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Liebenswert sind sie alle: die unfreiwilligen Verlierertypen aus Lars Saabye Christensens Erzählband. Aber auch skurril und stolz, tapfer um Haltung bemüht und irgendwie nicht unterzukriegen. Die Helden dieser Geschichten sind kleine Leute mit großen Schicksalen, die sich nicht immer beherzt gegen den Wind stellen, es aber zumindest hin und wieder versuchen.

Produktbeschreibung
Liebenswert sind sie alle: die unfreiwilligen Verlierertypen aus Lars Saabye Christensens Erzählband. Aber auch skurril und stolz, tapfer um Haltung bemüht und irgendwie nicht unterzukriegen. Die Helden dieser Geschichten sind kleine Leute mit großen Schicksalen, die sich nicht immer beherzt gegen den Wind stellen, es aber zumindest hin und wieder versuchen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.09.1998

Gefahren des Friseurwechsels
Schöner scheitern: Die Geheimnisse des Lars Saabye Christensen

Das Interessante an Lügen ist immer das Körnchen Wahrheit, das in ihnen steckt. Und genauso wie jede Wahrheit oft eine Notlüge erfordert, steht hinter jeder Lüge eine Notwahrheit. In den vier Erzählungen aus seinem neuen Band "Der eifersüchtige Friseur und andere Helden" erzählt Lars Saabye Christensen von solchen erfundenen Wahrheiten.

Seine einfachen und einsamen Figuren sind zunächst stille Beobachter. Doch je genauer sie hinsehen, desto komplizierter erscheint die Welt um sie herum. Und weil sie zu lange hinsehen, können sie auch nicht mehr ausweichen, wenn die Dinge in Bewegung geraten. Um sich zu retten, greifen Saabye Christensens Figuren zu ihren Notwahrheiten. Oder sie verschwinden darin, wie das Mädchen Andrea, das im Sommer 1964 auf einer norwegischen Insel steht und nichts sehnlicher wünscht, als Taue werfen zu können, so wie der Matrose Buffalo auf dem großen Fährschiff, das jeden Vormittag dort anlegt. Saabye Christensen ist dabei ein Meister der erzählerischen Dramaturgie. Schon mit dem ersten Satz führt er seine Leser mitten in die Geschichte: "Jeden Tag in diesem Sommer, ausgenommen die Woche, in der sie schwimmen lernen sollte, stand Andrea auf der Brücke und wartete, daß die ,Prinz' anlegte."

Das nebensächliche Motiv des Spielens wird zur Hauptsache und zum einzigen Fluchtpunkt des Kindes. Die Innenwelt ist die Freiheit und die Freiheit ist Phantasie. Dabei gibt Saabye Christensen niemals seine realistische Erzählweise auf. Er ist ein behutsamer und unaufdringlicher Erzähler, und so erfährt der Leser erst nach und nach von der zerrütteten Ehe der Eltern des Mädchens. Ohne Schuldzuweisungen, aber mit unbestechlichem Kinderblick beschreibt der Autor die abweisende Außenwelt: den Vater, dessen Gesichtshaut sich pellt und der den ganzen Tag Flugpläne studiert, die Mutter, die einsam im Ehebett liegt und raucht, und den Schwimmlehrer, der die Kinder mit einem Bootshaken traktiert. Die Erwachsenen sind eine Welt von Abwesenden. Und so sehnt sich das Mädchen immer stärker nach Buffalo, bis es eines Tages das Tauende ergreift und im Wasser verschwindet.

Dieselbe Sehnsucht hindert auch Christensens andere Figuren daran, in die Welt der Erwachsenen einzutreten. Mit einer Mischung aus Arglosigkeit und Ekel beobachtet ein Junge in der Erzählung "Hundertsiebzehn Schuhe", wie sein Vater sich für den Dorfball schwarze Schuhcreme in die Koteletten schmiert. Auf dem Ball darf der Junge seinem Vater in der Garderobe helfen. Er nimmt die Mäntel und Schuhe entgegen, verteilt Taschentücher und muß Seife auf die Damentoilette tragen. Dort erfährt er, daß seine Mutter nicht zum Urlaub in die Stadt gefahren ist. Dem Autor gelingt es aber, die Entzauberung der Kinderwelt voller Zauber zu schildern. Dabei bewegt Saabye Christensen sich immer zwischen Lakonie, Komik und Tragik. Über die schöne Postangestellte Miriam, mit der der Vater tanzt, schreibt Saabye Christensen: "Es kam vor, daß Männer von der ganz anderen Seite der Bucht kamen, nur um zu sehen, wie sie eine Briefmarke anleckte." Dann sieht der Junge seinen Vater: "Er schwitzte schlimmer als je, es lief ein dicker schwarzer Streifen von jedem Ohr hinunter, als würde er schmelzen, und jemand in seiner Nähe kicherte."

Doch der entwaffnend ehrliche Blick ist auch der des Autors. Saabye Christensen läßt seine Figuren die große Welt hinter ihrer kleinen Welt entdecken. Sie wollen teilhaben an dieser großen Welt, die ihnen vorenthalten wird. So, wie der Junge schließlich alle Schuhe vertauscht, um sich an seinem Vater zu rächen, so wechselt Bent nach fünfzehn Jahren seinen Friseur. Er versucht, aus einem Leben auszubrechen, das geradewegs auf das Etikett "Rentnerhaarschnitt zum halben Preis" zusteuert. Doch der Schritt vom Weg führt den Einsamen in das Chaos einer Welt, die er nicht versteht. Mit beinahe unheimlicher Konsequenz wird Bent von seiner Schuld eingeholt. Auch in dieser Erzählung reißt Saabye Christensen seinen Anti-Helden in einen Wahrnehmungsstrudel, der ihn am Ende reumütig in die kleine Welt seines angestammten Friseurladens zurücktreibt.

Saabye Christensen bewegt sich mit seinen Figuren zwischen der skurrilen Welt Roald Dahls und den düsteren Stadtgeschichten Paul Austers. Doch wie bei Auster mißlingen seinen Figuren die Ausbruchversuche aus dem Alltag. Denn der Gang der Handlung wird in Saabye Christensens Geschichten nicht von den Ereignissen, sondern von den Personen bestimmt. So betrügt der Lehrer Jan seine Lebensgefährtin Sigrid auf einem Seminar mit einer Kollegin. Jans Lüge besteht darin, zu denken, dieser Vorfall habe keine Bedeutung für ihn. Doch auch Jan wird von seiner Schuld eingeholt, die ihn zwingt zu erkennen, daß er seit geraumer Zeit ein Doppelleben führt. Bewußt wird ihm das erst, als er merkt, daß auch Sigrid ein Doppelleben führt. Es ist die Kunst Saabye Christensens, auch diese Sigrid lebendig werden zu lassen, die schließlich vor dem kalten Blick Jans flieht. Auch diese Geschichte ist ein Abschied von der Kindheit, von der naiven Vorstellung der einen großen Liebe, die man während der Schulzeit auf dem Sportplatz kennenlernt. Und von Bestzeiten, die ewig gelten.

Die Stärke des 1953 in Oslo geborenen Saabye Christensen ist, seine kunstvollen Geschichten einfach zu erzählen, mit unverstelltem Blick und ohne Psychologie. Trotz der Heiterkeit seines Tons und der poetischen Kraft seiner Sprache handeln Christensens Geschichten dabei immer vom Scheitern. Seine Figuren stehen am Ende kahlgeschoren da. Lakonisch findet der Autor dafür ein schönes Bild, wenn er schreibt "die Zeit war ein blauer Kamm, der jeden Morgen voller Haare war". ANTJE SCHMELCHER

Lars Saabye Christensen: "Der eifersüchtige Friseur und andere Helden". Roman. Aus dem Norwegischen übersetzt von Christel Hildebrandt. Knaus Verlag, München 1998. 280 S., geb., 32,90 DM.

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