Tanya Pyankova
Gebundenes Buch
Das Zeitalter der Roten Ameisen
Roman Ein Dorf in der Ukraine der 30er Jahre in einem Notstand, der aktueller kaum sein könnte
Übersetzung: Kersten, Beatrix
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»Tanya Pyankovas Roman ist ein Zeugnis der Entmenschlichung und damit auch ein Zeugnis der Menschlichkeit in dunkler Zeit.« Fridtjof Küchemann FAZMatschuchy, Ukraine, 1933: Die junge Jawdocha versucht verzweifelt, sich und ihre Familie am Leben zu halten - doch der Hunger setzt nicht nur ihren Körpern zu, sondern immer mehr Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung greifen zu verzweifelten, unmenschlichen Maßnahmen im Kampf um das nackte Überleben. Nur wenige Kilometer von ihnen entfernt wird Solja, die wohlhabende Frau des ortsansässigen Parteivorsitzenden, von ihren eigenen, völlig un...
»Tanya Pyankovas Roman ist ein Zeugnis der Entmenschlichung und damit auch ein Zeugnis der Menschlichkeit in dunkler Zeit.« Fridtjof Küchemann FAZ
Matschuchy, Ukraine, 1933: Die junge Jawdocha versucht verzweifelt, sich und ihre Familie am Leben zu halten - doch der Hunger setzt nicht nur ihren Körpern zu, sondern immer mehr Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung greifen zu verzweifelten, unmenschlichen Maßnahmen im Kampf um das nackte Überleben. Nur wenige Kilometer von ihnen entfernt wird Solja, die wohlhabende Frau des ortsansässigen Parteivorsitzenden, von ihren eigenen, völlig unterschiedlichen Dämonen heimgesucht und scheitert daran, Gewicht zu verlieren - und Swyryd, ein Repräsentant der sowjetischen Kommunalverwaltung, nutzt seine Machtposition, um seine große Liebe Hanna, Jawdochas Mutter, zu manipulieren.
In drei verschiedenen Erzählstimmen erschafft Tanya Pyankova das erschreckend aktuelle Psychogramm einer Zeit und einer Nation, das relevanter nicht sein könnte: Die von der Sowjetunion besetzte Ukraine erlitt eine Hungersnot, die das Leben vieler Millionen Menschen forderte - und die von den Besatzern als politisches Machtinstrument gezielt hervorgerufen worden war. Dieser Genozid ging als Holodomor ("Tötung durch Hunger") in die Geschichte ein.
»Pyankova hat die große Leistung vollbracht, für das Unsagbare eine literarische Sprache zu finden.« Mareike Ilsemann _ WDR 5 Bücher
Matschuchy, Ukraine, 1933: Die junge Jawdocha versucht verzweifelt, sich und ihre Familie am Leben zu halten - doch der Hunger setzt nicht nur ihren Körpern zu, sondern immer mehr Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung greifen zu verzweifelten, unmenschlichen Maßnahmen im Kampf um das nackte Überleben. Nur wenige Kilometer von ihnen entfernt wird Solja, die wohlhabende Frau des ortsansässigen Parteivorsitzenden, von ihren eigenen, völlig unterschiedlichen Dämonen heimgesucht und scheitert daran, Gewicht zu verlieren - und Swyryd, ein Repräsentant der sowjetischen Kommunalverwaltung, nutzt seine Machtposition, um seine große Liebe Hanna, Jawdochas Mutter, zu manipulieren.
In drei verschiedenen Erzählstimmen erschafft Tanya Pyankova das erschreckend aktuelle Psychogramm einer Zeit und einer Nation, das relevanter nicht sein könnte: Die von der Sowjetunion besetzte Ukraine erlitt eine Hungersnot, die das Leben vieler Millionen Menschen forderte - und die von den Besatzern als politisches Machtinstrument gezielt hervorgerufen worden war. Dieser Genozid ging als Holodomor ("Tötung durch Hunger") in die Geschichte ein.
»Pyankova hat die große Leistung vollbracht, für das Unsagbare eine literarische Sprache zu finden.« Mareike Ilsemann _ WDR 5 Bücher
Tanya Pyankova wurde 1985 in der Region Iwano-Frankiwsk in der Ukraine geboren. Sie ist Autorin mehrerer Romane und Gedichtbände, die in ihrer Heimat zahlreiche Preise gewonnen haben, außerdem ist sie Leiterin der Literaturagentur Potion sowie Organisatorin einer Vielzahl von Literaturfestivals, Theateraufführungen und Poesieperformances.
Produktdetails
- Verlag: Ecco / Ecco Verlag
- 1. Auflage
- Seitenzahl: 400
- Erscheinungstermin: 25. Oktober 2022
- Deutsch
- Abmessung: 192mm x 124mm x 35mm
- Gewicht: 452g
- ISBN-13: 9783753000770
- ISBN-10: 3753000779
- Artikelnr.: 64310849
Herstellerkennzeichnung
Ecco
Valentinskamp 24
20354 Hamburg
vertrieb@harpercollins.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Beeindruckt und erschüttert ist Rezensent Fridtjof Küchemann von Tanya Pyankovas "Zeitalter der roten Ameisen", das den Holodomor, den von der Sowjetunion verübten Hungergenozid in der Ukraine, aus drei verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Die Unwissende Solja, der Täter Swyryd und das Opfer Dusja schilderten unvorstellbar Grausames aus ihrer je eigenen Sicht, die die Autorin jeweils detailreich und glaubwürdig ausführe und miteinander verflechte. Dem Rezensenten ist wichtig, deutlich zu machen, dass die Schilderungen vom Hungern, vom Tod, von menschlicher Not und Terror keinesfalls ausgedacht sind - Pyankova hat das alles Dokumenten aus jener Zeit entnommen, berichtet er. Das ist längst nicht nur aufgrund der jüngsten Geschichte lesenswert, schließt Küchemann, sondern vor allem als Buch über Menschlichkeit im Unmenschlichen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Hier herrscht Hunger, wissen Sie?
In ihrem Roman "Das Zeitalter der roten Ameisen" lässt Tanya Pyankova drei Stimmen vom Holodomor in der Ukraine vor neunzig Jahren erzählen.
Als sich Arina eines Tages ein Herz fasst und der übergewichtigen Patientin im Sanatorium von Matschuchy endlich in die Augen schaut, hat Soljas Weltbild bereits erste Risse bekommen. Solja hat sich schon nicht mehr nur gefragt, wie sie die Hungerkur überstehen soll, die ihr die Ärzte hier auferlegt haben, und was aus ihr und ihrem Mann werden soll, sondern auch, langsam und leise, was ihr Mann Oleksij da draußen im Dorf eigentlich macht, mit seinem Auftrag, der das junge Paar hierhergeführt hat: die Kolchosen südlich von Poltawa auf Vordermann
In ihrem Roman "Das Zeitalter der roten Ameisen" lässt Tanya Pyankova drei Stimmen vom Holodomor in der Ukraine vor neunzig Jahren erzählen.
Als sich Arina eines Tages ein Herz fasst und der übergewichtigen Patientin im Sanatorium von Matschuchy endlich in die Augen schaut, hat Soljas Weltbild bereits erste Risse bekommen. Solja hat sich schon nicht mehr nur gefragt, wie sie die Hungerkur überstehen soll, die ihr die Ärzte hier auferlegt haben, und was aus ihr und ihrem Mann werden soll, sondern auch, langsam und leise, was ihr Mann Oleksij da draußen im Dorf eigentlich macht, mit seinem Auftrag, der das junge Paar hierhergeführt hat: die Kolchosen südlich von Poltawa auf Vordermann
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zu bringen.
"Solja", sagt Arina ihr sanft, "es gibt keine Kulaken." Aber hatte ihr Oleksij nicht wieder und wieder von diesen Kulaken erzählt, die das eigene Land und Vieh, den eigenen Reichtum nicht mit anderen teilen wollten, die immer noch, Anfang der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, zu stolz oder zu faul sind, um in den Kolchosen zu arbeiten, und lieber ihre Kinder hungern lassen? Von diesen Verrätern des Volks, diesen Feinden des Vaterlands?
Und jetzt sollen es, wie Arina behauptet, "einfach Menschen" sein, "zum Hungertod verurteilt", Leute, denen man alles genommen hat, was sie besaßen, Familien, deren Väter nach Sibirien geschickt worden sind, deren Mütter gezwungen wurden, die Kinder sich selbst zu überlassen, um in der Kolchose zu arbeiten, die misshandelt und geschmäht, deren Häuser wieder und wieder auf den Kopf gestellt worden sind, weil sie vielleicht doch noch etwas Essbares versteckt hatten?
Wahrscheinlich hätte Solja, eine der drei Erzählstimmen in Tanya Pyankovas Roman "Das Zeitalter der roten Ameisen", weiterhin als Geschwätz abgetan, was sie von Arina gesagt bekommt, wenn nicht ihr kleiner Hund verschwunden wäre, nach dem frühen Tod ihres einzigen Kindes ihr ganzer Trost. Wenn Solja nicht allen Warnungen und Verboten zum Trotz in einem unbeobachteten Moment durch das Sanatoriumstor entwischt wäre, um selbst in Matschuchy nach ihrem Filja zu suchen und ein Elend vorzufinden, das für sie unvorstellbar war.
Was die junge Frau zusammen mit Dusja, einer neunzehn Jahre alten Kulakentochter aus dem Dorf, und Swyryd, einem Mann, der im Dorfsowjet als rechte Hand des Vorsitzenden Oleksij arbeitet, auf rund 380 Seiten erzählt, wird auch für die meisten Leser des Romans unvorstellbar sein und eine kaum erträgliche Lektüre bleiben, selbst für jene, denen die Bezeichnung "Holodomor" für die Hungerkatastrophe in der Ukraine vor neunzig Jahren mit ihren Millionen Todesopfern geläufig ist, eine Katastrophe, die erst im November vom Bundestag und vom EU-Parlament als sowjetischer Genozid am ukrainischen Volk anerkannt worden ist.
Eine Ahnungslose, ein Opfer und ein Opportunist: Tanya Pyankova hat die drei Blickrichtungen auf das Grauen, von dem sie erzählt, gut gewählt und fein verknüpft - auch über die Handlung hinaus. Dusja und Solja schildern am Anfang ihrer jeweils ersten Kapitel ähnliche Symptome entgegengesetzter Probleme. Bei beiden - "am Anfang ist es noch gar nicht so schlimm", heißt es fast gleichlautend beide Male - schwellen die Beine an, einmal infolge der Unterernährung, bei der anderen durch ihre Fresssucht.
Swyryd hat auch nach bald zwanzig Jahren nicht verwunden, dass seine Jugendliebe Hanna sich für seinen besten Freund Tomifej entschieden hat. Die Autorin gibt der Verzweiflung, der Verletztheit, der Wut dieser Figur Raum. Man glaubt diesem einfachen Mann, dass er sich nicht anders zu helfen weiß. Fast nimmt man ihm ab, dass es mehr ist als reine Erpressung, wenn er Hanna auf der Straße begegnet und anbietet, ihr zu essen zu geben, ihre Kinder zu retten, wenn sie ihn nur erhörte. Man glaubt seinem Schmerz, wenn sie ihn stehen lässt, auch wenn ihr Mann in Sibirien und sie selbst hilflos ist - und man steht fassungslos vor der Brutalität und Missachtung, mit der sich Swyryd zugleich ein paar Höfe weiter wieder und wieder an der Kulakentochter Tamara abreagiert, während deren Mutter draußen in der Winterkälte warten muss. Auch sie versorgt er heimlich mit dem Nötigsten, mit weniger als dem Nötigsten. Als Tamara schwanger wird, kann er in seiner Angst, Affäre und Unterstützung könnten auffliegen, seine Augen gar nicht fest genug vor dem Elend verschließen, das er verantwortet.
Während seine wie nebensächlichen Schilderungen der Kaltblütigkeit seines Vorgesetzten das Bild ergänzen, das Solja von ihrem hilflosen, überforderten Mann zeichnet, erzählt Dusja davon, was es heißt, Swyryds Angebote auszuschlagen: Sie ist Hannas Tochter. Und was es heißt, Soljas Mann als attraktive Abwechslung zu seiner eigenen Frau aufgefallen zu sein und unter der Androhung, dass andernfalls der jüngere Bruder dran glauben müsse, in den Dorfsowjet bestellt zu werden.
Solja indes wirkt die längste Zeit des Buchs wie eine Schlafwandlerin in Matschuchy: eingesperrt auf dem Gelände des Sanatoriums. Nur mit sich, den ärztlichen Verordnungen und ihrem Hund beschäftigt. In der Angst, ihren Oleksij zu verlieren, seinen Launen, seinen Schilderungen, seiner Zuwendung und Abneigung ergeben. Hier scheint die Sorgfalt der Autorin die längste Zeit ganz darauf abzuzielen, das Porträt einer Unbeteiligten zu zeichnen, die in der Lage ist, einigen Anzeichen und Irritationen zum Trotz zu ignorieren, was alles in der nächsten Nähe um sie herum passiert. Bis sie, von Dusja am Straßenrand aufgelesen und - "In Matschuchy herrscht Hunger, wissen Sie?" - notdürftig ins Bild gesetzt, überraschend selbstlos dann doch noch einen Rettungsversuch unternimmt.
Über Dutzende von Seiten schildert Tanya Pyankova, was passiert, wenn Menschen anderen das Menschsein absprechen, sie schildert Grausamkeit wie Gleichgültigkeit, vor allem aber das langsame Verhungern ihrer Figuren, körperlich wie psychisch. Kaum etwas, das Menschen einander antun können, von der Tötung von Säuglingen bis zu Kannibalismus, bleibt in diesem Roman ausgespart. Dass all diese Grausamkeiten im Holodomor keineswegs Erfindungen der Autorin sind, stellte Tanya Pyankova, 1985 in der ukrainischen Region Iwano-Frankiwsk geboren und nicht allein durch ihre Romane und Gedichtbände eine wichtige Gestalt in der Literaturszene ihres Landes, bei einer Lesung zur Frankfurter Buchmesse fest: Sie habe lediglich kombiniert und an einem imaginierten Ort versammelt, was sie in Dokumenten aus dieser Zeit gefunden hat.
Wie sie im Nachwort schreibt, handelt ihr Roman "vom grauenvollen, durch nichts zu rechtfertigenden Terror, den der Besatzungsstaat Russland bereits 1908 gegen die Ukraine begonnen hat und bis heute fortführt". Umgekehrt wäre es allerdings kurzsichtig, "Das Zeitalter der roten Ameisen" nur unter dem Eindruck des aktuellen russischen Angriffskriegs in der Ukraine zu lesen. Tanya Pyankovas Roman ist ein Zeugnis der Entmenschlichung und damit auch ein Zeugnis der Menschlichkeit in dunkler Zeit. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Tanya Pyankova: "Das Zeitalter der roten Ameisen". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten. Ecco Verlag, Hamburg 2022. 400 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Solja", sagt Arina ihr sanft, "es gibt keine Kulaken." Aber hatte ihr Oleksij nicht wieder und wieder von diesen Kulaken erzählt, die das eigene Land und Vieh, den eigenen Reichtum nicht mit anderen teilen wollten, die immer noch, Anfang der Dreißigerjahre des vergangenen Jahrhunderts, zu stolz oder zu faul sind, um in den Kolchosen zu arbeiten, und lieber ihre Kinder hungern lassen? Von diesen Verrätern des Volks, diesen Feinden des Vaterlands?
Und jetzt sollen es, wie Arina behauptet, "einfach Menschen" sein, "zum Hungertod verurteilt", Leute, denen man alles genommen hat, was sie besaßen, Familien, deren Väter nach Sibirien geschickt worden sind, deren Mütter gezwungen wurden, die Kinder sich selbst zu überlassen, um in der Kolchose zu arbeiten, die misshandelt und geschmäht, deren Häuser wieder und wieder auf den Kopf gestellt worden sind, weil sie vielleicht doch noch etwas Essbares versteckt hatten?
Wahrscheinlich hätte Solja, eine der drei Erzählstimmen in Tanya Pyankovas Roman "Das Zeitalter der roten Ameisen", weiterhin als Geschwätz abgetan, was sie von Arina gesagt bekommt, wenn nicht ihr kleiner Hund verschwunden wäre, nach dem frühen Tod ihres einzigen Kindes ihr ganzer Trost. Wenn Solja nicht allen Warnungen und Verboten zum Trotz in einem unbeobachteten Moment durch das Sanatoriumstor entwischt wäre, um selbst in Matschuchy nach ihrem Filja zu suchen und ein Elend vorzufinden, das für sie unvorstellbar war.
Was die junge Frau zusammen mit Dusja, einer neunzehn Jahre alten Kulakentochter aus dem Dorf, und Swyryd, einem Mann, der im Dorfsowjet als rechte Hand des Vorsitzenden Oleksij arbeitet, auf rund 380 Seiten erzählt, wird auch für die meisten Leser des Romans unvorstellbar sein und eine kaum erträgliche Lektüre bleiben, selbst für jene, denen die Bezeichnung "Holodomor" für die Hungerkatastrophe in der Ukraine vor neunzig Jahren mit ihren Millionen Todesopfern geläufig ist, eine Katastrophe, die erst im November vom Bundestag und vom EU-Parlament als sowjetischer Genozid am ukrainischen Volk anerkannt worden ist.
Eine Ahnungslose, ein Opfer und ein Opportunist: Tanya Pyankova hat die drei Blickrichtungen auf das Grauen, von dem sie erzählt, gut gewählt und fein verknüpft - auch über die Handlung hinaus. Dusja und Solja schildern am Anfang ihrer jeweils ersten Kapitel ähnliche Symptome entgegengesetzter Probleme. Bei beiden - "am Anfang ist es noch gar nicht so schlimm", heißt es fast gleichlautend beide Male - schwellen die Beine an, einmal infolge der Unterernährung, bei der anderen durch ihre Fresssucht.
Swyryd hat auch nach bald zwanzig Jahren nicht verwunden, dass seine Jugendliebe Hanna sich für seinen besten Freund Tomifej entschieden hat. Die Autorin gibt der Verzweiflung, der Verletztheit, der Wut dieser Figur Raum. Man glaubt diesem einfachen Mann, dass er sich nicht anders zu helfen weiß. Fast nimmt man ihm ab, dass es mehr ist als reine Erpressung, wenn er Hanna auf der Straße begegnet und anbietet, ihr zu essen zu geben, ihre Kinder zu retten, wenn sie ihn nur erhörte. Man glaubt seinem Schmerz, wenn sie ihn stehen lässt, auch wenn ihr Mann in Sibirien und sie selbst hilflos ist - und man steht fassungslos vor der Brutalität und Missachtung, mit der sich Swyryd zugleich ein paar Höfe weiter wieder und wieder an der Kulakentochter Tamara abreagiert, während deren Mutter draußen in der Winterkälte warten muss. Auch sie versorgt er heimlich mit dem Nötigsten, mit weniger als dem Nötigsten. Als Tamara schwanger wird, kann er in seiner Angst, Affäre und Unterstützung könnten auffliegen, seine Augen gar nicht fest genug vor dem Elend verschließen, das er verantwortet.
Während seine wie nebensächlichen Schilderungen der Kaltblütigkeit seines Vorgesetzten das Bild ergänzen, das Solja von ihrem hilflosen, überforderten Mann zeichnet, erzählt Dusja davon, was es heißt, Swyryds Angebote auszuschlagen: Sie ist Hannas Tochter. Und was es heißt, Soljas Mann als attraktive Abwechslung zu seiner eigenen Frau aufgefallen zu sein und unter der Androhung, dass andernfalls der jüngere Bruder dran glauben müsse, in den Dorfsowjet bestellt zu werden.
Solja indes wirkt die längste Zeit des Buchs wie eine Schlafwandlerin in Matschuchy: eingesperrt auf dem Gelände des Sanatoriums. Nur mit sich, den ärztlichen Verordnungen und ihrem Hund beschäftigt. In der Angst, ihren Oleksij zu verlieren, seinen Launen, seinen Schilderungen, seiner Zuwendung und Abneigung ergeben. Hier scheint die Sorgfalt der Autorin die längste Zeit ganz darauf abzuzielen, das Porträt einer Unbeteiligten zu zeichnen, die in der Lage ist, einigen Anzeichen und Irritationen zum Trotz zu ignorieren, was alles in der nächsten Nähe um sie herum passiert. Bis sie, von Dusja am Straßenrand aufgelesen und - "In Matschuchy herrscht Hunger, wissen Sie?" - notdürftig ins Bild gesetzt, überraschend selbstlos dann doch noch einen Rettungsversuch unternimmt.
Über Dutzende von Seiten schildert Tanya Pyankova, was passiert, wenn Menschen anderen das Menschsein absprechen, sie schildert Grausamkeit wie Gleichgültigkeit, vor allem aber das langsame Verhungern ihrer Figuren, körperlich wie psychisch. Kaum etwas, das Menschen einander antun können, von der Tötung von Säuglingen bis zu Kannibalismus, bleibt in diesem Roman ausgespart. Dass all diese Grausamkeiten im Holodomor keineswegs Erfindungen der Autorin sind, stellte Tanya Pyankova, 1985 in der ukrainischen Region Iwano-Frankiwsk geboren und nicht allein durch ihre Romane und Gedichtbände eine wichtige Gestalt in der Literaturszene ihres Landes, bei einer Lesung zur Frankfurter Buchmesse fest: Sie habe lediglich kombiniert und an einem imaginierten Ort versammelt, was sie in Dokumenten aus dieser Zeit gefunden hat.
Wie sie im Nachwort schreibt, handelt ihr Roman "vom grauenvollen, durch nichts zu rechtfertigenden Terror, den der Besatzungsstaat Russland bereits 1908 gegen die Ukraine begonnen hat und bis heute fortführt". Umgekehrt wäre es allerdings kurzsichtig, "Das Zeitalter der roten Ameisen" nur unter dem Eindruck des aktuellen russischen Angriffskriegs in der Ukraine zu lesen. Tanya Pyankovas Roman ist ein Zeugnis der Entmenschlichung und damit auch ein Zeugnis der Menschlichkeit in dunkler Zeit. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Tanya Pyankova: "Das Zeitalter der roten Ameisen". Roman.
Aus dem Ukrainischen von Beatrix Kersten. Ecco Verlag, Hamburg 2022. 400 S., geb., 22,- Euro.
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»Die Sprachgewalt von Pyankova [...] ist beeindruckend, kongenial übersetzt von Beatrix Kersten.« Wolfgang Koydl Die Weltwoche 20221110
Der Holodomor, die von der Sowjetregierung ausgelöste Hungersnot in der Ukraine der 1930er Jahre, bildet den Hintergrund von Tanya Pyankovas Roman, erzählt Rezensentin Olga Hochweis. Ein schwieriges Thema, dieses Kollektivtrauma, und eine Herausforderung, darüber zu schreiben, die Pyankova eindringlich und absolut überzeugend meistert, lobt die Kritikerin. Interessant findet sie nicht nur die dreifache Perspektivierung durch sehr unterschiedliche Figuren - auch, dass der Hunger als Personifizierung auftritt, verleiht dem Roman für sie eine zusätzliche, fast surreale Ebene. Eine "nachhallende Lektüreerfahrung", schließt Hochweis.
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Normalerweise liest man erst das Buch und anschließend das Nachwort. Trotzdem ist es sinnvoll, in diesem Fall sich erst dem Nachwort zuzuwenden, weil die Intention und Gestimmtheit der Autorin für das Buch wesentlich sind. Das Nachwort nimmt tatsächlich die Stelle eines Vorworts …
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Normalerweise liest man erst das Buch und anschließend das Nachwort. Trotzdem ist es sinnvoll, in diesem Fall sich erst dem Nachwort zuzuwenden, weil die Intention und Gestimmtheit der Autorin für das Buch wesentlich sind. Das Nachwort nimmt tatsächlich die Stelle eines Vorworts ein.
„Dieser Roman“, sagt sie, „handelt vom Unterschied zwischen den Ukrainern und den lügnerischen moskowitischen Horden, deren Methoden ständige Angriffskriege, Propaganda, Manipulation und Geschichtsfälschung sind“ (S. 287). Sie erhebt schwerste Vorwürfe gegen Russland. Sie sieht die aktuellen Kriegsereignisse als eine Fortsetzung des Genozids an, dem ihr Land und ihre Landsleute in den 30er Jahren ausgesetzt waren. Wieder „vergewaltigen russische Verbrecher ukrainische Frauen und Kinder, töten, zerstören, bestehlen sie mein Land, entwenden Getreide, setzen Felder in Brand“ (S. 286). Daher sei die Vergangenheit für sie aktueller denn je, denn „das durch den Völkermord verursachte Trauma“ (S. 287) sei nach wie vor spürbar und zeige sich nicht nur im öffentlichen Leben, sondern auch im privaten Bereich. Und hat man dieses Buch gelesen, wird einem wieder einmal klar, dass man die Vergangenheit kennen muss, um die Gegenwart zu verstehen.
Die Autorin entfaltet ihre Geschichte mit drei Stimmen, mit denen sie die Bandbreite der damaligen Gesellschaft abdecken kann und die Opfer und Täter gleichzeitig zu Wort kommen lassen. Da ist einmal Dusja, die Kulakentochter, deren Vater wie so viele Bauern in die Zwangsarbeit verschickt wurde, während die Mutter in der Kolchose arbeitet, ohne mit dem Verdienst ihre beiden Kinder ernähren zu können. Ihre Stimme erzählt dem Leser von dem großen Sterben in ihrem Dorf und ihre Versuche, mit Gras, Baumrinde, Schuhsohlen das Aushungern zu überstehen. Eine andere Stimme gehört Solja, der Frau des verantwortlichen Kommissars, die auch unter Hunger leidet – aber im Unterschied zur Dorfbevölkerung hungert sie in einem Sanatorium, um ihr Übergewicht zu reduzieren. Sie ist das Sprachrohr ihres Mannes, ein Opfer der Propaganda, die die Kulaken als Staatsfeinde sieht, und sie bricht zusammen, als sie mit der Wirklichkeit konfrontiert wird. Die dritte Stimme gehört einem Dorfbewohner, der sich zum Handlanger der Kommunisten macht und in ihrem Dienst arbeitet. Diese drei Stimmen sprechen jeweils für sich, aber im Verlauf der Handlung werden sie Stück für Stück immer dichter miteinander verwoben. Dazu kommt eine vierte Stimme, die die Autorin immer wieder zu Wort kommen lässt: das ist die Stimme des personifizierten Hungers, der mit baumelnden Beinen auf dem Ofen sitzt, der die Menschen begleitet, sie quält und sie verhöhnt. So entsteht ein in sich stimmiges Gesamtbild.
Das Gesamtbild ist schlimm. Wir lesen von Zwangsarbeit, von Propagandamaßnahmen und Täuschung, von der Zerstörung der Kirchen und ihres Kulturgutes, vom Personenkult um den „schnauzbärtigen Tod“ (S. 88), vom täglichen Einsammeln der Leichen, von gewalttätigen Requirierungen, von Treulosigkeit, Egoismus und vor allem von den verzweifelten Versuchen der Menschen, Nahrung zu finden: Frösche, Mäuse, Vögel, Insekten, Baumrinde, Gras, Erdwürmer, Spelzen etc., immer heimlich, um nicht angezeigt zu werden und den Roten Kommissaren in die Hände zu fallen. Wir lesen auch von Auswegen aus dieser Not, um die Essensrationen zu sichern: das Gemeinmachen mit den Kommissaren und die Erledigung von Hilfsdiensten und auch Prostitution. Wie Brecht schon sagte: „Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.“ Oder wie Dusja sagt: „Wir verlieren, was uns zu Menschen macht“ (S. 221). Die Autorin verschont ihre Leser auch nicht vor grausamen Szenen wie Kindsaussetzung, Ermordung von Neugeborenen und Kannibalismus.
Das Bild der Ameisen zieht sich durch das ganze Buch hindurch. Es sind die Roten Ameisen, in Anspielung an die Roten Kommissare, die als Bild für die menschenverachtenden und im übertragenen Sinn „gefräßigen“ Kommunisten immer wieder zitiert werden.
Das Buch enthält sehr viele innere Monologe und Reflexionen der drei Stimmen, und dadurch kommt es zu Redundanzen. Hier wären Straffungen angebracht gewesen. Ein weiterer Kritikpunkt ist das Pathos, das natürlich verständlich ist (s. Nachwort), aber doch gelegentlich zu dick aufgetragen ist. Sätze wie „Ihre nackte Wehrlosigkeit trifft wie die Sichel des Todes die schwankende Ähre des Menschenschicksals“ (S. 254) empfand ich als überzogen, aber auf der anderen Seite zeigen sie auch die starke und bildhafte Sprache der Autorin, die durchgängig zu beobachten ist.
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