Holmes. Kehlweiler ist volkstümlich. Am liebsten sind ihm altmodische Cafés, in denen die sozialen Klassen ungetrennt verkehren, und seine Gehilfen sind wie er Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft, eine alte Nutte mit goldenem Herzen, ein verkrachter, aber freiheitsliebender Mediävist, ein barfüßiger Prähistoriker, der wie seine Studienobjekte, die Vormenschen, über primitive Instinkte verfügt, der hört, sieht und riecht, wo andere nicht das geringste wahrnehmen, und außerdem noch über gewaltige Körperkräfte verfügt.
Wie Maigret ist Kehlweiler nichts Menschliches fremd. Ihm ist egal, ob jemand bettelarm oder reich, hetero- oder homosexuell ist, Rang und Ansehen hat oder nicht, dieser oder jener ethnischen Gruppe angehört. Er haßt nur eines: das Verbrechen, den ungesühnten Mord. Wenn die offiziellen Behörden längst aufgegeben haben, hält er zäh an dem Fall fest, dem er einmal Aufmerksamkeit geschenkt hat. Ungleich Maigret und dem venezianischen Commissario Brunetti ist er nämlich nicht bei der Polizei, sondern arbeitet auf eigene Faust. Den staatlich bestallten Verbrecherjägern ist er haushoch überlegen: darin ähnelt er Sherlock Holmes. Allerdings hat er seine Freunde bei der Polizei, die ihn mit Informationen versorgen, jedoch nur in den unteren Rängen, die höheren Chargen verachtet er und weist ihnen gerne Inkompetenz nach, wie Brunetti. Im Gegensatz zu Maigret und wie Sherlock Holmes ist er unverheiratet, und ein nicht geringes Nebeninteresse wird durch seine Beziehungen zu den ihm begegnenden Frauen erweckt, die er nicht nur nach detektivischen Gesichtspunkten beurteilt. Überhaupt erfährt man mehr über ihn, seine persönlichen Umstände und seine Herkunft als über die meisten Helden der Kriminalliteratur; etwa, daß er am Ende des Zweiten Weltkriegs als Sohn eines desertierten deutschen Soldaten und einer französischen Freiheitskämpferin geboren ist. Daher auch sein Abscheu vor dem Rechtsradikalismus. Bevor man ihn freilich der "political correctness" beschuldigt, sollte man sich überlegen, ob deren Gegenteil, die "political incorrectness", nicht noch schlimmer ist.
Sherlock Holmes ähnelt Kehlweiler am meisten durch seine unheimliche Gabe der Deduktion, die aus unscheinbaren Indizien schreckliche Zusammenhänge ableitet und aufklärt. Das kommt daher, daß er mit beiden Seiten seines Gehirns arbeitet, der rationalen, des kalten Kalküls fähigen und der divinatorischen, die ahnt und dumpf empfindet, ihn aber auf die rechte Fährte bringt. Durch ein winziges Knöchelchen, das er mit seinen Luchsaugen in einem halb vom Regen weggewaschenen Hundehaufen entdeckt, wird ein weit entfernt von Paris, in der Bretagne, geschehener Unfall zu einem Mord, den Kehlweiler mit verblüffendem Scharfsinn rekonstruiert und durch den nicht nur weit zurückliegende, unerkannte Untaten ans Tageslicht gezerrt, sondern neue, in der Zukunft liegende verhindert werden. Verfitzt mit diesen Ermittlungen sind alte Liebesgeschichten und während der NS-Zeit an Mitgliedern der Résistance verübte Verbrechen. Und so wird dieser Krimi sogar noch zum Polit-Thriller, der sich schürzende Knoten wird zu einem gewaltigen Knäuel, das Louis in einer seitenlangen Rede entwirrt. Auch dieser Erhellungsbericht gehört zu den Traditionen des Genres.
Es wäre töricht, die Verfasser von Detektivromanen wegen solcher Vorgegebenheiten zu verachten, ebenso wie es töricht wäre, etwa Hals-Nasen-Ohren-Ärzte geringer zu schätzen als die Ausüber einer anderen medizinischen Sparte. Wie Ärzte sind Krimiautoren Spezialisten, die als Professionelle nicht danach beurteilt werden sollten, was sie schreiben, sondern wie gut sie es machen. Wenn sie interessante Fälle konstruieren wie Frau Vargas, anziehende Gestalten einführen, Einblicke in ein Milieu vermitteln, fesselnde Gespräche erfinden, Anteilnahme und Spannung erzeugen und vielleicht sogar einen Schuß humaner Weltanschauung dazutun, dann erfüllen sie die Möglichkeiten, die in ihrem Fach stecken, und dürfen darin als Meister gelten.
EGON SCHWARZ
Fred Vargas: "Das Orakel von Port-Nicolas". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Tobias Scheffel. Aufbau-Verlag, Berlin 2001. 285 S., geb., 18,50 [Euro].
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