzung mit dem Holocaust und ihre Auswirkungen. Wie kann die Erinnerung an die Judenvernichtung künftigen Generationen vermittelt werden? Hartmans Ausführungen lassen zwei Hauptstränge erkennen: Er befaßt sich einerseits mit dem Verhältnis zwischen modernen Medien und Gedächtnis und erörtert andererseits den Zwiespalt von Geschichte und ritualisierten Formen der Erinnerung. Der Eifer, mit dem sich Kultur, Wissenschaft und Politik des schwierigen Themas annehmen, stimmt Hartman, der als Kind vor den Nazis nach England fliehen mußte, keineswegs optimistisch. Denn eine allzu breite Popularisierung birgt die Gefahr der Oberflächlichkeit und des auf den schnellen Konsum folgenden Verschleißes. Sorge bereitet Hartman auch, daß viele mit dem Ruf nach einem Schlußstrich auf die Erinnerungsflut reagieren. Er meint indessen, daß in den letzten fünfzig Jahren die Sammelwut dem Verstehen des Holocausts im Weg stand.

Extreme Erfahrungen verlangen eine angemessene Sprache, die auch ethische Belange berücksichtigt. Wie kann man "jene Wunde, die sich nicht zeigen lassen will", symbolisieren? In seinen Überlegungen berücksichtigt Hartman unterschiedliche Genres wie die Kunst, die Literatur, die Geschichtswissenschaft, das Zeugenvideo oder die Populärkultur. Er widmet dem Film "Schindlers Liste" und der Langzeitwirkung des realistischen Kinos einen Essay. In "Schindlers Liste"" wurde mittels spektakulärer Effekte versucht, eine wirklichkeitsgetreue Abbildung des Holocausts zu erschaffen. Eine unbedachte Folge dieser Darstellungsform ist aber, daß bei wiederholtem Kontakt mit den erschütternden Bildern "eine Hornhaut" auf dem Auge entsteht und das Gewissen immer neue Gewaltszenen braucht, um nachzuprüfen, ob es sich überhaupt noch regt. Statt dessen muß die erste schockierende Begegnung mit dem Holocaust wie ein kostbarer Talisman bewahrt werden. Für Hartman ist der Film einerseits zu realistisch geraten, weil die Gewaltszenen eine magische Anziehungskraft auf das Publikum ausüben. Andererseits kann man ihm aber auch einen Mangel an Realismus vorwerfen, weil er sich der Logik des Genres nicht entziehen kann und auf einer Erlösung besteht.

Hartman befürchtet, daß in einer Epoche, die den Fernsehzuschauer jeden Tag mit etlichen Katastrophen konfrontiert, der Holocaust an Gewicht verliert und ein Gefühl der Machtlosigkeit überhandnimmt. Mit Baudrillard meint er, die schiere Menge und Geschwindigkeit der Information bewirke auch einen erheblichen Realitätsverlust. Gleichzeitig mit dieser Informationsvermehrung ist auch unser Mißtrauen gewachsen, so daß die Lücke zwischen unserem Wissen und unserem ethischen Handeln nicht geringer geworden ist. Gegen diese Überbeanspruchung des Gewissens werden Schutzwälle errichtet oder Gegen-Erinnerungen produziert, wie bei dem Besuch des amerikanischen Präsidenten Reagan auf dem Soldatenfriedhof in Bitburg im Jahr 1985, wo solcher Opfer gedacht wurde, die es auf beiden Seiten gegeben hatte, der gefallenen Soldaten, und somit die Erinnerung an den Holocaust blockiert wurde.

Geschichte und Ritual bildeten in der jüdischen Tradition eine Einheit: Ereignisse wurden in Gebete eingebaut, die Erinnerung hatte eine erlösende und integrierende Funktion. Der Holocaust aber, so Hartman, sei so ungeheuerlich, daß der Aufruf zur Erinnerung nicht mehr durch Gedenktage allein befriedigt werden könne, sondern "nach einem Schreiben strebt, das so furchterregend detailliert ist, daß es nie mehr aus dem Gewissen der Völker getilgt werden kann". Um den Holocaust zu verstehen, werden zum ersten Mal alle Quellen und Hilfsmittel der Geschichtswissenschaft benutzt. Aber wie Yosef Hayim Yerushalmi bemerkt hat, kann das unaufhörliche Dokumentieren keine Erleichterung verschaffen und keinen Sinn stiften. Es beschleunigt zugleich den Verfall der jüdischen Erinnerung. Hartman spricht sich für eine Form der Erinnerung aus, die eine Verbindung zwischen moderner Geschichtsschreibung und Ritual herstellt.

Die Belebung des Denkmalbaumarkts deutet darauf, daß dem einzelnen die Last der Vergangenheit und die Mühe des Nachdenkens abgenommen werden soll: "Man möchte sich erinnern und dabei vergessen." Hartman warnt davor, die Nachkommen der Täter zu stark zu belasten, weil dies zu Trotzreaktionen führe. Eine Erinnerungspolitik, die nur Schreck oder Hilflosigkeit bewirkt, hat ihr Ziel verfehlt. Hartman kann auf seine Erfahrung als Leiter des Fortunoff-Videoarchivs für Holocaust-Zeugnisse an der Universität Yale zurückgreifen. Das Projekt wurde Ende der siebziger Jahre von Überlebenden des Holocausts, die von ihren Leiden berichten und den Thesen der Auschwitz-Leugner entgegentreten wollten, begründet. Es vereint viele der Eigenschaften, mit denen Hartman eine gelungene Vermittlung von Erinnerung verknüpft.

Die Erzählungen der Überlebenden sind realistisch, ohne dies simulieren zu müssen und ohne den Vereinfachungen der Fiktion zu erliegen. Sie beziehen die Wirkung der Erinnerung auf die Gegenwart mit ein. Sie sind restitutiv und kompensatorisch, indem sie eine verschwundene Welt in Worten rekonstruieren. Darüber hinaus ist der Bericht einer lebendigen Person eine erträglichere, weniger traumatische Form der Überlieferung als das direkte Bild und läßt sich somit für pädagogische Zwecke verwerten. Das Video-Zeugnis, ein modernes Medium, das allen zugänglich ist, hilft dem von der technischen Perfektion des Films erzeugten Gedächtnisschwund zu begegnen, weil es auch das Stocken der Erinnerung verdeutlicht. Schließlich erscheinen die Überlebenden nicht aus der Perspektive der Täter, sondern sprechen für sich selbst und erzählen das, was in den geschichtlichen Darstellungen oft zu kurz kommt.

Hartmans Essays sind aus einem amerikanischen Blickwinkel heraus entstanden und befassen sich nicht vorrangig mit der besonderen Problematik der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Der frühe Erscheinungszeitpunkt der Originalausgabe im Jahr 1996 bedingt auch, daß die deutschen Debatten über das Holocaust-Mahnmal oder Martin Walser keine Erwähnung finden. Gleichwohl sind die Essays keineswegs obsolet. Hartman darf als Vordenker gelten, der die Positionen, Gesichtspunkte und Argumente der letzten Jahre in ihrer ganzen Breite vorweggenommen hat. Mehr noch, er hat die komplexen Probleme sachlich und tiefgründig reflektiert, was man in der Hektik der deutschen Tagesdebatten, die sich oft um Personen und Verfahrensfragen drehten, oft vermißte. So mag man bedauern, daß Hartmans Essays erst jetzt den deutschen Leser erreichen. Allerdings hat die These des Autors, wir befänden uns erst am Anfang einer wirklichen Aufarbeitung, inzwischen eine kräftige Bestätigung erhalten.

MARIE-ELISABETH RÄKEL

Geoffrey Hartman: "Der längste Schatten". Erinnern und Vergessen nach dem Holocaust. Aus dem Amerikanischen von Axel Henrici. Aufbau-Verlag, Berlin 1999. 290 S., br., 34,- DM.

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