Produktdetails
  • Verlag: Berlin, Wagenbach
  • ISBN-13: 9783803112187
  • ISBN-10: 3803112184
  • Artikelnr.: 11799735
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 06.10.2003

Der Meisterkoch
Leonardo Sciascia forscht
Die deutsche Fassung des berühmtesten Buches von Leonardo Sciascia wird seit 1978 alle paar Jahre neu herausgebracht, damit nachwachsende Generationen keine Chance haben, Ettore Majorana etwa für einen italienischen Meisterkoch zu halten. Der Sizilianer, der am 26. März 1938 zwischen Neapel und Palermo spurlos verschwand, nachdem er brieflich seinen Selbstmord avisiert und die Ankündigung dann widerrufen hatte, war einer der begabtesten Physiker des zwanzigsten Jahrhunderts. Das ist schon deshalb bemerkenswert, weil Sizilien, wie Sciascia ausführt, bis dahin „mehr als zwei Jahrtausende” keinen bedeutenden Wissenschaftler hervorgebracht hatte. Ettores Lehrer Enrico Fermi attestierte seinem Studenten, er sei ein Genie „wie Galilei und Newton”. Doch erst durch sein Verschwinden wurde der 1906 geborene Majorana zu einer mythischen Figur, an der sich zeitlose Spekulationen über die ethischen Grenzen der Forschung und die Verantwortung der Forschenden festmachen lassen.
Fermi und seine Mitarbeiter in Rom waren in den frühen dreißiger Jahren zu den Grundlagen der Kernspaltung vorgedrungen, ohne sich über die Konsequenzen im klaren zu sein. Ettore Majorana hatte noch vor Werner Heisenberg, den er 1933 in Leipzig besuchte, Bahnbrechendes zur Kerntheorie beigetragen, sich jedoch geweigert, seine Arbeit zu veröffentlichen. Vieles deutet darauf hin, dass er die furchtbaren Folgen der Entdeckung voraussah, auch wenn es sich dabei mehr um eine visonäre Ahnung als um eine fundierte Erkenntnis handelte. Wollte er sich der weiteren Arbeit an dem Projekt entziehen, die Menschheit vor seiner Genialität schützen? Der politisch engagierte, kriminalistisch bewanderte Leonardo Sciascia hat Fakten und Mutmaßungen, biographische und zeitgeschichtliche Hintergründe, literarische Bezüge und moralische Erwägungen eigenwillig vermischt; einen Thriller darf man freilich nicht erwarten. Durch Fotos und Handschriften-Faksimiles gewinnt die neue Ausgabe an dokumentarischer Anschaulichkeit.
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LEONARDO SCIASCIA: Das Verschwinden des Ettore Majorana. Aus dem Italienischen von Ruth Wright und Ingeborg Brandt. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2003. 96 Seiten, 12,90 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Alle paar Jahre mal wird dieses bereits 1978 erschienene Buch des sizilianischen Autors Leonardo Sciascia neu herausgegeben, weiß Kristina Maidt-Zinke und bescheinigt der Neuausgabe des Wagenbach-Verlages dank eines Foto-Teils und der Handschriften-Faksimiles eine hinzugewonnene "dokumentarische Anschaulichkeit". Einen Thriller sollte man nicht erwarten, klärt Maidt-Zinke auf, auch wenn "Das Verschwinden des Ettore Majorana" einen kriminalistischen Hintergrund vermuten lasse. Denn Majorana, wie Sciascia Sizilianer, war nicht etwa ein italienischer Meisterkoch, sondern ein Physiker, der wirklich gelebt hat. Er verschwand im September 1938 spurlos, und bis heute weiß man nicht, ob er seinen erst angekündigten und dann widerrufenen Selbstmord tatsächlichen begangen hat oder nicht. Majorana hat noch vor Heisenberg bahnbrechende Entdeckungen in der Kerntheorie gemacht, aber nicht veröffentlicht, erzählt unsere Rezensentin. Vieles spreche dafür, dass den Physiker dunkle Vorahnungen über die furchtbaren Konsequenzen seiner Entdeckung beschlichen hätten. Sciascia hat in seinem Buch Fakten und Vermutungen, Verschwörungstheorien und geschichtliche Hintergründe, literarische Bezüge und eigene moralische Erwägungen in einer eigenwilligen aber interessanten Mischung zusammengebracht, so die Rezensentin.

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