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Mario Calabresi war zwei Jahre alt, als sein Vater von Linksterroristen ermordet wurde. Heute ist er Korrespondent von La Repubblica in New York. In seinem Bestseller schildert er, beispielhaft an seiner Familie, erstmals die Seite der hinterbliebenen Opfer: der Kinder und jungen Witwen. Es ist ein Bekenntnis zum Leben, zur Versöhnung, aber auch zur Richtigstellung der Erinnerung.

Produktbeschreibung
Mario Calabresi war zwei Jahre alt, als sein Vater von Linksterroristen ermordet wurde. Heute ist er Korrespondent von La Repubblica in New York. In seinem Bestseller schildert er, beispielhaft an seiner Familie, erstmals die Seite der hinterbliebenen Opfer: der Kinder und jungen Witwen. Es ist ein Bekenntnis zum Leben, zur Versöhnung, aber auch zur Richtigstellung der Erinnerung.
Autorenporträt
Mario Calabresi, geboren 1970 in Mailand, studierte Geschichte und Journalismus, war als Reporter bei der Nachrichtenagentur ANSA tätig und für die Tageszeitung La Stampa in Rom. Heute lebt er als Korrespondent der Tageszeitung La Repubblica in New York. Er ist verheiratet und hat zwei Töchter.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2008

Das Ende der Ohnmacht
Mario Calabresi war zwei Jahre, als sein Vater erschossen wurde. Sein Buch über den Terrorismus in Italien spricht erstmals über die Opfer

Der Tag, an dem Mario Calabresis Vater ermordet wurde, war kein normaler Tag. Normale Tage kannten seine Eltern da schon lange nicht mehr. An den Häuserwänden waren in Mailand Parolen aufgetaucht, die den Vater als "Mörderkommissar" beschimpften. Die Tageszeitung "Lotta Continua" hatte, bald nach Marios Geburt, eine Karikatur veröffentlicht, die seinen Vater zeigte, wie er Mario auf dem Arm hielt und ihm beibrachte, einer Anarchistenpuppe mit einer Spielzeugguillotine den Kopf abzuschlagen. Es waren unmissverständliche Drohungen ausgesprochen worden.

Kommissar Luigi Calabresi wurde am 17. Mai 1972 beim Verlassen seiner Wohnung mit zwei Pistolenschüssen getötet. Er gehörte zu den ersten Opfern des linken Terrorismus in Italien, der sich da gerade erst zu formieren begann und dessen Radikalisierung als Reaktion auf jenen Anschlag verstanden werden kann, bei dem am 12. Dezember 1969 an der Mailänder Piazza Fontana sechzehn Menschen ums Leben kamen und über hundert verletzt wurden. Es war ein unter roten Vorzeichen inszenierter Anschlag der neofaschistischen Rechten und des Geheimdienstes: Mitten am Nachmittag, zum Zeitpunkt des größten Kundenandrangs, detonierten in der Nationalen Landwirtschaftsbank zwei mit Sprengsätzen gefüllte Aktentaschen. Fast gleichzeitig gingen in Rom drei Bomben hoch.

Danach war in Italien nichts mehr wie zuvor. Die Polizei und der größte Teil der Presse verfolgten nach der Mailänder Bombe ausschließlich die "rote Spur": Hunderte von Anarchisten und Maoisten wurden festgenommen, die Linken beharrlich beschuldigt, während man die eigentlichen Täter der Rechten schützte. Die "stragi di stato", wie man die mit staatlicher Hilfe verübten Massaker nennt, hatten System: Zugrunde lag ihnen jene "Strategie der Spannung", mit der die Bevölkerung durch Terror verunsichert werden und den autoritären Staat zurückfordern sollte. Die radikale Linke schlug zurück. Was folgte, war ein langes blutiges Jahrzehnt.

"Wenn du jemanden umbringen willst, musst du ihn in ein Symbol verwandeln, einen ganzen Mythos erfinden. Es ist leichter, ein Symbol zu töten als einen Menschen", sagt Mario Calabresi, der zwei Jahre alt war, als sein Vater starb, und heute als Amerika-Korrespondent der Zeitung "La Repubblica" mit seiner Familie in New York lebt. Er hat ein Buch über seinen Vater geschrieben. Es ist das erste Buch über die Opfer der terroristischen Linken in Italien überhaupt, es steht seit 44 Wochen auf den italienischen Bestsellerlisten und erscheint nun auch auf Deutsch: "Der blaue Cinquecento".

Guevarahafte Popstars

Dabei ist wohl Mario Calabresi selbst am meisten erstaunt über seinen Bucherfolg, und er ist erleichtert: "Noch vor ein paar Jahren", meint er, "wäre es undenkbar gewesen, dass man mir, als einer Stimme der Opfer, zwei Stunden in einer Fernsehtalkshow eingeräumt hätte." Die Mitglieder der terroristischen Linken wurden in Italien zu guevarahaften Popstars stilisiert, wurden auf perverse Weise zu Berühmtheiten, was pervers nur eben kaum jemand fand. Man kennt das aus Deutschland: Mit ihrem wichtigen Buch "Für die RAF war er das System, für mich der Vater" hat die Journalistin Anne Siemens im vergangenen Jahr die Geschichte des Linksterrorismus gerade erst neu verortet, indem sie sie durch die Stimmen der Opfer und ihrer Angehörigen ergänzte. "Der blaue Cinquecento" ist, so gesehen, eine Art italienisches Pendant. Nur dass hier der Sohn eines Opfers selbst zu schreiben begonnen hat, nachdem er lange Jahre gehofft hatte, dass jemand anderes mit mehr Distanz es für ihn tun könnte. Viele Jahre mussten vergehen, bis er seine Familiengeschichte und, in Andeutungen, auch die von anderen Opfern erzählen konnte. Weit weg von zu Hause, von Amerika aus, ging es.

Ein Samstagnachmittag in Rom. Eine Handvoll junger Menschen löst sich aus einer Demonstration, Tücher vor dem Gesicht, in den Händen Spraydosen. Kurz darauf steht in großen Lettern die Parole "Calabresi Mörder" auf einer Hauswand in der Via Cavour. Am Straßenrand gibt es keine Telefonzellen, die jungen Leute haben iPods. Es ist nicht das Jahr 1970, sondern der 18. November 2006, und die Demonstration gilt der Solidarität mit Palästina. Das stereotype Feindbild des Kommissars Calabresi, dem "Sklaven des Staates", hat sich gehalten. Die Demütigungen der Familie dauern an. Die Angehörigen der Terrorismusopfer haben vom italienischen Präsidenten mittlerweile Ehrenmedaillen verliehen bekommen. Aber was vermögen Medaillen gegen Klischees?

Marios Vater war 1969, nach dem Attentat an der Piazza Fontana, an den polizeilichen Ermittlungen zum Bombenanschlag beteiligt. Bei den Verhören stürzte der Anarchist und Eisenbahner Giuseppe Pinelli aus Calabresis Bürofenster und starb. Daraufhin erklärte die Linke Calabresi zum Mörder, machte ihn zur Zielscheibe, zum Symbol des "faschistischen Systems". "Natürlich weiß ich", sagt Mario, "dass ich der Sohn eines Polizisten bin, des Dieners eines Staates also, in dem es alles andere als demokratisch zuging. Ich wäre der Letzte, der das in Abrede stellen würde. Aber mein Vater war eben nicht der Mörder Pinellis. Es wurden Legenden in die Welt gesetzt, die widerlegt werden konnten. Doch stand das ideologische Urteil in den Köpfen da längst fest."

Tatsächlich war Luigi Calabresi nicht im Raum, als Pinelli aus dem Fenster fiel. Es waren fünf Personen anwesend, er war nicht darunter. Er befand sich in einem anderen Trakt des Präsidiums, um Verhörprotokolle unterzeichnen zu lassen. Pinelli war auch kein Wahrheitsserum verabreicht worden, wie behauptet wurde. Man hatte ihn nicht mit einem Karateschlag niedergestreckt und auch nicht vorsätzlich den Anruf bei der Ambulanz verzögert. Und vor allem war Calabresi nicht bei der CIA ausgebildet worden, wie die Verschwörungstheorie es so gerne wollte. Er sprach kein Wort Englisch und reiste, von seiner Hochzeitsreise nach Barcelona und beruflichen Reisen in die Schweiz abgesehen, nie ins Ausland. Pinellis Tod, so die bis heute wahrscheinlichste Hypothese, war ein Unfall: Er ging zum Fenster, um frische Luft zu schnappen, vor Hunger, Müdigkeit und Anspannung ergriff ihn der Schwindel, er stürzte in die Tiefe.

Öffentliche Demütigung

Mario Calabresis Buch "Der blaue Cinquecento" ist, indem es all das rekapituliert, eine Geschichte der Ohnmacht und der Fassungslosigkeit. Nicht nur wurde sein Vater erschossen - der ganzen Familie wurde nach seinem Tod laufend demonstriert, wie sehr er dies angeblich verdient hatte. Moralisch und ideologisch wurde sein Vater weiter diskreditiert, was den Schmerz der Familie auf grausame Weise am Leben hielt und die eigentliche Trauerarbeit unmöglich machte. Im Buch deutet Calabresi das Ausmaß der öffentlichen Demütigungen nur an. Dass etwa seine Mutter bei der Beerdigung ihres Mannes bespuckt wurde, ihr Bruder ihr die Ohren zuhalten musste, damit sie die Beschimpfungen und Verleumdungen nicht hörte, erzählt er, aus Rücksichtnahme der Mutter gegenüber, nur im Gespräch.

"Hat Ihnen, jetzt, wo das Buch erschienen ist, niemand vorgeworfen, politisch rechts zu stehen?" - "Nein, aber das wäre auch absurd. Ich arbeite für die Zeitung ,La Repubblica', und niemand käme in Italien auf die Idee zu vermuten, ein Journalist dieser Zeitung sei reaktionär oder konservativ. Ich würde das von mir selbst nun auch nicht gerade behaupten. Sorgen bereitet hat mir eher etwas anderes: Für ,La Repubblica' schreibt auch Adriano Sofri. Und Sofri war es, der, nachdem die Ermittlungen zum Mord an meinem Vater zunächst im Sand verlaufen waren, 1988 zusammen mit Giorgio Pietrostefani und Ovidio Bompressi festgenommen wurde. Als Ex-Anführer von ,Lotta Continua' wurde er beschuldigt, zu den Auftraggebern des Mordes an meinem Vater zu gehören. Es folgten die bekannten, endlos sich hinziehenden Prozesse. Heute steht er unter Hausarrest."

"Hat Sofri auf Ihr Buch reagiert?" - "Ja, er hat einen langen Artikel in ,Il foglio' geschrieben. Der begann mit dem Satz: ,Ich habe das Buch von Mario Calabresi gelesen' - dann sprach er ausschließlich über sich und seine eigene Geschichte. Es war unglaublich!" - "Das hat Sie verletzt?" - "Nein, aber für mich hat er damit eine Chance verpasst. Er hat nicht begriffen, dass es eine Gelegenheit gewesen wäre, sich und das Land von der Stelle zu bewegen. Sofri hängt an den alten Zeiten."

Calabresi ist inzwischen mit einer Enkelin der Schriftstellerin Natalia Ginzburg verheiratet. Sie kommt aus einer der großen jüdischen Familien der politischen Linken. Als Mario und seine Frau im vergangenen Jahr Zwillinge bekamen, reiste der Onkel, Carlo Ginzburg, der ein guter Freund von Adriano Sofri ist, zu Besuch nach New York. Was Mario Calabresi in seinem Buch so eindringlich fordert, die ideologischen Zementierungen endgültig aufzubrechen und Differenziertheit zuzulassen, beglaubigt er damit durch seine eigene Biographie. Das ist es, was seine Geschichte so überzeugend macht. Stolz erzählt er, dass seine Töchter in Amerika den Doppelnamen Calabresi-Ginzburg haben können. "Für die italienische Öffentlichkeit stellt allein dieser Doppelname Gewissheiten in Frage. Der ideologische Blick funktioniert nicht mehr."

Fragile Demokratie

In einem Nachwort für die deutsche Ausgabe hat Michaela Wunderle die Geschichte der "Brigate Rosse", vor allem aber die der "stragi" und deren Verbindungen zur CIA und zum britischen Auslandsgeheimdienst skizziert, was für das Verständnis von Calabresis Buch besonders hilfreich ist: Italien galt während des Kalten Kriegs als der wichtigste geopolitische Stützpunkt der Nato im Mittelmeerraum und war, aufgrund der mächtigen Kommunistischen Partei im Land, für die Westmächte zugleich der gefährdetste. Der Sprengstoff der Bombe an der Piazza Fontana stammte, wie sich 1990 herausstellte, aus den Beständen der Nato.

"Für mich sind Terroristen Terroristen", sagt Mario Calabresi zum Schluss. Ob tiefschwarz oder rot, er mache da keinen Unterschied. Zum einen gebe es für die Opfer keinen Unterschied, zum anderen habe die Initiatoren der "stragi" und die Linksterroristen immerhin eine Idee verbunden: die Demokratie zu zerstören. Er sagt das auch mit Blick auf den islamistischen Terrorismus und den "Krieg gegen den Terror". "Wenn ich eines gelernt habe, dann, dass alles eine Frage der Sprache ist. Man darf es nicht zulassen, jemandem, den man für seinen politischen Gegner hält, das Gesicht zu rauben. Wenn man das zulässt, ist alles möglich. In gewisser Weise können Sie mein Buch auch als Versuch verstehen, meinem Vater das Gesicht zurückzugeben, das man ihm nahm."

Mario Calabresi hat, auch vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Bedrohungen, die Geschichte des Terrorismus in Italien um eine entscheidende Perspektive erweitert.

JULIA ENCKE

Mario Calabresi: "Der blaue Cinquecento - Geschichte meiner Familie im Schatten des Terrorismus". Aus dem Italienischen von Michaela Wunderle. SchirmerGraf-Verlag, 174 Seiten, 17,80 Euro

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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit Lob bedenkt Maike Albath dieses autobiografische Buch Mario Calabresis über seinen Vater, den Polizeikommissar Luigi Calabresi, und die Jahre des Terrorismus in Italien. Eingehend berichtet sie über die Ermordung von Kommissar Calabresi am 17. Mai 1972 durch die Roten Brigaden, die ein Jahrzehnt der Gewalt einläutete, resümiert die aufgeheizte Atmosphäre und schildert den Terror von links und von rechts. Sie hebt allerdings hervor, dass sich Calabresi für die politischen Hintergründe nur am Rande interessiert, auf eine Analyse des Terrorismus verzichtet und keine Erklärungsmodelle bietet. Sein Buch ist in ihren Augen vielmehr ein "sehr persönliches Zeugnis" über seine Eltern, die vaterlose Kindheit, den ohnmächtigen Schmerz. Zudem gehe der Autor auf die Schicksale anderer Terroropfer ein. Beeindruckt und berührt zeigt sich Albath von Calabresis Offenheit, seiner unprätentiösen, klaren Darstellung ohne Groll oder Rachegelüste, seinem Plädoyer für eine "umfassende Erinnerung, die alle Seiten mit einbezieht".

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