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In Chicago spiegeln sich wie in einem Brennglas Entwicklungen, die die Geschichte der industriellen Moderne geprägt haben und die Zukunft nicht nur Amerikas, sondern auch des alten Kontinents bestimmen werden. Wie sehr der als fundamentalistische Religion praktizierte Kapitalismus das Leben der Menschen prägt, zeigt sich nicht nur in der Geschichte der großen Arbeitskämpfe; in Chicago entstanden auch die ersten Schlachthöfe. Marco d'Eramo entschlüsselt die interne Dynamik eines Ortes, der zugleich ein System ist.

Produktbeschreibung
In Chicago spiegeln sich wie in einem Brennglas Entwicklungen, die die Geschichte der industriellen Moderne geprägt haben und die Zukunft nicht nur Amerikas, sondern auch des alten Kontinents bestimmen werden. Wie sehr der als fundamentalistische Religion praktizierte Kapitalismus das Leben der Menschen prägt, zeigt sich nicht nur in der Geschichte der großen Arbeitskämpfe; in Chicago entstanden auch die ersten Schlachthöfe. Marco d'Eramo entschlüsselt die interne Dynamik eines Ortes, der zugleich ein System ist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.08.1997

Uns ist alles Wurst
Auf einmal führte ein Zug nach Nirgendwo: Marco D'Eramo erzählt vom gesunden Selbstvertrauen der Bürger Chicagos

Schon nach den ersten zwei Kapiteln möchte man sich die Not des Lektors vorstellen, der Marco D'Eramos Melange aus Reisebericht, weltanschaulich gefärbten Exkursen und soziologischen Betrachtungen in eine der gängigen Rubriken einzusortieren hatte. So ist der Titel fast so schlau wie das Buch selbst: "Das Schwein und der Wolkenkratzer" heißt es derart kryptisch-arglos, daß auch die Verwunderung über den Zusatz rasch verstreicht. Der verspricht anhand von D'Eramos Ausführungen über Chicago eine "Geschichte unserer Zukunft", ein verlegerischer Etikettenschwindel, den D'Eramo gar nicht nötig hat. "Das Schwein und der Wolkenkratzer" ist eine jener raren Publikationen, die bei allem Herzeigen von Gelehrsamkeit auch noch vergnüglich sind.

Ganz Bürger der Alten Welt, bewegt Marco D'Eramo sich von der Vergangenheit Chicagos in die Gegenwart und von dort aus nicht weiter: Die Ära der Schweinewirtschaft und der sich über Meilen erstreckenden Schlachthöfe ist vorbei. Und auch die Wolkenkratzer zeugen nicht von einem Morgen, sondern von einem gut hundert Jahre währenden Heute. Quasi mit offenem Mund steht der italienische Reisende wie wohl die meisten Europäer vor dieser Stadt und sucht nach übergreifenden Zusammenhängen, die die ungeheuerliche Rasanz ihres Auf und Ab in vertrautere Dimensionen übersetzen.

Wer in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Chicago geboren wurde, verbrachte seine Kindheit zusammen mit zweihundert Mitbürgern im Nirgendwo. Wenige Jahrzehnte später war Chicago zu einer lauten, übelriechenden Handelsmetropole geworden, der größten der Welt. Nirgendwo wurden mehr Holzstämme verschoben, größere Menge prall gefüllter Getreidesäcke ge- und verkauft, derart viele Schweine geschlachtet, zerteilt, gepökelt und weitertransportiert. Chicago wuchs mit der Eisenbahn. Das stetig größer werdende Schienennetz erforderte einen Knotenpunkt, einen Zielbahnhof für Waren aus dem Osten und Ausgangspunkt für Strecken in den Westen. Aus der Grand Central Station schoben sich meilenlange Frachtzüge über den Kontinent.

Als Organismus sah sich die Stadt denn auch selbst und beschrieb jede ihrer Wucherungen bis hinunter in die kleinsten Einheiten. Dieser unermüdlichen Beschäftigung mit sich selbst verdankt Marco D'Eramo das Material für sein Buch, das er mit ausgiebigen Streifzügen durch das heutige Chicago komplementiert. In diesen Passagen ist er ein klassischer Reiseautor, der seinen Wahrnehmungen so weit traut, daß er auch private Eindrücke von Lebensart und -unart in seinen Bericht aufnimmt. Das Art Institute of Chicago, in dem die Exponate nach Mäzenaten und nicht nach Künstlern oder Epochen geordnet sind, verwandelt sich so in eine Tempelanlage, die Chicagos Glauben an "die befreiende Kraft des Kapitals" zelebriert.

In D'Eramos Betrachtung spiegelt Chicagos Werdegang den amerikanischen Traum vom Aufstieg des Tellerwäschers zum Millionär. Der Mythos gründet auf den unerschütterlichen Glauben von Wurstfabrikanten und Eisenbahnen an das eigene Leistungsvermögen, eine Spielart kindlichen Narzißmus, der alles von sich ableitet und zu sich selbst zurückführt. Die mächtigen Gesellschaften und Bankiers, die quirligen Erfinder von Kühlwaggons und Luxuskabinen - sie alle waren zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

Der "Automobilkapitalismus", schreibt D'Eramo, sei der Anfang von Chicagos Fall gewesen, der aus solch schwindelnder Höhe erfolgte, als hätten inmitten des technischen Fortschritts doch launische Götter die Hände im Spiel gehabt. Industrieanlagen zeugen in erster Linie von Zweckmäßigkeit; nimmt man sie ihnen, sind sie an Pathos kaum zu überbieten. Noch mehr als ihre abgehalfterten Bauherren führen die Ruinen den Geschäftsgeist ad absurdum, der mit allem gerechnet hatte, nur nicht damit, daß sein Kalkül ins Leere läuft.

D'Eramo integriert solche Irrationalitäten in die Beschreibung dessen, was er sich als die den Entwicklungen innewohnende Logik denkt. Seine "Logik der fixen Kosten" etwa gleicht einer Regelpoetik, die neben der Dauer der Passagen auch Fallhöhe und Dynamik der Komposition festlegt. Indem er solche Schrittfolgen vorgibt, löst D'Eramo im Ansatz das im deutschen Untertitel so unvorsichtig gegebene Versprechen einer Archäologie unserer Zukunft ein. NADIA ABUN-NASR

Marco D'Eramo: "Das Schwein und der Wolkenkratzer". Chicago: Eine Geschichte unserer Zukunft. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Verlag Antje Kunstmann, München 1996. 464 S., geb., 48,- DM.

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