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Die dreizehnjährige Damasa und ihre Geschwister leben in einem heruntergekommenen Haus im düsteren Hafenviertel von Toledo. Ihre vermeintliche Teilnahmslosigkeit verschleiert die glühende und rebellische Natur des Mädchens, das mit zehn Jahren den Schulunterricht ablehnt, sich von der Kirche abwendet und nach dem tragischen Tod seines Bruders auf See Rettung in der Literatur findet. Die dunklen Schriften Damasas, in denen sie versucht, die flüchtigen Visionen ihres Geistes festzuhalten, ziehen uns in eine fesselnde Welt des Unsichtbaren und der Träume, eine »zweite, unwirkliche Realität«. Aus…mehr

Produktbeschreibung
Die dreizehnjährige Damasa und ihre Geschwister leben in einem heruntergekommenen Haus im düsteren Hafenviertel von Toledo. Ihre vermeintliche Teilnahmslosigkeit verschleiert die glühende und rebellische Natur des Mädchens, das mit zehn Jahren den Schulunterricht ablehnt, sich von der Kirche abwendet und nach dem tragischen Tod seines Bruders auf See Rettung in der Literatur findet. Die dunklen Schriften Damasas, in denen sie versucht, die flüchtigen Visionen ihres Geistes festzuhalten, ziehen uns in eine fesselnde Welt des Unsichtbaren und der Träume, eine »zweite, unwirkliche Realität«. Aus dem Geheimnis dieser wundersam lyrischen Seiten entspringt ein Alltag voller Armut und Entbehrungen, während sich am Himmel das Schreckensgespenst des Krieges abzeichnet.
In Der Hafen von Toledo webt Anna Maria Ortese eine eindringlich dichte, traumwandlerische Atmosphäre, die den Roman zu einem unvergesslichen Leseerlebnis macht. 1975 erstmals veröffentlicht, ist das rätselhafte und von einer geheimnisvollen Schönheit erfüllte Buch heute ein Klassiker der modernen Literatur - ein Meisterwerk, das es auch hierzulande unbedingt zu entdecken gilt.
Autorenporträt
Anna Maria Ortese (1914-1998) stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Sie verließ mit fünfzehn Jahren die Schule, entwickelte danach aus eigener Kraft ihr großes literarischen Talent; als Zwanzigjährige veröffentlichte sie ihre ersten Texte. Ihr Werk wurde früh mit literarischen Preisen ausgezeichnet, größere Bekanntheit erreichte sie erst im letzten Jahrzehnt ihres Lebens. Marianne Schneider, in München geboren, ist U¿bersetzerin aus dem Italienischen und Französischen und war an der Europäischen Schule für Literarische Übersetzung in Florenz tätig. In der Friedenauer Presse erschienen U¿bersetzungen von Anna Maria Ortese, Giacomo Leopardi und Alberto Vigevani. 2009 erhielt sie für ihr Lebenswerk den Deutsch-Italienischen Übersetzerpreis. Sie lebt in Florenz. Tiziano Gianotti, 1955 in Mailand geboren, studierte italienische Literatur und figurative Kunst der Moderne. Nach jahrelanger Tätigkeit als Redaktionsberater gründete er 2021 den Verlag Giano Editore. Er ist Verfasser der wöchentlichen literarischen Kolumne »Diario del lettore« in der Tageszeitung Linkiesta.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensentin Christiane Pöhlmann hält sich bedeckt. Sie weiß zwar die durch und durch individuelle Anna Maria Ortese als in jeder Hinsicht "schwierige Schriftstellerin" zu schätzen, aber immer wieder stellt sie ihr Lob unter Vorbehalt. Deutlich macht Pöhlmann, dass diesen Roman nur wird genießen können, wer keine stringente Erzählung erwartet, wer sich an einzelnen Formulierungen erfreuen kann und wer damit klar kommt, dass Ortese aus der Rückschau "keine Umbewertung" ihrer Mussolini-artigen Figur Don Pedro vornimmt, wie Pöhlmann etwas kryptisch andeutet. Ob die Kritikerin die Mischung aus Manierismus und Entgrenzung, die Passionen der Autorin "Anti-Schule, Anti-Kirche, Anti-König" überzeugend oder nervend findet, bleibt ebenfalls offen. Eindeutig positiv wertet sie nur die glänzende Übersetzung Marianne Schneiders.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.05.2023

Menschen wie Naturgewalten
Anna Maria Ortese wurde zu Lebzeiten bewundert und ihre Bücher wurden verrissen. Jetzt erscheint ihr verrätselter Roman
„Der Hafen von Toledo“ zum ersten Mal auf Deutsch. Er ist ein Ereignis
VON MAIKE ALBATH
Der Hafen von Toledo“ ähnelt einem verwinkelten Palazzo mit mehreren Treppenaufgängen, langen Korridoren, endlosen Zimmerfluchten und unvermuteten Hintertüren. Es ist ein ebenso versponnenes wie seltsames Buch, völlig aus der Zeit gefallen und auf seine Weise großartig, mit einem eigentümlichen Glanz behaftet, genau wie sein Schauplatz Toledo, hinter dem sich unverkennbar Neapel verbirgt. Immer wieder regnet es, peitschen Winde durch die elenden Gassen, ist das Meer wild und grau, müssen die Männer auf Schiffe und kehren nicht zurück.
Doch dann bricht plötzlich die Sonne durch, wird das Licht gleißend, taucht jemand auf, der die Kräfte der Heldin bündelt und sie zu neuen Höhenflügen anregt, zu „Berichten“, wie sie ihre lyrischen Erkundungen nennt. Im Kern geht es in diesem schillernden Gebilde, das man kaum einen Roman nennen mag, um die Jahre zwischen 1935 und 1943 und die Zeit des Heranwachsens. Es ist die Geschichte einer Selbsterziehung.
Das Mädchen Damasa, eine verführerische Kindfrau, die abwechselnd Damasina, Dasa, Misa, Toledana, Exclusa oder Figuera heißt, sucht nach seinem Platz in der Welt. Die zeitgeschichtlichen Umstände sind vage und lassen sich nur in Umrissen erahnen: Hinter dem mächtigen „Don Pedro“ lugt Mussolini hervor, die „türkischen Vögel“ sind Kampfflugzeuge, die Teile der Stadt in Schutt und Asche legen, und bei den „Biblischen Vätern“ handelt es sich um die Amerikaner.
Der dickleibige Band der italienischen Schriftstellerin Anna Maria Ortese, 1975 erstmals im Original erschienen und nach kurzer Zeit eingestampft, zehn Jahre später mit einigen Veränderungen neu publiziert und von der italienischen Kritik mit Ratlosigkeit aufgenommen, war in den Augen der Schriftstellerin ihr wichtigstes Werk. Noch in ihrem Todesjahr 1998 erschien eine weitere, korrigierte Neuausgabe. Der Entstehungsprozess sei mühselig gewesen und dauerte von 1969 bis zur Erstveröffentlichung – was aber bei Ortese, die nie etwas termingerecht abgab, immer so war.
Doch niemals, beteuert sie, habe sie sich eines ihrer Bücher so oft wieder vorgenommen, ohne es zu verstehen, es sei auch für sie eine Chiffre. „Es ist nicht wichtig, schöne Bücher zu schreiben“, erklärte Ortese 1986 in einem Interview mit dem Literaturkritiker Nico Orengo, „sondern authentische, in denen man den Klang des Lebens vernimmt. Um zu schreiben, muss man sich entfernen, sich lösen, aus einer Wolke kommen.“
Anna Maria Ortese, für ihr lyrisch-versponnenes Prosadebüt „Angelici dolori“ 1937 übelst verrissen, dann für ihre eigensinnigen Sozialreportagen und Erzählungen bewundert und in ihren späten Jahren für den märchenhaft-fantastischen Roman „Die Klage des Distelfinken“ (1993) gefeiert, schildert in „Der Hafen von Toledo“ ihren ureigenen Weg zur Literatur und entfaltet eine Poetologie des Wundersamen. Dem Leser verlangt dies einiges ab, denn mitunter drehen der hohe Ton und die Feier des Visionären auch ins Leere.
Aber dass der Roman jetzt erstmals auf Deutsch erscheint, und dann noch in der herausragenden Übersetzung der kürzlich verstorbenen Marianne Schneider, nach Sigrid Vagt die zweite, glänzende Übersetzerin Orteses, ist ein Ereignis. Ob ornamental, traumwandlerisch oder drastisch, Schneider überträgt Orteses facettenreiches Italienisch in ein schimmerndes Deutsch.
Anna Maria Ortese stellt jedem Kapitel, wie in einem Roman des 19. Jahrhunderts, einen Zwischentitel mit einer Kurzzusammenfassung voran. Es ist das Hochtönende, das Damasas Prozess der Weltaneignung kennzeichnet, sie besitzt ein mystisches Verhältnis zu den Dingen. Schon als Kind der Schule überdrüssig, durchstreift sie von früh bis spät die Straßen rund um den Hafen. Die Eltern, Apo und Apa genannt, sind kindliche Geschöpfe, verstrickt in ihre eigenen Belange.
Der Vater trägt eine Zeit lang als Zollwärter zum Unterhalt bei, die Mutter versinkt nach dem Tod des ältesten Sohnes Rassa auf See in einer wirren Religiosität. Das Mädchen versieht die Wände ihres Zimmers mit großflächigen Zeichnungen von Indianern. Das Wilde, Ungezähmte wird zur Ressource: „Auf einmal war das Phantasieren kein Spiel. Es war etwas Lebendiges, Wirkliches und Schreckliches“, erklärt die Erzählerin. Sie schreibt erste, ungelenke Gedichte, eingelassen in das Romangeschehen, die sie „Berichte“ nennt und an den Herausgeber einer literarischen Zeitschrift namens D’Orgaz schickt. Er wird zu ihrem „Waffenmeister“, dem ersten Lehrer, der Damasa in die „Ausdruckswelt“ einführt.
Von nun an treten neben die überwältigenden sinnlichen Wahrnehmungen Toledos fremde Menschen, die sie wie Naturgewalten erlebt. Die inzwischen Siebzehnjährige schließt Freundschaften, verliebt sich in einen geheimnisvollen Mann, einen gewissen Lemano, wird schwärmerisch verehrt von einem zarten, blonden Geschöpf ihres Alters, das Belman heißt und ihr flugs den Geliebten ausspannt. Pausenlos werden emphatische Briefe gewechselt, während die Dialoge eher aus Gestammel bestehen und nie den Reichtum der seelischen Geschehnisse vermitteln können.
Damasa schmiedet innere und äußere Erlebnisse weiter in „Berichte“ um, muss schließlich für den Haushalt sorgen, wird Sekretärin und absolviert die Abendschule. Am besten charakterisiert Belman die Weltwahrnehmung der Freundin: „Wie ich weiß, drücken Sie nur Symbole aus, den Rest behalten Sie für sich.“ Obwohl die Bedrohungen zunehmen, Lemano immer wieder untertauchen muss, ein weiterer Bruder eingezogen wird und zu Tode kommt, verschließt sich Damasa den politischen Ereignissen. Als die „länglichen Vögel“ Toledo angreifen, kommt es unter der „Brücke der Morgenröte“ zum finalen Beischlaf mit Lemano. Ihr Elternhaus wird zerbombt, der Abschied von Toledo unausweichlich.
Man kann den Roman als eine poetische Verdichtung von Anna Maria Orteses realem Werdegang lesen: Ihre ersten Gedichte schrieb die 1914 in Rom geborene Autorin tatsächlich in Neapel, wohin sie nach einer unbehausten Kindheit zwischen Apulien, Kampanien und Tripolis mit ihren beständig überforderten Eltern und sechs Geschwistern 1928 zurückgekehrt war. Auch der Tod zweier Brüder entspricht den Tatsachen, ebenso das Alter, in dem sie ihre ersten Texte in der Zeitschrift La fiera letteraria von Corrado Pavolini unterbrachte, genau wie die Notwendigkeit, die Familie zu ernähren.
Anna Maria Ortese war wie ihre Heldin Damasa eine militante Autodidaktin ohne jede systematische Bildung. Die innigen Freundschaften und Verwerfungen in Neapel, wo sie zu den Begründern der einflussreichen Literaturzeitschrift Sud gehörte, hat es ebenfalls gegeben, und der Zwist war so groß, dass sich Ortese gezwungen sah, aus Neapel fortzugehen. „Diese Stadt fraß mir das Herz auf“, lässt die Autorin ihre Heldin in „Der Hafen von Toledo“ verlauten, aber tatsächlich blieb Neapel das Zentrum ihres Schaffens, auch als sie sich längst gemeinsam mit ihrer älteren Schwester Maria, die der Jüngeren mit ihrer Stelle bei der Post eine armselige Existenz als freie Schriftstellerin ermöglichte, in Rapallo niedergelassen hatte. Von Altersarmut bedroht, kam der ewig unter prekären Umständen lebenden Autorin 1985 das für Künstler erlassene Bacchelli-Gesetz zu Hilfe und verschaffte ihr ein bescheidenes Auskommen.
„Falsch wird das Leben, wenn wir erwachsen werden“, lässt Damasa an einer Stelle verlauten, aber im „Hafen von Toledo“ geht es um mehr als nur um das Besingen der Kindheit und der Liebe. Mitten in der 1970er-Jahren setzte Anna Maria Ortese der zeitgenössischen Literatur etwas Ureigenes entgegen und wollte weder von den neoavantgardistischen, experimentellen Strömungen noch von der allgemeinen Politisierung etwas wissen. Jede Art von Fortschrittsglauben war ihr zutiefst suspekt.
Der zentrale Bezugspunkt blieben für sie die Romantik und Giacomo Leopardi mit seiner materialistischen Philosophie, vor allem seine Deutung der Natur als eine alles zermalmende Kraft, die gar nicht für den Menschen geschaffen ist. Ein Refugium bietet nur das Fantastische, der Traum, der als einziger „ein Quäntchen Wirklichkeit“ enthält, wie Damasa weiß. Und wo anders als in Neapel-Toledo ließe sich dies besser erkunden?
Ortese war wie ihre Romanheldin
eine militante Autodidaktin
ohne jede systematische Bildung
„Es ist nicht wichtig, schöne Bücher zu schreiben“, erklärte Ortese 1986 in einem Interview, „sondern authentische, in denen man den Klang des Lebens vernimmt.“
Foto: Dude Mag
Anna Maria Ortese, Der Hafen von Toledo. Aus dem Italienischen übersetzt von Marianne Schneider. Mit einem Vorwort von Tiziano Gianotti. Friedenauer Presse Berlin, 730 Seiten, 34 Euro.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 05.07.2023

Die Normalität ist eine große Lüge

Niemandstochter aus dem Prekariat: Anna Maria Orteses großer Roman "Der Hafen von Toledo" verweigert sich der Realität und feiert die Entgrenzung.

Warnungen gehören heute zum gepflegten Ton einer Lektüreeinladung. Also: "Neapel liegt nicht am Meer" ist kein Training für den "Hafen von Toledo". Für ihre Porträts und Sozialreportagen aus dem "Neapel"-Band erhielt Anna Maria Ortese 1953 den Premio Viareggio. In den einzelnen Beiträgen zeigt sie sich als sensible Erzählerin und aufmerksame Verfasserin von Sozialreportagen. Im Kerntext nimmt sie sich die literarische Szene Neapels vor - und das führt zu dem Stichwort, das schnell fällt, wenn von dieser Autorin die Rede ist: schwierig.

Ortese galt Verlagen als schwierige Partnerin: Feste Termine hielt sie für lose Verabredungen, sie überarbeitete bis zuletzt, und auch um ihre Loyalität schien es nicht immer zum Besten bestellt, sodass am Ende der eine Verlag erhielt, was dem anderen zugesichert worden war. In die Kreise der Nachkriegsliteratur wollte sich die eingefleischte Individualistin nicht einfügen. Ihr Generalverdacht: Diese Literatur diene sich dem Marxismus an. Durch ihre Abrechnung mit dem literarischen Neapel hatte sie es sich obendrein mit allen verscherzt und sah sich genötigt, die Stadt zu verlassen. Sie ging erst nach Mailand, dann nach Rapallo. wo sie bis zu ihrem Tod 1998 lebte.

"Schwierig" ist aber auch zu hören, wenn es um Orteses Hauptwerk geht, den "Hafen von Toledo". Sie selbst räumt das ein. "Als Toledo fertig war, erschien es versiegelt, chiffriert, zugleich unbesonnen und chaotisch, mir selbst verschlossen." Thematisiert wird eine "große Verneinung des Wirklichen", denn "heute war dieses Wirkliche alles". Ihm setzt sie ihre Innenwelt entgegen, die geprägt war von "Stille, Einsamkeit, öder Verlassenheit", Elementen also, die sich gut nachempfinden, aber als solche kaum interpretieren lassen.

Die Ich-Erzählerin, die - unter anderem - Dasa heißt, nennt sich "niemands Tochter" und wächst in prekären Verhältnissen auf. Die frühen Sozialreportagen Orteses sowie der schiere Umfang des Romans könnten ein kritisches Werk, ein "J'accuse" vermuten lassen, doch diese Leseerwartung unterläuft die Autorin: Mit Beginn der Pubertät verweigert sich Dasa zunehmend der Realität, sie frönt den Passionen "Anti-Schule, Anti-Kirche, Anti-König", denn die "alte Natur der Dinge passte mir nicht. Ich erfand daher ein Ich, das einen Nachtrag zur Welt wollte, das gegen die optimale Planung des Lebens aufschrie. Das in der Normalität nur Lüge sah." Ihr Antidot werden Malerei und Literatur, vor allem ihre "Ausdruckswerke". Bei diesen Texten handelt es sich um Jugendwerke Orteses, die sie organisch in ihre "Erinnerungen an ein unwirkliches Leben" integriert, dies der Untertitel des Romans - und wer dieses antiautofiktionale Statement nicht zu würdigen weiß, wird das Buch vermutlich kaum genießen können.

Ein Bruder stirbt, der Vater kündigt, ausgerechnet die große Verweigerin Dasa muss die Familie über Wasser halten. Sie reicht erste literarische Texte ein, arbeitet als Sekretärin, stellt sich ihrem erotischen Begehren, aber weniger den politischen Entwicklungen unter Mussolini, der hier als Don Pedro auftritt. Die Verweigerung der Autorin geht so weit, dass sie auch aus der Rückschau keine Umbewertung Don Pedros vornimmt, auch dies sicher eine Herausforderung.

Schon gar nicht mehr so schwierig sieht die Sache aus, wenn die Lektüre unter völlig anderem Vorzeichen begonnen wird. Ortese webt in ihren Text sehr feine Bezüge ein, vor allem auf El Greco - seinen "Blick auf Toledo" - und dessen Freund, den Dichter Luis de Góngora. In der glänzenden Übersetzung Marianne Schneiders, die Anfang des Jahres verstorben ist, liest sich dies wie eine Mischung aus romantischem Gedicht und heideggerscher Philosophie. Ortese stellt sich in eine Tradition des Manierismus und der Entgrenzung. Die Verweigerung ihrer Protagonistin ist nicht die eines Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel" und seines eingestellten Wachstums. Dasa verweigert sich, indem sie sich in der Kunst behaust. Sie sucht wie Góngora die überraschenden Bilder. Und ist bei Franz Marc das Pferd blau, so ist ihr Himmel "Mut-Blau". Wie El Greco mischt sie "an der neuen Farbe der Luft, jenem Graurosa, Aschrosa, das seit Kurzem das Trauerschwarz des Vizekönigreichs ersetzt hatte".

Wenn sie gegen den Strich der Erwartungen schreibt, wenn sie überraschen will, dann kann das erklärte Ziel einer Lektüre nur sein, sich von ihr überraschen zu lassen. Fehlt diese Bereitwilligkeit, wird man dem Text kaum etwas abgewinnen können. Ist sie vorhanden, kann man sprachliche Wendungen genießen und am Ende natürlich auch hinreichend Stoff zum Nachdenken finden. Von Selbstoptimierung bis hin zur vielleicht evidentesten Thematik - wie viel Individualismus verträgt eine Gesellschaft - lässt sich mancherlei durchdenken.

Aber eben ohne Spurvorgabe. Die Analyse umgarnen einzelne Formulierungen: "Wind aus Südwesten, Wind offenen Regens, frischer und weicher Wind, der mich wie kein anderer an mein vierzehntes Jahr erinnert" und freie Assoziationen, die womöglich als überlegen angedacht sind. Die Ich-Erzählerin selbst hält fest: "Trotzdem fasste ich Mut; und aus der zusammengewürfelten Sprache eines Volkes, beherrscht von einer ihm fremden Gegenwart und von einer noch fremderen Zukunft, bastelte ich mir eine Feder, so gut es ging: ein buntscheckiges, zitteriges, bäurisches Stöckchen, das, da gleichzeitig in die dunkle Gegenwart eingetaucht, auch ziemlich leer und düster war. Ja, mitunter ließ es düstere Töne hören."

Von diesem Stöckchen ist es nicht mehr weit zu Eichendorffs "Wünschelrute". Ortese hat vielleicht das Lied gestaltet, das in den Dingen schläft. Mit aller Radikalität. CHRISTIANE PÖHLMANN

Anna Maria Ortese: "Der Hafen von Toledo".

Aus dem Italienischen von Marianne Schneider. Friedenauer Presse, Berlin 2023. 729 S., geb., 34,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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