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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.05.2024

Dünkel statt Erkenntnis
Mechtilde Lichnowskys Texte über den Typus des Fachmanns erscheinen in einer neuen Ausgabe

Ohne ihre Experten, Expertendarsteller und Expertendarstellerkritiker wäre die digitale Öffentlichkeit nahezu entvölkert. Denn tatsächlich gab es nie zuvor so viel Fach- und Gegenfachkundiges zu konsumieren und selten so viele Zugänge zum Wissen. In der Corona-Zeit brachten es Virologen kurzzeitig zur Popularität von Popstars. Die ganze Nation hing an ihren Lippen, und die Politik lag ihnen zu Füßen. Dann hatten der Volksgeist und die Talkshow-Redaktionen genug von ihnen. Christian Drosten, eben noch nationaler Seuchenmanager, galt nun als Selbstdarsteller und Hysteriker. Ein neuer, rein privater Expertentypus übernahm die Gesprächsführung: der querdenkende Alternativstudienkenner.

Diesen konspirationsfreudigen Connaisseur im schwergängigen Gelände der Fachwissenschaften gab es noch kaum, als Mechtilde Lichnowsky vor hundert Jahren ihre Anekdoten- und Aphorismensammlung "Der Kampf mit dem Fachmann" veröffentlichte. Dafür sah sich die 1879 als Urururenkelin der Kaiserin Maria Theresia geborene Gräfin von und zu Arco-Zinneberg von einer wachsenden Zahl bürgerlicher Fachidioten (und seltener Fachidiotinnen) umringt, die vor allem um eines nie verlegen waren: eine starke Meinung. In einer Vor- und Zwischenkriegsgesellschaft, die ebenso auf Hierarchien wie auf autoritäre Erziehung getrimmt war, konnte der Fachmann die bürgerliche Lebenswelt erobern wie sonst nur noch der Angestellte.

Der salbadernde, bescheidwissende, ungefragt Ratschläge erteilende Philister war der an Karl Kraus geschulten Gräfin ein Ärgernis. Nicht nur wegen seiner paternalistischen Besserwisserei. Sondern - was viel schwerer zu ertragen war - wegen seines Mangels an Schöpferkraft. "Auf diese Begrenztheit und Armut und auf dieses Missionarsgebahren des Fachmanns, der immer Goethe gegen Schiller und Hunde gegen Kinder ausspielt, weil ihm für alles zusammen der Platz fehlt, kann ich gar nicht eingehen", schreibt Lichnowsky.

Sie tat es in ihren Lebensmaximen dann aber natürlich doch. Ob es der Small Talk einer Partygesellschaft war oder der Besuch bei medizinischen Koryphäen: Lichnowsky fühlt sich gemaßregelt und um ihre Intuitionen betrogen. Und so kreist ein Großteil ihres erst kürzlich im Zsolnay-Verlag neu aufgelegten Werks, das aus mehreren Romanen, Theaterstücken und Essays besteht, um die Dialektik zwischen Experten und Laien, zwischen Kennern und Künstlern und damit notwendig auch zwischen Männern und Frauen. Aus dieser Dialektik bezieht die Gräfin mit "einem Wahn nach Wahrheit" eine kritische Energie, die ihre Bücher nicht nur aus soziologischer, sondern auch aus emanzipatorischer Sicht lesenswert machen. Da der "Fachmann" nicht Eingang in die Gesamtausgabe gefunden hat, kann die Leserin nun also mit diesem Einzelband endlich zur wahren Lichnowsky-Fachfrau werden.

Mit Karl Kraus war die polyglotte Gräfin, die als Diplomatengattin vor dem Ersten Weltkrieg in London lebte, eng befreundet. Jens Malte Fischer, amtierender Kraus-Fachmann, erklärte die Freundschaft der beiden mit Kraus' selbst diagnostizierter "Sehnsucht nach aristokratischem Umgang". Allerdings, schreibt Fischer in seiner Kraus-Biographie, hätte diese Verbindung noch viel mehr zu bieten gehabt. Denn Lichnowskys Blick auf ihre Lebenswelt war unterhaltsam und pointiert.

Wenn Kraus, wie Georg Trakl einmal schrieb, die "kristallne Stimme" hatte, "in der Gottes eisiger Odem wohnt", so war die Stimme der Gräfin eher mit den Göttern ihres jeweiligen Fachs im sportlichen Schlagabtausch. Sie ließ sich in dieser oder jener Hinsicht belehren und betrachtete die Dinge im Übrigen eher nüchtern: "Der Fachmann war dazu auserlesen", schreibt sie, "in seinem leeren Fach das volle Herz der Laien zu beherbergen." Oder: "Der Fachmann unterscheidet streng zwischen Mann, Weib, Kind. Den Menschen hat er ganz vergessen." Und: "Der Fachmann, der Erkenntnis durch Dünkel und Urteil durch Herrschsucht ersetzt, tut es nicht aus Berechnung, sondern triebhaft; nicht aus raffinierter Tücke führt er seine halbwegs gewandte Dialektik, sondern wie der Vogel singt, der in den Zweigen wohnet."

Hier wird klar: Der Fachmann kann nicht anders. Er ist das Gegenteil eines Künstlers, obwohl Lichnowsky ihn als Sänger zeichnet. Vielleicht ist er aber eher so etwas wie ein Kunstpfeifer unter den Paradiesvögeln? Die Kategorien und Metaphern Lichnowskys sind in dieser Hinsicht oft schwammig und widersprüchlich, es dominiert die Zuspitzung des Alltäglichen, das ihr immer wieder als Symptom entgegentritt. Während eines Besuchs beim Lichtbildner, der Lichnowsky mit viel zu dramatischem Effekt in Szene setzt, gibt sie gleichsam eine Wunschästhetik und eine Selbstcharakterisierung an den Fotografen durch: "Ich beanspruche für meinen Kopf - wie übrigens für jeden anderen - die Sachlichkeit, die man einer Steinplastik, einem Toten- oder einem Verbrecherkopf entgegenbringt."

Mit ihrer unbestechlichen "Neuen Sachlichkeit" wollte Lichnowsky ein wahrheitsnahes Gegenbild zur Fachmannkultur schaffen, die mit Fakten nur spiele, diese aber nie in den Dienst der Wahrheit stelle. "Gott möge diese seine Kreaturen alle insgesamt auf eine und dieselbe Wiese führen und sie dort wie Nabuchodonosor weiden lassen, aber unter sicherer Bewachung, damit sie niemals zurückkehren, uns arme Laien mit einer Menschenkenntnis anzuöden, die leider nicht als Menschenunkenntnis und persönlicher Dünkel gebrandmarkt werden kann, weil ein größerer Laie es eben nicht fertig bringt, eines ganz kleinen Fachmanns Selbstbewusstsein und Eifer zu untergraben, was auch nicht gelänge, wenn er die Kraft hätte. Also - wie sich retten?"

Hätte Mechtilde Lichnowsky hundert Jahre später das Heer der Verschwörungstheoretiker, der Trolle und Wahrheitskämpfer im Namen der alternativen Faktenlese kennengelernt, wäre ihr der spießbürgerliche Fachmann vermutlich ein wahrer Freund geworden. KATHARINA TEUTSCH

Mechtilde Lichnowsky: "Der Kampf mit dem Fachmann".

Hrsg. von Hiltrud und Günter Häntzschel. Wallstein Verlag, Göttingen 2024.

270 S., Abb., geb., 26,- Euro.

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