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Produktdetails
  • Verlag: Piper
  • ISBN-13: 9783492041768
  • ISBN-10: 3492041760
  • Artikelnr.: 23977049
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.06.1998

Tausend Jahre Glückseligkeit
Oder: Was bedeutet schon eine Generation? / Das Schwarzbuch zu den Jahrhundertverbrechen der Kommunisten

Stéphane Courtois, Nicolas Werth, Jean-Louis Panné, Andrzej Paczkowski, Karel Bartosek, Jean-Louis Margolin: Das Schwarzbuch des Kommunismus. Unterdrückung, Verbrechen und Terror. Aus dem Französischen von Irmela Arnsperger, Bertold Galli, Enrico Heinemann, Ursel Schäfer, Karin Schulte-Bersch, Thomas Wollermann. Piper Verlag, München 1998. 998 Seiten, 32 Seiten Abbildungen, 68,- Mark.

Am 5. April 1945 befreiten amerikanische Truppen das Konzentrationslager Ohrdruf nicht weit von Gotha. General Walker, der amerikanische Kommandeur, zwang den Bürgermeister von Ohrdruf und dessen Frau zum Marsch durch die Stätte des Grauens. Nach Hause zurückgekehrt, erhängten sich die beiden.

Etwas Ähnliches wie General Walker tun nun Stéphane Courtois und zehn Historiker, Politikwissenschaftler und Journalisten mit ihrem "Schwarzbuch des Kommunismus": Sie zwingen ihre Leser zum Marsch durch sowjetische GULags, chinesische Laogai-Lager, kubanische Kerker und kambodschanische "Killing Fields" - weltweit hundert Millionen Opfer kommunistischer Herrschaft errechnet Courtois. Selbstmorde wie damals in Ohrdruf wird man heute aber nicht befürchten müssen. Die französischen Kommunisten wehren sich wütend gegen die Zumutung, die Courtois und seine Autoren ihnen bereiten. Die deutsche DKP hat sich in ihrer Parteizeitung schon über "die Verteufelung des Kampfes um eine sozialistische Zukunft" empört.

Helfen wird es ihnen nicht. Courtois' Bilanz des kommunistischen Gesellschaftsexperiments erzielt schon große Wirkung. In Frankreich, wo das "Schwarzbuch" vergangenen November erschien - pünktlich zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution -, waren bald 150 000 Exemplare des achthundertseitigen Buches verkauft, im Februar in Italien nach nur vierzehn Tagen 120 000. Der Piper Verlag hat nun die deutsche Übersetzung mit einer Startauflage von 100 000 Exemplaren herausgebracht.

"Könnte man nicht das soziale und politische Kräfteverhältnis in einem Staate radikal ändern? Zum Beispiel durch - die Ausrottung bestimmter Klassen der Gesellschaft?" Felix Dserschinskij stellte im August 1917 diese Überlegung an. Nur ein paar Wochen nach der Oktoberrevolution betraute Lenins Sowjetregierung ihn mit der Bildung der "Tscheka" - der "Allrussischen Sonderkommission zum Kampf gegen die Konterrevolution, die Spekulation und die Sabotage", so die vollständige Bezeichnung der politischen Terrortruppe. Später wurde daraus der KGB.

Am 5. September 1918 proklamierte Lenins Regime den "Roten Terror" und forderte "Konzentrationslager" und "summarische Erschießungen". Innerhalb zweier Monate richtete Dserschinkijs "Tscheka" zehn- bis fünfzehntausend Menschewiken, Sozialrevolutionäre, Offiziere, Polizisten, Verwaltungsbeamte, streikende Arbeiter, Kulaken genannte selbständige Bauern hin. Mit dem Bürgerkrieg, schreibt der Historiker Nicolas Werth - er ist verantwortlich für den 250 Seiten langen Beitrag über den Kommunismus in der Sowjetunion -, hatte Lenins "Roter Terror" wenig zu tun. Der Petersburger Parteiführer Grigorij Sinowjew erklärte, ebenfalls im September 1918, worum es ging: "Um unsere Feinde zu vernichten, brauchen wir unseren eigenen sozialistischen Terror. Von den hundert Millionen Einwohnern des sowjetischen Rußland müssen wir etwa neunzig Millionen auf unsere Seite ziehen. Was die anderen angeht, so haben wir ihnen nichts zu sagen. Sie müssen ausgelöscht werden."

Für die neunzig Millionen - im agrarischen Rußland von 1918 war das vor allem die bäuerliche Landbevölkerung - war das kein Versprechen, sondern eine Drohung. Die Sowjetregierung unterwarf sie einer unerbittlichen Versorgungsdiktatur. Requisi-tionsarmeen durchzogen plündernd und mordend das Land. Bauernunruhen brachten die Sowjetregierung in Bedrängnis. Die "Tscheka" richtete nun, so Werth, "Konzentrationslager" ein. Die Rote Armee setzte Artillerie, Flugzeuge und selbst Gasmunition ein.

Folge der Massaker und der Requisitionsexzesse war die "Große Hungersnot" von 1920 bis 1922. Fünf Millionen Menschen verhungerten. Für einen Augenblick mußte selbst Lenin zurückweichen. Seine "Neue Ökonomische Politik" ersetzte 1921 die willkürlichen Requisitionen durch Naturalsteuern. Aber das sollte nur ein kurzer Waffenstillstand im Krieg der Sowjetregierung gegen die Landbevölkerung sein. 1929 nahm Stalin eine schlechte Ernte zum Anlaß, um die "totale Kollektivierung" und die "Liquidierung des Kulakentums als Klasse" zu verkünden. Wieder wehrten sich die Bauern - vergeblich. Mehr als zwei Millionen von ihnen wurden deportiert, Hunderttausende kamen um.

Die mörderischste Waffe des Sowjetregimes war der Hunger. Stalin, schreibt Werth, setzte sie planmäßig ein: Sechs Millionen Bauern verhungerten 1932/33, vor allem in der Ukraine. Stalin berichtete später dem britischen Premierminister Churchill von zehn Millionen Opfern: "Aber wir mußten es tun, um unsere Landwirtschaft zu mechanisieren. Am Schluß hat sich die landwirtschaftliche Produktion verdoppelt. Was bedeutet schon eine Generation?" Churchills Leibarzt Lord Moran hat Stalins Worte in seinem Tagebuch festgehalten.

Von den Terrorjahren 1936 bis 1938 hat man im Westen vor allem die spektakulären Moskauer Schauprozesse in Erinnerung, mit denen Stalin sich tatsächlicher oder vermeintlicher innerparteilicher Gegner entledigte. Tatsächlich war Stalins "Großer Terror" eine gigantische Gleichschaltungsaktion. Nicht nur die Partei war gemeint, sondern die ganze Gesellschaft: Alle Überreste der alten, vorrevolutionären Ordnung sollten verschwinden und mit ihr die alten bolschewistischen Kader aus der Bürgerkriegszeit.

Entsprechend dehnbar war die Definition der Opfer, die das Politbüro vorgab: "kriminelle Elemente", "sozial gefährliche Elemente", "ehemalige Kulaken", "Angehörige antisowjetischer Parteien", "zaristische Funktionäre". "Spion" war jeder, der mit dem Ausland in Berührung gekommen war: Bewohner von Grenzregionen, Angehörige nationaler Minderheiten, zurückgekehrte Kriegsgefangene, Amateurfunker, Briefmarkensammler, jeder, der eine Fremdsprache sprach. Politbüro und NKWD in Moskau gaben für das ganze Land Verhaftungs- und Hinrichtungsquoten vor, die regelmäßig "übererfüllt" wurden: planwirtschaftlich betriebener Massenmord. Knapp 700 000 Hinrichtungen errechnet Werth für 1937 und 1938. 362 Listen mit Todesurteilen hat Stalin selbst unterzeichnet.

1926 schlug Dserschinskij vor, "die unwirtlichen Zonen unseres Landes mit den parasitären Elementen aus unseren Städten zu bevölkern, nach einem vorbereiteten und von der Regierung bestätigten Plan". Die GPU, wie Dserschinskijs "Tscheka" nun hieß, beschloß, die Arbeitskraft der Gefangenen systematisch auszubeuten. Riesige Kolonisierungsprojekte entstanden. Pharaonische Bauvorhaben am Weißen Meer, in Sibirien, verlangten nach Arbeitskräften. 1929 war das der Hintergrund der "Dekulakisierung", "der massenhaften Deportation der selbständigen Bauern". Die Sowjetunion war ein Sklavenstaat. Zwischen 1935 und 1941 stieg die Zahl der GULag-Häftlinge von 965 000 auf 1,9 Millionen - unter ihnen befanden sich viele polnische und baltische Opfer des Hitler-Stalin-Paktes. Deportationen aus "befreiten" und annektierten Gebieten ließen die Häftlingszahlen auch nach Kriegsende weiter wachsen. 2,75 Millionen waren es, als Stalin am 5. März 1953 starb. Anfang der sechziger Jahre stabilisierte sich die Zahl der GULag-Häftlinge bei 900 000.

Zwischen den Kriegen steuerte Moskau kommunistische Umsturzversuche in Deutschland, Ungarn, Bulgarien. Erfolg war ihnen nicht beschieden. 1936 bis 1939, schreibt Courtois, "gab Spanien das Experimentierfeld ab", auf dem Moskau die Techniken kommunistischer Machtergreifung testete, die dann ab 1945 in Osteuropa Anwendung fanden: Spanien sollte die erste Volksdemokratie werden. Hinter der Bürgerkriegsfront operierten schon sowjetische Henker.

Einen "langen Marsch in die Nacht" nennt Jean-Louis Margolin - der Historiker und Südostasien-Spezialist schrieb das hundertseitige Kapitel über den chinesischen Kommunismus - Chinas kommunistische Erfahrung. Sechzig Millionen Menschen fanden dabei den Tod. Im Gewaltakt, im "großen Sprung nach vorne", wollte Mao 1958 die kommunistische Gesellschaft verwirklichen: Auf dem Lande wurden Tausende, Zehntausende von Familien zu riesigen "Volkskommunen" zusammengeschlossen. Gigantische agrarische Produktionszentren entstanden: Der Unterschied zwischen agrarischer und industrieller Produktion sollte aufgehoben werden.

"Drei Jahre der Anstrengungen und der Entbehrungen, tausend Jahre Glückseligkeit" verhieß die Propaganda. Aus taktischen Gründen hielt Mao an dem Unternehmen auch dann noch fest, als sich die Katastrophe schon abzeichnete. Die schlimmste Hungersnot der Weltgeschichte war die Folge. Zwischen 1959 und 1961 verhungerten dreißig Millionen Chinesen. Auf dem Lande spielten sich gräßliche Szenen ab. Kannibalismus war verbreitet: Verzweifelte Familien tauschten ihre Kinder, um sie dann zu essen. Ganz zurückgekehrt vom "langen Marsch in die Nacht" ist China auch heute noch nicht.

Hatte Pol Pots Terrorherrschaft überhaupt etwas mit Kommunismus zu tun? Die geläufige Formulierung vom "kambodschanischen Steinzeit-Kommunismus" soll Zweifel wecken. Aber die Verbindungen zwischen Maoismus und Pol-Potismus sind offensichtlich, Bezüge zum Marxismus-Leninismus europäischer Prägung ebenfalls: Pol Pot kam zum Kommunismus während des Studiums in Paris. Er war sozusagen französischer Kommunist. Margolin hält für möglich, daß der Pol-Potismus nicht Entgleisung war, sondern vielmehr enthüllende Karikatur der kommunistischen Utopie.

Wie Mao wollte auch Pol Pot die kommunistische Gesellschaftsutopie auf einen Schlag verwirklichen. Nur noch schneller sollte es gehen, unter völligem Verzicht auf Übergangsphasen: Innerhalb zweier Jahre war die Kollektivierung des Agrarstaates abgeschlossen. Soziale Unterschiede wurden erledigt durch die Auslöschung der besitzenden Schichten, der Intellektuellen, der Kaufleute. Der Gegensatz zwischen Stadt- und Landbevölkerung wurde in einer Woche beseitigt: Die Städter wurden aufs Land getrieben. Die Abschaffung des Geldes war konsequent: Wer den freien Handel, den freien Markt, die freien Preise abschafft, ist von der Abschaffung der Währung nicht mehr weit entfernt.

Man mußte die Utopie nur wollen, wirklich wollen. In nur dreieinhalb Jahren ermordeten Pol Pots Rote Khmer zwei Millionen Kambodschaner, ein Viertel der Bevölkerung des Landes: "Für das Land, das wir aufbauen wollen, genügen eine Million gute Revolutionäre. Die anderen brauchen wir nicht. Lieber erschießen wir zehn Freunde, als daß wir einen Feind am Leben lassen." 1979 setzte der Einmarsch der vietnamesischen Armee dem Grauen ein Ende.

Über die Frage, ob Kommunisten für sich in Anspruch nehmen können, die Vision von der besseren, gerechteren Welt zu vertreten, ist in den vergangenen fünfzig Jahren oft gestritten worden. Am 11. April 1948 hatte Raymond Aron, der Denker der totalitären Erfahrung unseres Jahrhunderts, in der Pariser Tageszeitung "Le Figaro" eine Antwort parat, für die er seither gehaßt worden ist: "Wer ein Regime, das Konzentrationslager einrichtet und eine politische Polizei unterhält, die jene der Zaren weit übertrifft, als Station auf dem Weg zur Befreiung der Menschheit betrachtet, der verläßt die Grenzen selbst der für Intellektuelle noch erträglichen Idiotie."

Es ist schwer, Courtois' und seiner Autoren "Schwarzbuch" zu lesen und sich nicht an den Historikerstreit vor zwölf Jahren zu erinnern. Der Historiker und Faschismusforscher Ernst Nolte hatte damals die nationalsozialistische neben die kommunistische Gesellschaftsutopie gestellt und einen Zusammenhang zwischen nationalsozialistischem "Rassenmord" und kommunistischem "Klassenmord" gesehen. Der Weltkriegshistoriker Andreas Hillgruber glaubte für das letzte Kriegshalbjahr in der deutschen Kriegführung an der Ostfront auch Elemente eines Abwehrkrieges zu erkennen. Beides hätte man in aller Ruhe für plausibel oder unplausibel halten können. Der Frankfurter Soziologe Jürgen Habermas und der Bielefelder Historiker Hans-Ulrich Wehler warfen Nolte und Hillgruber "apologetische Tendenzen" - Verharmlosung des Nationalsozialismus - vor. Den Vorwürfen folgte eine Kampagne. Nolte wurde von Fanatikern tätlich angegriffen, Hillgruber öffentlich als "konstitutioneller Nazi" beschimpft. Habermas und Wehler haben seither nie etwas zurückgenommen.

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