es stattdessen sinnlich erspürt (und ihm die Nase streichelt), markiert den Beginn einer Lebensgeschichte: "Ich wurde zweimal geboren", resümiert der Junge, "das erste Mal in einem Zimmer aus Holz, das über das schwarze Wasser der Themse ragte; das zweite Mal acht Jahre später auf dem Ratcliffe Highway, als der Tiger mich in sein Maul nahm und eigentlich alles erst richtig begann."
Tatsächlich machte im Jahr 1857 im Londoner Stadtteil Wapping ein acht Jahre alter Junge Bekanntschaft mit einem bengalischen Tiger. Auf dem Weg zur Menagerie des Tierausstellers Charles Jamrach war er aus seinem Transporter entkommen und hatte auf den Streichelversuch des Jungen wie beschrieben reagiert. Jener Moment ist Teil der Geschichte.
Das, was hier "erst richtig" beginnt, nämlich Jaffy Browns Leben, ist Teil vieler Geschichten, nicht nur der von Carol Birch, sondern auch von Dickens, Melville, Stevenson. Gegen die Kategorie "Historischer Roman" sträubt sich Birchs 2011 für den Man Booker Prize nominierter Roman "Der Atem der Welt" daher, spielt mit literarischen Genres und Traditionen. Jaffy, der dem Rachen der Raubkatze als kleiner Held und Tierflüsterer entsteigt, fortan bei Charles Jamrach die Käfige tasmanischer Teufel, Kakadus und exotischer Schlangen säubert und schließlich Richtung Niederländisch-Indien in See stich, ist zugleich Oliver Twist auf der Schatzinsel, Ishmael auf Drachenjagd, Jim Hawkins in London. Vor allem ist er ein Bursche, dessen Erwachsenwerden auch eine Vermessung der eigenen Wildheit bedeutet. So entsteht ein Roman, der zwar vor Verweisen auf schon Geschehenes strotzt, diese jedoch lediglich als Ankerpunkte nutzt, von welchen aus die Phantasie getrost ihre Flügel ausbreiten kann.
Um das London von 1850 zu erzählen, filtert Birch es zunächst durch eine dickenssche Linse, kreiert eine die Sinne überwältigende Welt voll modriger Gerüche, Unrat, armen Halbwaisen und schnarchenden Prostituierten. "Ich kannte nur dunkles Wasser und Blasen werfenden Unrat", sagt das Kind Jaffy, "und kleine Brücken über Scheißebächen, die immer schwankten, ganz gleich wie leichtfüßig man hinübersprang." Besonders im ersten Teil ihres Buches lässt Birch Jaffys kindlichen Sinneseindrücken freien Lauf. Es entstehen unbändige Assoziationsketten von Papageien in Jamrachs Menagerie, die Jaffy "bunt wie Bonbons" erscheinen, Kuchen, die wie Juwelen glänzen, Sittiche, deren runde Körper ihn an "mächtige Busen" erinnern, die wiederum "wie fahle Fleischstücke" anmuten. Zugegeben, Jaffys Analogien sind abenteuerlich. Trotzdem ist diese Ungezähmtheit der Sprache keineswegs erzählerischer Leichtsinn: In ihr zeigt sich vielmehr die große Fähigkeit der Autorin zu erspüren, dass ein Tiger oder ein klebrigsüßer Himbeerwindbeutel auf ein so viel Elend gewohntes Kind wie Jaffy so unvergleichlich wirkt, dass die Vergleiche selbst kaum zu wissen scheinen, wohin mit sich.
Dementsprechend liegen die Schiffe, die auf Jaffy eine ebenso magische Anziehungskraft ausüben wie bengalische Tiger, "wie reinrassige Pferde" im Hafen von London. Auf einem von ihnen sticht der Junge in See, heuert auf dem knarzenden Walfänger Lysander (angelehnt an die 1820 nach einem Walangriff gesunkene Essex, die schon Hermann Melville Modell stand) an, um für den Tieraussteller einen Komododrachen (seinerseits angelehnt an Moby Dick, der schon Captain Ahab das Fürchten lehrte) aus der Ferne nach England zu holen. Der Triumph von Mensch über Tier gelingt, wie ein begehrtes Luxusobjekt wird der Drache gefangen genommen. Jaffy soll ihn ruhig halten, würde ihn aber viel lieber "gesund pflegen und zum Leben erwecken und ein Wesen voll wilder Herrlichkeit nach England bringen". Dass der Inbegriff wilder Herrlichkeit in einem Käfig aus Stahl festgehalten wird, widerstrebt ihm. Doch auch Jaffy hat an Wildheit eingebüßt: "Jetzt bin ich vernünftig und würde mich niemals auch nur in die Nähe eines Tigermauls begeben. Jetzt würde und könnte ich nie mehr dort hineinwollen." Erwachsenwerden ist eben nicht rückgängig zu machen.
Nach der Drachenflucht und dem Schiffsunglück sagt sich Jaffy also los von den Weltmeeren und der Wildheit, liest auf festem Boden Darwins "Das Variieren der Tiere und Pflanzen im Zustande der Domestikation", baut Käfige für Vögel, wird sesshaft mit seiner Jugendliebe und konstruiert, so hätte sein kindliches Ich aus dem Maul des Tigers vielleicht geurteilt, einen Käfig für sich selbst.
KATHARINA LASZLO
Carol Birch: "Der Atem der Welt". Roman.
Aus dem Englischen von Christel Dormagen. Insel Verlag, Berlin 2012. 393 S., geb., 19,95 [Euro].
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