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In einer nationalistischen Propagandaschrift wird kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Befindlichkeit der deutschen Gesellschaft mit den Worten "Überall Unsicherheit, überall Schwäche, überall Angst, Angst, Angst" beschrieben. Ausgehend von dieser zeitgenössischen Wahrnehmung untersucht der Historiker Joachim Radkau die spannende Frage, wie die wilhelminische Gesellschaft Nervosität als charakteristisches Leiden ihrer Zeit inszenierte. Anhand einer Fülle von Einzelbeobachtungen gelingt es ihm, die Nervosität als eine Wechselbeziehung zwischen kulturellem Konstrukt und echter Leidenserfahrung zu analysieren.…mehr

Produktbeschreibung
In einer nationalistischen Propagandaschrift wird kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Befindlichkeit der deutschen Gesellschaft mit den Worten "Überall Unsicherheit, überall Schwäche, überall Angst, Angst, Angst" beschrieben. Ausgehend von dieser zeitgenössischen Wahrnehmung untersucht der Historiker Joachim Radkau die spannende Frage, wie die wilhelminische Gesellschaft Nervosität als charakteristisches Leiden ihrer Zeit inszenierte. Anhand einer Fülle von Einzelbeobachtungen gelingt es ihm, die Nervosität als eine Wechselbeziehung zwischen kulturellem Konstrukt und echter Leidenserfahrung zu analysieren.
Autorenporträt
Joachim Radkau, Jahrgang 1943, lehrte als Professor bis 2009 Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld. Bei Hanser sind erschienen: Das Zeitalter der Nervosität (Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, 1998), Max Weber (Die Leidenschaft des Denkens, 2005) und Theodor Heuss (2013). Im Januar 2017 erscheint Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute. Joachim Radkau lebt in Bielefeld. 2015 erhielt er den Einhard-Preis.  
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.09.1998

Wer ist heute nicht neurasthenisch?
Eine originelle Deutung der Zeitgeistströmungen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs

Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, Carl Hanser Verlag, München 1998. 552 Seiten, 68,- Mark.

Im Jahre 1869 veröffentlichte der New Yorker Arzt George M. Beard in einer medizinischen Fachzeitschrift einen Aufsatz über psychosomatische Störungen und prägte dabei den Begriff der Neurasthenie. Damit fand er weite Resonanz, auch in Deutschland. Allerdings sprach man hier noch lange vorzugsweise von Nervenschwäche und benutzte damit einen Begriff weiter, der schon in der frühen Goethezeit begegnete. Zunehmend war dann die Rede von Nervosität. Nervenschwäche sei eine in diesem Jahrhundert immer häufiger werdende Störung des gesamten Nervensystems, hieß es in der großen Enzyklopädie des Meyer-Verlags im Jahre 1896. Es handle sich um keine eigentliche Krankheit, sondern um eine Funktionsstörung, die sich daraus ergebe, daß die Nerven im weitesten Sinne durch die wachsenden Anforderungen an die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit überfordert seien.

Der Bielefelder Historiker Joachim Radkau meint, man könne das gehäufte Auftreten der Neurasthenie ziemlich genau datieren, nämlich auf etwa 1880. War das Erwerbsleben im 19. Jahrhundert größtenteils noch von Gewohnheiten und einem natürlichen Rhythmus bestimmt, so geriet es jetzt in stürmische Bewegung. Zeit und Geschwindigkeit bekamen einen ganz anderen Stellenwert, Klagen über das ständige Hetzen und Jagen und über das Nicht-Fertigwerden mit der Arbeit mehrten sich. Hinzu kamen weitere Faktoren, der fortschreitende Prozeß der Industrialisierung, die Veränderung der Eßgewohnheiten und die Ausweitung der sitzenden Lebensweise. Die aus all dem resultierenden Störungen wurden schnell zum Massenphänomen. "Wer ist heute nicht neurasthenisch?" fragte der Psychiater Carl Pelman im Jahre 1900. Radkau hält es jedenfalls für gerechtfertigt, von einem Zeitalter der Nervosität zu sprechen - es umfaßte etwa das Menschenalter zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg.

Gestützt auf ein breites Quellenmaterial beschreibt er dieses Zeitalter in einer faszinierenden Kombination von Medizin- und Sozialgeschichte mit vielerlei Ausflügen auch in die Kulturgeschichte. Immer wieder blickt er vergleichend auf England, Frankreich und Amerika. Themen sind die Gründe und Symptome der Neurasthenie, die Abgrenzung zu Hysterie und Hypochondrie und zu den Nervenkrankheiten, die vielfältigen Therapievorschläge, die Einbettung der Debatte über die Nervenschwäche in die zahlreichen Reformbestrebungen der Zeit, Naturheilkunde, Anti-Alkoholismus, Schulprobleme, Stadthygiene zum Beispiel. Auch das Verhältnis von Neurasthenie und beginnender Sozialstaatlichkeit wird beleuchtet. Nervosität war ein Thema, "zu dem den Schreibern vieles einfiel", und Radkau vollzieht all das nach. Dem Leser eröffnen sich weite Perspektiven. Mitunter ist die Fülle der Eindrücke fast verwirrend. Die sehr scharfe Zäsur um 1880 wirkt künstlich.

Das Buch ist keineswegs nur als Medizin- und Sozialgeschichte gedacht, sondern auch als Beitrag zur politischen Geschichtsschreibung. Erst im vorletzten der fünf Kapitel ist allerdings viel von Politik die Rede, vorher begegnet sie nur am Rande. Jetzt aber, im letzten Drittel des Buches, liest man viel über die Hofgesellschaft, über den Kaiser, über die Weltpolitik mit ihren diffusen Zielsetzungen, über die politische Befindlichkeit der Deutschen überhaupt. Manche dieser Aussagen nimmt man mit Verwunderung auf, so die lapidare Bemerkung, der Englandhaß habe mit der Zeitkrankheit Neurasthenie zu tun gehabt, oder die Ansicht, die große Resonanz des Bülow-Wortes vom ,Platz an der Sonne' erkläre sich auch daraus, daß der Orient eine Chiffre für sexuelle Träume gewesen sei. Es ist aber gern zugegeben, daß der Neurastheniediskurs zu erheblichen Teilen eine halb verdeckte Debatte über Sexualität war.

Die Außenpolitik spielt in Radkaus Erörterungen eine große Rolle. Er meint, daß eine abwartende Politik der freien Hand, die sich alle Optionen offenhielt, der sinnvollste Kurs gewesen wäre, den das Reich hätte steuern können. Aber in der politischen und intellektuellen Führungsschicht breitete sich die These immer mehr aus, daß Deutschland keine Zeit habe. So kam es zu dem unsteten und hektischen Suchen nach Möglichkeiten des Gebietserwerbs, und damit wurde die Außenpolitik "zur neurasthenischen Entschlußlosigkeit".

Das abschließende Kapitel trägt den Titel ,Die Wende zum Willen und die Entfesselung des Weltkrieges'. Hier legt Radkau zunächst dar, daß der Willensbegriff und das energetische Denken in der Nervositätsdebatte schließlich eine erhebliche Rolle spielten, namentlich in der Populärpsychologie. Das Gerede über die Nervenschwäche habe am Ende eine ungeheure Sehnsucht nach ,Nervenstärke' erzeugt. Der Autor meint, daß auch Bethmann Hollweg zu jenen Willensschwächlingen gehört habe, die ganz im Geist der neuen Nerventherapie ihre Schwäche als planmäßig überwindbares Manko begriffen. Dem Reichskanzler stellt er andere prominente ,Mutheroen' an die Seite, natürlich Wilhelm II., aber auch Walter Rathenau, Max Weber, Friedrich Naumann. Sie alle entwickelten ein Verhaltensmuster, "das unter den Bedingungen der Julikrise von 1914 auf Krieg hinauslief". Es liegt auf der Hand, daß damit der Kriegsausbruch sehr verengt gesehen wird. Zuzustimmen ist Radkau aber darin, daß die Geschichtsforschung bisher über das ,Nervenlamento' hinweggelesen hat.

Der Autor sagt am Schluß seines überall anregenden Buches, er habe mit der Zeit eine gewisse Allergie gegen "jede modische Art von Kultur- und Körper-, Mentalitäts- und Modernitäts-, Zeitbewußtseins- und Jahrhundertwende-Geschichte" bekommen. So habe er eine Sehnsucht nach trennscharfen Deutungsmustern und einer präzisen Unterscheidung dessen entwickelt, "was sich beweisen läßt und was nicht". Im letzten Kapitel erfüllte sich dieser Wunsch nicht ganz.

HANS FENSKE

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