Produktdetails
  • Verlag: Hanser, Carl
  • ISBN-13: 9783446198562
  • ISBN-10: 3446198563
  • Artikelnr.: 08537573
Autorenporträt
Inger Christensen, geboren 1935, lebt in Kopenhagen. Für ihr Werk hat sie u.a. den Münsteraner Lyrik-Preis und den Lyrik-Preis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste erhalten. Ihr poetisches Werk ist in der Übersetzung von Hanns Grössel im Verlag Kleinheinrich in Münster erschienen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.05.2000

Die Welt als Gedicht zu erhalten
Inger Christensens Essaykunst und die Weisheit des „Gedichts vom Tod”
In ihrem Essay „Der naive Leser” berichtet die dänische Schriftstellerin Inger Christensen, wie sie bei der Arbeit an Gedichten bisweilen so tut, als schriebe die Sprache selber, als verbänden sich die Wörter ohne ihr Dazutun mit den Dingen. „So dass”, folgert sie, „der Welt möglich wird, Sinn in sich selbst zu finden. Einen Sinn, der vorher schon da ist”.
An anderer Stelle spricht sie von einem Zustand „abwesender Anwesenheit”. Es ist der Moment poetischer Arbeit, in dem das Sprachmaterial nach Art des Sonnenblumenkerns, aus dem die Sonnenblume hervorgeht, Eigenleben entwickelt und den Produktionsprozess aus sich selbst heraus vorantreibt. „Und obwohl es vielleicht nur eine Illusion ist”, schreibt sie, erlebt der Künstler ihn als rauschhaften Augenblick, in dem das Schreiben mit dem Leben zusammen zu fallen scheint. Was sie zunächst als bloßen Zeitvertreib hinstellt, die Zusammenarbeit mit dem Formlos-Zufälligen, ist dem Schritt über die letzte Leiterstufe ins Leere vergleichbar, als welchen der amerikanische Maler Barnett Newman den Punkt der Grenzüberschreitung im Kunstakt beschrieben hat.
Es ist der Aufbruch aus dem Vorhandenen ins Mögliche, aus dem Gesagten ins Ungesagte. Im Prinzip unterscheidet sich der Künstler in der Phase des Absprungs von dem Wissenschaftler nicht, der mit Hilfe von Fragen, die das gesicherte Wissen überschreitet, ins Ungedachte vordringt und in theoretischer Form die Antwort entwirft, die im Labor auf ihre Wahrheit überprüft wird. Beide versuchen, mit den Worten Inger Christensens, die „Unlesbarkeit der Welt” in Lesbarkeit zu verwandeln. Sie verschieben die Grenze zwischen Sinn und Nichtsinn. Die „Naivität”, von der sie spricht, besteht in der Illusion des Augenblicks, wo das künstlerische Unterfangen die Grenze zwischen Natur und Bewusstseinswelt zu überwinden scheint.
Dass „Dichters Worte/um des Paradieses Pforte/immer leise klopfend schweben” würde sie wohl bestreiten. In Goethes Versen ist vom Vertriebenenstatus der Wörter die Rede, die der ursprünglichen Einheit von Mensch und Schöpfung im Paradies verlustig gegangen sind. Inger Christensens Naturbegriff hingegen deckt sich mit dem der Naturwissenschaften. Nichts liegt ihr ferner als das Naturgefühl moderner Zeiten, das eine idealische Natur erfindet, um die menschliche Entfremdung beklagen, den Traum von der Versöhnung erfinden und in Nachrufen unentwegt Abschied nehmen zu können. Wir müssen anfangen, sagt sie, „nach innen statt nach vorne oder zurückzuträumen”, denn Natur ist nirgendwo anders.
Lockende Zahlen
Natur ist, worin wir leben. Aber wir tun so, als sei unsere Lebenswelt die ganze Welt, auf Kosten der Natur. Zu unseren Opfern rechnet sie die Zahlen, die wir in ihrer Bedeutung als „universale Offenbarung” verkennen, weil sie von uns weg in die nichtmenschliche Welt führen. Zu den Schönheiten, die dort locken, legt sie Fährten, mit Hinweisen auf die Wahrscheinlichkeitstheorie, die fraktale Geometrie, die Quantenmechanik und die Superstring-Theorie, die eine zeitgenössische Variante des alten Traums von der Weltformel ist.
Die Poesie, sagt sie, ist eine Erkenntnisform wie die Mathematik. In ihrem Essay „Der Schatten der Wahrheit” deutet sie Prometheus als eine an die Naturhaftigkeit ihres Gehirns gefesselte Existenz, ein Mensch im Zwiespalt von Leben und Wissen, der Unsterblichkeit denken, aber nicht erleben kann. Das „Bild von einer menschlich großartigen Ohnmacht” entnimmt sie dem Werk William Blakes.
In exemplarischer Weise führt der Essay „Die Seide, der Raum, die Sprache, das Herz” das phantastische Zusammenspiel von Spiritualität und Rationalität vor, das für die Autorin charakteristisch ist. Das Verhältnis von Welt und Sprache fasst sie an dieser Stelle in das Bild der Möbiusschleife, bei der die Außen- und die Innenseite ineinander übergehen, so dass ein endloser Vorgang mit Mitteln des Endlichen dargestellt wird. Die Welt und die Sprache sind Wirklichkeitsstufen. Sie übersetzen sich ineinander, so dass die Welt im Wort als „Bewusstsein ihrer selbst” noch einmal entsteht. Die Wörter verrichten ihre Arbeit, „die Welt als Gedicht zu erhalten”. Die Kunst ist wie unsere Kultur überhaupt eine Form der Natur. Die Dinge benennen, heißt deshalb in ihrem Fall, dem „sprachlichen Naturgegenstand” auf die Spur zu kommen. Man könnte sagen, Poesie erstrebt die Auflösung des begrifflichen Wort-Ding-Verhältnisses und die Wiedereinsetzung dessen, was sie mit Novalis als „Geheimniszustand” bezeichnet. Dem Platonismus, der in dem Gedanken steckt, verleiht sie in ihrem grundlegenden Essay über den Zufall mit dem Begriff „Wiedererkennungsbild” Ausdruck.
Dort spricht sie von der „ordnenden Wirkung” des Zufalls. Sie versteht den Zufall als eine Erscheinung, deren Gesetzlichkeit uns so unerfahrbar ist wie die Quantensprünge, unscharfen Prozesse, Verzweigungskatastrophen und Rückkoppelungszyklen, die Elementarvorgänge unseres Alltags regeln, Erbvorgänge, den Übergang von Wasser in Dampf, das Beschlagen von Fensterscheiben. Uns fehlen für ihren Empfang die Sinne. Darum bekämpfen wir den Zufall mit unseren Ordnungs- und Sinnentwürfen.
Für die Schriftstellerin, die in der Eigendynamik der Wörter sein Wirken erkennt, erschlösse sich der Zufall in den „Zwischenräumen zwischen unseren Sinnen”. Die bildnerische Darstellung einer Welt, für die unser Sinnesspektrum nicht ausreicht, findet sie im „Schwarzen Quadrat” von Malewitsch, das die Farbe verschließt, und in Magrittes „Reich der Lichter”, einem Nachtbild unter helllichtem Himmel. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ist leicht denkbar, aber für unsere Sinne ein Paradox.
Einige dieser Sperrzonen benennt die Autorin, neben dem Zufall das Paradies und das „Ende der Welt”, das sie überall findet, wo das, was ist, in nichts übergeht. Das Paradies enthält in der italienischen Fassung paradiso das Anagramm diaspora. Demnach hätten wir das Paradies in die Diaspora mitgenommen, und das Jenseits verstecke sich im Diesseits. Im „Geheimniszustand” der Wörter ist ein Zipfel davon erhalten: die Einheit von innerer und äußerer Welt.
Wörter sammeln
Die 65-jährige, in Kopenhagen lebende Dichterin, die auch bei uns großes Ansehen genießt, ist in einem ganz neuen fundamentalen Sinn Mimetikerin. Die Entstehung ihres Großgedichtes Alphabet beschreibt sie als Sammeln von Wörtern, vor allem von Substantiven. Für die Ordnung der Wortdinge, die den ordnenden Prinzipien der Natur zum Ausdruck verhelfen soll, sinnlich unzugänglichen Krafteinwirkungen, atmosphärischen Spannungen, magnetischen Ladungen, sorgt eine gewissermaßen natürliche Grammatik, die Fibonacci-Reihe, eine mathematische Wachstumsformel. Im Sonettenkranz Das Schmetterlingstal ist es die gattungsspezifische lyrische Formel, in brief im april nach musikalischem Vorbild die symmetrische Permutation einer Reihe.
Die Essays sind in den Jahren zwischen 1989 und 1994 durchweg als Auftragsarbeiten entstanden. Vorangestellt ist ihnen das in seiner Balance zwischen Sinngewichten und Leichtflüssigkeit beispielhafte Gedicht vom Tod, eine große Lebensfeier (im Original vermutlich in Oden), die das Hohelied einer „sterbliche(n) Form von Unsterblichkeit” singt. Dem Übersetzer Hanns Grössel ist eine deutsche Fassung zu danken, die das Kunststück fertigbringt, das Licht, in dem Inger Christensen schreibt – ihre schöne Klarheit –, zu bewahren.
SIBYLLE CRAMER
INGER CHRISTENSEN: Der Geheimniszustand und das „Gedicht vom Tod”. Essays. Aus dem Dänischen von Hanns Grössel. Edition Akzente, Hanser Verlag, München 2000. 135 S. , 29,80 Mark.
Poesie ist eine Erkenntnisform wie Mathematik, sagt die Dichterin Inger Christensen.
Foto: Anita Schiffer-Fuchs
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension

Michael Braun berichtet zunächst so emphatisch vom "leisen Sehnsuchtston" in der Stimme der dänischen Lyrikerin, daß man um seinen Gesundheitszustand fürchten muß. Dann beschreibt er umständlich das poetische Werk der Dichterin, die er als die "formbewußteste und reflektierteste Lyrikerin der europäischen Gegenwartspoesie" bezeichnet. Erst sehr spät wird klar, daß seine Rezension eigentlich einen Essayband Inger Christensens betrifft, der ihre verstreuten und nur schwer zugänglichen theoretischen Arbeiten der letzten Jahre zusammenfasst. Diese Texte erhellen für den Rezensenten noch einmal das Fundament des "romantischen Weltgebäudes" und zentrale Denkfiguren dieser Dichterin, bevor er sich wieder der Interpretation ihrer Lyrik zuwendet.

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