Michael Ondaatje
Broschiertes Buch
Der englische Patient
Ausgezeichnet mit dem Booker Prize 1992. Roman
Versandkostenfrei!
Nicht lieferbar
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs treffen in einer zerbombten Villa in der Nähe von Florenz vier Menschen unterschiedlicher Nationalität zusammen, zwischen denen ein eigenartiges Beziehungsgeflecht entsteht. Jeder der vier, drei Männer und eine Frau, sie ist Krankenschwester, erfindet sich eine eigene Welt. Doch im Laufe der Zeit offenbart sich ihr Innenleben und ihre wahre Geschichte. Die Zeit scheint in Michael Ondaatjes Roman aufgehoben, und doch erzählt er vom Ende der alten und dem Entstehen einer neuen Welt.
Michael Ondaatje wurde 1943 in Sri Lanka geboren, ist holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung und lebt heute in Kanada. Seit 1971 unterrichtet er am Glendon College der York University (Toronto) Gegenwartsliteratur. Seine Bücher wurden mehrfach mit dem höchsten Kanadischen Literaturpreis ausgezeichnet, und für seinen Roman "Der englische Patient" erhielt er 1992 den Booker-Preis.
Produktdetails
- dtv Taschenbücher Bd.12131
- Verlag: DTV
- 1996.
- Deutsch
- Abmessung: 18mm x 120mm x 190mm
- Gewicht: 277g
- ISBN-13: 9783423121316
- ISBN-10: 3423121319
- Artikelnr.: 05977432
Herstellerkennzeichnung
Die Herstellerinformationen sind derzeit nicht verfügbar.
Helden des Vormarschs
Englische und andere Patienten: Über Michael Ondaatje
Das Verhältnis zwischen einem Roman und seiner Verfilmung läßt sich ästhetisch, medientheoretisch, kulturkritisch oder misanthropisch abhandeln. Am deutlichsten aber drückt es sich ökonomisch aus: Rund 40000 Exemplare verkaufte der Hanser Verlag von Michael Ondaatjes Roman "Der englische Patient" von der Veröffentlichung im Herbst 1993 bis zum Start des gleichnamigen Films von Anthony Minghella im Februar 1997. Vierzigtausend Stück in mehr als drei Jahren, das ist kein Bestseller, aber für gute Literatur ziemlich ordentlich.
Dann kam der Film. Die Bilder des romantischen Wüstendramas prägen seit Wochen das Straßenbild. In Amerika
Englische und andere Patienten: Über Michael Ondaatje
Das Verhältnis zwischen einem Roman und seiner Verfilmung läßt sich ästhetisch, medientheoretisch, kulturkritisch oder misanthropisch abhandeln. Am deutlichsten aber drückt es sich ökonomisch aus: Rund 40000 Exemplare verkaufte der Hanser Verlag von Michael Ondaatjes Roman "Der englische Patient" von der Veröffentlichung im Herbst 1993 bis zum Start des gleichnamigen Films von Anthony Minghella im Februar 1997. Vierzigtausend Stück in mehr als drei Jahren, das ist kein Bestseller, aber für gute Literatur ziemlich ordentlich.
Dann kam der Film. Die Bilder des romantischen Wüstendramas prägen seit Wochen das Straßenbild. In Amerika
Mehr anzeigen
hatte es begeisterte Kritiken gegeben, in Berlin bekam Juliette Binoche für ihre Rolle einen Silbernen Bären, vorletzten Monat kamen neun Oscars dazu, und innerhalb weniger Wochen waren weitere hunderttausend Stück der gebundenen Ausgabe verkauft. Pünktlich zum Filmstart erschien der Roman bei dtv, und die Farben auf dem Cover signalisieren: "Vom Wüstenwind verweht". Binnen kurzem war der Verkauf des Paperbacks auf über 200000 Stück geklettert. Auch in anderen europäischen Ländern steht Ondaatjes Roman wieder auf der Bestsellerliste.
Was hier mit der Taschenbuchausgabe geschehen ist, heißt im Branchenjargon "movie tie-in". Die Wortschöpfung verrät, wo die Prioritäten liegen. Dabei spielt das ästhetische Verhältnis von Vorlage und Verfilmung erst einmal keine Rolle; das gedruckte Wort ist Material, brauchbar nur als Knetmasse in den Händen des Regisseurs. Gleichgültig ist also auch, ob es sich beim Buch um ein nachträglich zusammengeschustertes Auftragswerk handelt, eine sogenannte "novelization", die das Drehbuch in die Sprache von Gebrauchsanweisungen zurückübersetzt, oder um einen möglicherweise sperrigen Originaltext, der dem Drehbuch ursprünglich zugrunde lag.
Der Roman "Der englische Patient" des 1943 geborenen Michael Ondaatje ist allerdings ein Sonderfall. Die Bücher dieses Autors holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung, der in England zur Schule ging und mit neunzehn Jahren nach Kanada zog, wo er heute Literatur lehrt, galten bisher nämlich als unverfilmbar. Der Grund ist, daß sie selbst so erkennbar "filmisch" operieren: Sie zerlegen die Story in Kleinteile, in gefrorene Bilder und zum Grübeln einladende snapshots. Ondaatje bevorzugt kurze Absätze, schnelle Szenenwechsel, das sprachliche Äquivalent von fade-ins und fade-outs. Daß er nebenbei Gedichte schreibt, merkt man seinen Romanen an. Denn auch in der langen Form denkt er lyrisch und gibt der Zeichnung des Augenblicks immer Vorrang vor dem dicken Stift, der die Handlungslinien zieht. Das Sitten- oder Historiengemälde im Stil des neunzehnten Jahrhunderts, das in den Büchern der letzten Jahre wieder Konjunktur hat, wäre bei Ondaatje undenkbar.
Das ist bemerkenswert, weil sich jeder seiner drei Romane (von denen der erste überhaupt keine Gattungsbezeichnung trägt) auf zahlreiche historische Werke und stattliches dokumentarisches Material beruft. Ondaatjes frühestes Erzählwerk (davor liegt manches an Lyrik sowie der lyrisch-erzählerische Band "The Collected Works of Billy the Kid") trägt den rätselhaften Titel "Coming through Slaughter" (1976), den die deutsche Fassung von 1995 mit "Buddy Boldens Blues" unnötig verdeutlicht. Gestützt auf die Erinnerung von Zeitgenossen, auf Memoiren und Fotos, erzählt und imaginiert Ondaatje das Leben des Kornettisten Charles "Buddy" Bolden, eines Gründervaters des Jazz, der in seiner kurzen Karriere in New Orleans mehrere Bands ins Leben rief und 1907, das Kornett in der Hand, bei einem Umzug zusammenbrach. Den Rest seines Lebens verbrachte Bolden, als Paranoiker geführt, im East Louisiana State Hospital, wo er 1931 starb.
"Coming through Slaughter" ist ein Dokumentarroman, die freie Deutung einer Künstlerexistenz, von der es kaum noch verläßliche Spuren gibt. Die wichtigste Spur führt ins Nichts: Buddy Bolden, der berühmteste Jazzmusiker seiner Zeit, hat in seinem ganzen Leben keine einzige Schallplatte aufgenommen. Er arbeitete als Friseur, sammelte Klatschgeschichten für die Lokalzeitung und spielte seine Musik bei Familienfesten, Hochzeiten und Todesfällen. Ondaatje interpretiert Boldens Kornettspiel als Suche nach Kontrollverlust und Entgrenzung. Wie Kunst und Wahnsinn bei seiner Figur, so laufen beim Autor Fiktion und Faktentreue wie Wasserfarben ineinander.
Ondaatjes nächster Roman, "In der Haut eines Löwen" (In the Skin of a Lion, deutsch 1990), hängt so eng mit dem "Englischen Patienten" zusammen, daß man sich wundert, warum niemand darauf hingewiesen hat. Caravaggio, der kunstfertige Dieb, der im "Englischen Patienten" seine Spionagedienste mit dem Verlust beider Daumen bezahlt, hat hier seinen ersten Auftritt. Zu den Protagonisten zählt auch der Sprengstoffexperte Patrick Lewis, der Vater der kanadischen Krankenschwester Hana, die die letzten Monate des "englischen Patienten" in der Toskana begleitet. Tatsächlich erzählt Ondaatje in dem Roman die unmittelbare kanadische Vorgeschichte einiger Figuren zwischen 1900 und 1938. Zusammen gelesen, geben die beiden Romane ihre Bezüge preis: "In der Haut eines Löwen" schildert die Industrialisierung Kanadas als Geschichte einer gewaltigen Assimilationsleistung der Einwanderer und Zugezogenen, der Bauarbeiter, Brückenbauer und Teerkocher. Es sind Helden des Vormarschs, denen der Roman durch teils anrührende, teils bizarre Legenden ein Denkmal setzt. Im "Englischen Patienten" hat der Krieg die Figuren ihren Heimatländern wieder entrissen und wahllos über zwei Kontinente verstreut.
Gemeinsam ist den Büchern, daß sie versuchen, die Fetzen privater Geschichte vor der Fliehkraft der "großen" Geschichte in Sicherheit zu bringen. In beiden Romanen werden Bücher, Botschaften und Zettelchen herumgeschleppt und durch alle Kalamitäten hindurch bewahrt. Ondaatjes Epiphanien finden statt, wenn einer dem anderen im Halbdunkel aus den Briefen Joseph Conrads vorliest oder Herodot rezitiert. Die Dialoge selbst, früher von knöcherner Strenge, heute mit einem Hang zum Weihevollen, wirken wie Teile eines Chors; wer immer auch nach vorn tritt, um die Stimme zu erheben, die Anwesenheit schweigender Sprecher dicht dahinter bleibt spürbar.
Wegen seiner komplizierten Struktur ist Ondaatjes "Englischer Patient" eine schwierige Vorlage. Ein Buch, das von Krieg und Zerstörung erzählt, von Spionage und Gegenspionage, Loyalität, Liebe, Eifersucht und Verrat, Wildnis und Zivilisation, vom Entziffern der Landschaften, der Winde, der Körper, der Lettern und der Bomben, klingt nach dem Albtraum eines Regisseurs. Wer einen Film daraus machen will, muß den Roman zertrümmern und mit Hilfe einer analogen Technik neu zusammensetzen. Genau das hat Anthony Minghella getan, und es zahlt sich aus, daß er als Autor und Dramatiker mindestens so erfahren ist wie als Regisseur. Ein halbes Jahr vor Fertigstellung hatte er aus dem überbordenden Handlungsmaterial einen Film von vier Stunden und siebzehn Minuten destilliert; am Ende waren es zwei Stunden und fünfundvierzig. Zwar entspricht die Zahl der Szenenwechsel in der fertigen Version genau der Zahl im Drehbuch; doch kaum ein Szenenwechsel blieb an der geplanten Stelle. So ähnelt auch die Entstehung des Films der literarischen Montagetechnik Ondaatjes.
Ob die Liebesgeschichte, die es in dieser Gefräßigkeit nur auf der Leinwand gibt, wirklich an "Casablanca" herankommt, werden Kinobesucher in dreißig Jahren vielleicht eher beurteilen können. Schon jetzt wissen wir von Frederick Forsyth, daß die Romantik des "Englischen Patienten" sachliche Fehler und haarsträubende Inkonsistenzen geradezu voraussetzt. In seiner Polemik im "Spectator" listet Forsyth die Irrtümer der Verfilmung mit buchhalterischer Genauigkeit auf, angefangen vom Flugzeugtyp "Tiger Moth", der nie in El Alamein zum Einsatz gekommen sei, bis zu dem befremdlichen Umstand, daß die Beduinen den abgeschossenen Flieger in der Wüste nicht nur am Leben lassen, sondern ihm auch noch sein Lieblingsbuch hinterhertragen.
Der Roman gibt dafür eine einleuchtende Erklärung. Der Film - so kurz sind zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten - kann sich keine Erklärungen leisten. Doch verrät selbst dieser Mangel eine gewisse Treue zu Michael Ondaatje, der in all seinen Büchern einschließlich seiner Autobiographie gezeigt hat, daß es ihm weniger auf nachprüfbare Fakten ankommt als auf poetische Verzerrung. Hier darf der Dichter alles. Frederick Forsyth, der Haudegen des politischen Thrillers, steht unterdessen da und wirbt für eine altmodische Idee: nichts außer der Wirklichkeit für wirklich zu halten. PAUL INGENDAAY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was hier mit der Taschenbuchausgabe geschehen ist, heißt im Branchenjargon "movie tie-in". Die Wortschöpfung verrät, wo die Prioritäten liegen. Dabei spielt das ästhetische Verhältnis von Vorlage und Verfilmung erst einmal keine Rolle; das gedruckte Wort ist Material, brauchbar nur als Knetmasse in den Händen des Regisseurs. Gleichgültig ist also auch, ob es sich beim Buch um ein nachträglich zusammengeschustertes Auftragswerk handelt, eine sogenannte "novelization", die das Drehbuch in die Sprache von Gebrauchsanweisungen zurückübersetzt, oder um einen möglicherweise sperrigen Originaltext, der dem Drehbuch ursprünglich zugrunde lag.
Der Roman "Der englische Patient" des 1943 geborenen Michael Ondaatje ist allerdings ein Sonderfall. Die Bücher dieses Autors holländisch-tamilisch-singhalesischer Abstammung, der in England zur Schule ging und mit neunzehn Jahren nach Kanada zog, wo er heute Literatur lehrt, galten bisher nämlich als unverfilmbar. Der Grund ist, daß sie selbst so erkennbar "filmisch" operieren: Sie zerlegen die Story in Kleinteile, in gefrorene Bilder und zum Grübeln einladende snapshots. Ondaatje bevorzugt kurze Absätze, schnelle Szenenwechsel, das sprachliche Äquivalent von fade-ins und fade-outs. Daß er nebenbei Gedichte schreibt, merkt man seinen Romanen an. Denn auch in der langen Form denkt er lyrisch und gibt der Zeichnung des Augenblicks immer Vorrang vor dem dicken Stift, der die Handlungslinien zieht. Das Sitten- oder Historiengemälde im Stil des neunzehnten Jahrhunderts, das in den Büchern der letzten Jahre wieder Konjunktur hat, wäre bei Ondaatje undenkbar.
Das ist bemerkenswert, weil sich jeder seiner drei Romane (von denen der erste überhaupt keine Gattungsbezeichnung trägt) auf zahlreiche historische Werke und stattliches dokumentarisches Material beruft. Ondaatjes frühestes Erzählwerk (davor liegt manches an Lyrik sowie der lyrisch-erzählerische Band "The Collected Works of Billy the Kid") trägt den rätselhaften Titel "Coming through Slaughter" (1976), den die deutsche Fassung von 1995 mit "Buddy Boldens Blues" unnötig verdeutlicht. Gestützt auf die Erinnerung von Zeitgenossen, auf Memoiren und Fotos, erzählt und imaginiert Ondaatje das Leben des Kornettisten Charles "Buddy" Bolden, eines Gründervaters des Jazz, der in seiner kurzen Karriere in New Orleans mehrere Bands ins Leben rief und 1907, das Kornett in der Hand, bei einem Umzug zusammenbrach. Den Rest seines Lebens verbrachte Bolden, als Paranoiker geführt, im East Louisiana State Hospital, wo er 1931 starb.
"Coming through Slaughter" ist ein Dokumentarroman, die freie Deutung einer Künstlerexistenz, von der es kaum noch verläßliche Spuren gibt. Die wichtigste Spur führt ins Nichts: Buddy Bolden, der berühmteste Jazzmusiker seiner Zeit, hat in seinem ganzen Leben keine einzige Schallplatte aufgenommen. Er arbeitete als Friseur, sammelte Klatschgeschichten für die Lokalzeitung und spielte seine Musik bei Familienfesten, Hochzeiten und Todesfällen. Ondaatje interpretiert Boldens Kornettspiel als Suche nach Kontrollverlust und Entgrenzung. Wie Kunst und Wahnsinn bei seiner Figur, so laufen beim Autor Fiktion und Faktentreue wie Wasserfarben ineinander.
Ondaatjes nächster Roman, "In der Haut eines Löwen" (In the Skin of a Lion, deutsch 1990), hängt so eng mit dem "Englischen Patienten" zusammen, daß man sich wundert, warum niemand darauf hingewiesen hat. Caravaggio, der kunstfertige Dieb, der im "Englischen Patienten" seine Spionagedienste mit dem Verlust beider Daumen bezahlt, hat hier seinen ersten Auftritt. Zu den Protagonisten zählt auch der Sprengstoffexperte Patrick Lewis, der Vater der kanadischen Krankenschwester Hana, die die letzten Monate des "englischen Patienten" in der Toskana begleitet. Tatsächlich erzählt Ondaatje in dem Roman die unmittelbare kanadische Vorgeschichte einiger Figuren zwischen 1900 und 1938. Zusammen gelesen, geben die beiden Romane ihre Bezüge preis: "In der Haut eines Löwen" schildert die Industrialisierung Kanadas als Geschichte einer gewaltigen Assimilationsleistung der Einwanderer und Zugezogenen, der Bauarbeiter, Brückenbauer und Teerkocher. Es sind Helden des Vormarschs, denen der Roman durch teils anrührende, teils bizarre Legenden ein Denkmal setzt. Im "Englischen Patienten" hat der Krieg die Figuren ihren Heimatländern wieder entrissen und wahllos über zwei Kontinente verstreut.
Gemeinsam ist den Büchern, daß sie versuchen, die Fetzen privater Geschichte vor der Fliehkraft der "großen" Geschichte in Sicherheit zu bringen. In beiden Romanen werden Bücher, Botschaften und Zettelchen herumgeschleppt und durch alle Kalamitäten hindurch bewahrt. Ondaatjes Epiphanien finden statt, wenn einer dem anderen im Halbdunkel aus den Briefen Joseph Conrads vorliest oder Herodot rezitiert. Die Dialoge selbst, früher von knöcherner Strenge, heute mit einem Hang zum Weihevollen, wirken wie Teile eines Chors; wer immer auch nach vorn tritt, um die Stimme zu erheben, die Anwesenheit schweigender Sprecher dicht dahinter bleibt spürbar.
Wegen seiner komplizierten Struktur ist Ondaatjes "Englischer Patient" eine schwierige Vorlage. Ein Buch, das von Krieg und Zerstörung erzählt, von Spionage und Gegenspionage, Loyalität, Liebe, Eifersucht und Verrat, Wildnis und Zivilisation, vom Entziffern der Landschaften, der Winde, der Körper, der Lettern und der Bomben, klingt nach dem Albtraum eines Regisseurs. Wer einen Film daraus machen will, muß den Roman zertrümmern und mit Hilfe einer analogen Technik neu zusammensetzen. Genau das hat Anthony Minghella getan, und es zahlt sich aus, daß er als Autor und Dramatiker mindestens so erfahren ist wie als Regisseur. Ein halbes Jahr vor Fertigstellung hatte er aus dem überbordenden Handlungsmaterial einen Film von vier Stunden und siebzehn Minuten destilliert; am Ende waren es zwei Stunden und fünfundvierzig. Zwar entspricht die Zahl der Szenenwechsel in der fertigen Version genau der Zahl im Drehbuch; doch kaum ein Szenenwechsel blieb an der geplanten Stelle. So ähnelt auch die Entstehung des Films der literarischen Montagetechnik Ondaatjes.
Ob die Liebesgeschichte, die es in dieser Gefräßigkeit nur auf der Leinwand gibt, wirklich an "Casablanca" herankommt, werden Kinobesucher in dreißig Jahren vielleicht eher beurteilen können. Schon jetzt wissen wir von Frederick Forsyth, daß die Romantik des "Englischen Patienten" sachliche Fehler und haarsträubende Inkonsistenzen geradezu voraussetzt. In seiner Polemik im "Spectator" listet Forsyth die Irrtümer der Verfilmung mit buchhalterischer Genauigkeit auf, angefangen vom Flugzeugtyp "Tiger Moth", der nie in El Alamein zum Einsatz gekommen sei, bis zu dem befremdlichen Umstand, daß die Beduinen den abgeschossenen Flieger in der Wüste nicht nur am Leben lassen, sondern ihm auch noch sein Lieblingsbuch hinterhertragen.
Der Roman gibt dafür eine einleuchtende Erklärung. Der Film - so kurz sind zwei Stunden und fünfundvierzig Minuten - kann sich keine Erklärungen leisten. Doch verrät selbst dieser Mangel eine gewisse Treue zu Michael Ondaatje, der in all seinen Büchern einschließlich seiner Autobiographie gezeigt hat, daß es ihm weniger auf nachprüfbare Fakten ankommt als auf poetische Verzerrung. Hier darf der Dichter alles. Frederick Forsyth, der Haudegen des politischen Thrillers, steht unterdessen da und wirbt für eine altmodische Idee: nichts außer der Wirklichkeit für wirklich zu halten. PAUL INGENDAAY
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schließen
Wenn ein Roman in Rückblenden erzählt wird, fehlt oft dem Leser die Geduld die einzelnen Perlen aufzufangen und aneinander zu reihen, in diesem Fall jedoch waren gerade diese Erinnerungsfetzen, die Erzählperspektiven das schönste was dem Leser passieren konnte.
Was so harmlos …
Mehr
Wenn ein Roman in Rückblenden erzählt wird, fehlt oft dem Leser die Geduld die einzelnen Perlen aufzufangen und aneinander zu reihen, in diesem Fall jedoch waren gerade diese Erinnerungsfetzen, die Erzählperspektiven das schönste was dem Leser passieren konnte.
Was so harmlos und verschlafen mit gerade mal vier Personen im Norden Italiens beginnt, entwickelt sich zu einem Drama mit sehr gut ausgearbeiteten Charakteren und noch besseren Schauplätze. Der Leser ist mittendrin in der heißen Wüste, spürt hautnah den Krieg und was dieser an Schmerz und Reue mit sich bringt. Diese vier Protagonisten um die sich die Story rankt, sind allesamt auf der Durchreise, 1945 bleiben sie kurz stehen, tanken Kraft lehnen sich kurz aneinander und ziehen dann weiter. Dem Schriftsteller gelingt es fabelhaft die Zerrissenheit und Ziellosigkeit der Menschen die einen Krieg erleben mussten einzufangen, niemand bleibt unberührt zurück!
Weniger
Antworten 4 von 4 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 4 von 4 finden diese Rezension hilfreich
Mit Herodot in der Wüste
Aus dem breit angelegten Œuvre des kanadischen Schriftstellers Michael Ondaatje ragt der im Erscheinungsjahr 1992 mit dem Booker Price prämierte Roman «Der englische Patient» besonders hervor. Nicht zuletzt wegen der mit 9 Oscars …
Mehr
Mit Herodot in der Wüste
Aus dem breit angelegten Œuvre des kanadischen Schriftstellers Michael Ondaatje ragt der im Erscheinungsjahr 1992 mit dem Booker Price prämierte Roman «Der englische Patient» besonders hervor. Nicht zuletzt wegen der mit 9 Oscars prämierten Verfilmung wurde er später weltberühmt und damit auch einem größeren Lesepublikum bekannt. Vor allem die Kinobesucher werden sich fragen, ob die Lektüre des Romans lohnend sei, was ich hier schon mal bejahen kann, mit Einschränkungen allerdings.
Zu dem titelgebenden Patienten und seiner jungen Krankenschwester Hana, die in der zerbombten und von den zurückweichenden deutschen Truppen verminten toskanischen Villa San Girolamo hausen, gesellt sich außer dem Dieb und britischen Geheimdienstler Caravaggio, ein Freund von Hanas verstorbenem Vater, auch Kip, ein junger Sikh im britischen Militärdienst, der dort als Minenräumer arbeitet. Caravaggio interessiert sich für den mysteriösen Patienten, den Hana für einen Engländer hält, Kip wiederum hat eine kurze Affäre mit Hana. Die vier Protagonisten sind Strandgut des Zweiten Weltkrieges, sie sind allesamt desillusioniert einer paralysierenden, noch sehr nahen Vergangenheit entronnen. Die Handlung ist zweisträngig aufgebaut, sie wechselt zwischen Kriegsende 1945 und der Zeit vor und während des deutschen Afrikafeldzuges in Libyen und Ägypten. In Rückblenden erzählt der Patient von seiner Arbeit als Forscher in der libyschen Wüste und von der heftigen Liebesbeziehung zu der frisch angetrauten Frau eines Kollegen, die tragisch endet, - Filmbesucher kennen die spektakuläre Szene. Caravaggio gelingt es in seinen Gesprächen mit dem Patienten, dessen Identität zu enthüllen, es handelt sich um den Ungarn Graf Ladislaus de Almásy, der für die Deutschen spioniert hat, für Rommel.
Als Schriftsteller der Postmoderne benutzt Ondaatje hier wie auch in vielen seiner anderen Werke eine fragmentarische Erzählweise, die fotografischen Schnappschüssen ähnelnd einen Teil des Plots behandelt, um sich dann unvermittelt wieder einem anderen zuzuwenden. Zwischen Krankenbett und Saharaforschung oszillierend werden auf diese Art in den zehn Kapiteln des Romans beide Strängen der Handlung parallel vorangetrieben. Ergänzt wird dies durch Rückblenden in Caravaggios Spionagezeiten sowie den minutiös geschilderten Arbeiten von Kip bei der hochriskanten und immer komplizierter werdenden Entschärfung von Bomben und der Räumung von Minenfeldern. Diese Abschnitte werden jeweils aus der Perspektive der einzelnen Figuren erzählt, wobei diese selbst merkwürdig seelenlos bleiben, keine Empathie erzeugen. Abweichend von der ansonsten durchgängig auktorialen Erzählsituation tritt Ondaatje im letzten, «August» überschriebenen Kapitel als personaler Erzähler auf, wenn er über Hana schreibt: «Sie ist eine Frau, die ich nicht gut genug kenne, um sie unter meine Fittiche zu nehmen, sollten denn Schriftsteller Flügel haben, und ihr für den Rest meines Lebens Schutz zu gewähren.» Er führt das Schicksal der anderen Figuren nicht näher aus, nur Kip erscheint am Ende als in seine Heimat zurückgekehrter, verheirateter Arzt, der im August 1945 entsetzt den Abwurf der ersten Atombomben zum Anlass genommen hatte, seinen Dienst zu quittieren.
In einer zweiseitigen Danksagung nennt der Autor am Schluss des Buches die Quellen für seine detaillierten Beschreibungen, akribisch recherchierend hat er es meines Erachtens mit dieser Detailfülle allerdings übertrieben, weniger wäre hier mehr gewesen. Zweifel habe ich nach der Lektüre auch gehabt, ob und wie das alles zusammengeht, was ich da so gelesen habe über Liebe, Wüste, Krieg, Bomben, Minen, Italien. Die Passagen, in denen es um Herodot geht, dessen Buch der Patient, mit eigenen Notizen angereichert, ständig bei sich trug und aus dem Hana ihm vorliest, waren für mich die erfreulichsten in diesem vielschichtigen Roman, der von den Verheerungen berichtet, die der Krieg anrichtet, - und manchmal auch die Liebe.
Weniger
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich
Antworten 0 von 0 finden diese Rezension hilfreich