dieser Messias nämlich das richtige Leben im falschen vor: als New-Age-Gemeinschaft, inklusive freien Sexes und Gemüseanbau.
Bis es so weit ist, bis Ben, so der Name des Erlösers, im Grünen lebt, muss er seinen Leidensweg abschreiten. Der führt ihn hinaus aus der Enge einer jüdisch-orthodoxen Familie in die Weiten der Großstadt. Zwischen Brooklyn und Harlem ist genügend Raum für Offenbarungen. Es treten auf: die drogensüchtige Maria Magdalena; der schwule Clubgänger Jeremias; der zum Christentum konvertierte Jude Jakob; der FBI-Agent Johannes; Lukas, ein Kreationist und Abtreibungsgegner; Markus, der katholische Priester; Judith, die kleine Angestellte mit ebenjener Farm im New Yorker Hinterland, wo man dann friedlich der Weltauslöschung entgegengärtelt.
Das Buch ist aus den Berichten dieser Figuren zusammengestückelt; der Kunstgriff, ein Thema durch die Geschichten verschiedener Erzähler zu beleuchten, ist nicht neu - siehe Neues Testament -, aber wer hätte gedacht, dass das Verfahren zu einer derart knackigen Kolportage taugt? Maria Magdalena ist, wie gesagt, crackabhängig. Der FBI-Mann: traumatisiert durch den Tod der Tochter. Lukas: ein fanatischer Spinner der christlichen Rechten. Markus: zerquält von den Missbrauchskandalen seiner Kirche. Judith: eine übergewichtige Depressive. Jakob: ein zwischen Konfessionen aufgeriebener Choleriker. Ben hat alle Hände voll zu tun mit diesen Leidgeprüften, und das ist wörtlich gemeint, weil dieser Messias, unter vollem Körpereinsatz, mit Sex erlöst. "Nichts auf der Erde bringt die Menschen der himmlischen Wahrheit so nah wie ein Orgasmus", lautet die Verkündung. Ob Drogen oder Depression: Die Pathologie hat gegen Tantra keine Chance. Auch die ideologischen Verklemmungen müssen gelockert werden: "Vergiss die Lügen von Religion und Regierung", doziert Ben, "lebe dein Leben, liebe deine Kinder, und glaube nicht, was man dir erzählt."
Ja, aber das, was uns Frey erzählt, das sollen wir dann schon glauben. Freie Liebe, Besitzlosigkeit, biozertifizierte Ernährung - das ist die rohe Botschaft dieses Buches. Roh, weil die Rückkehr zu den simplen Ekstasen ein naives und zugleich rigoroses Heilsversprechen ist. Wer mit sexuellen Tabus auch das Recht auf Kulturleistung entsorgt, bewegt sich auf einer zweifelhaften Spur. Ben kennt zwar den Inhalt aller heiligen Werke, begreift Relativitätstheorie ebenso wie Quantenmechanik, aber das alles sei entfremdeter Quatsch: "Diese Bücher wurden für die Welt von damals geschrieben. Diese Bücher sind tot."
Man kennt diese Haltung aus den sechziger Jahren, von den Autoren der Beat-Generation, auf die sich heute kein maßgeblicher amerikanischer Schriftsteller mehr bezieht. Waren die Verneinungsgesten der Hippies nicht größtenteils nur kaschierter Nihilismus, die Lust am Antizivilisatorischen im Gewand der Systemkritik? Dass seine Subsistenzwirtschaft kulturelle Einbußen zur Folge hat, kommt Frey nicht zu Bewusstsein: bye, bye, Theater, Museen, Kino, Oper. Auch die Literatur müsste sich die Frage nach ihrer Relevanz gefallen lassen.
Wozu also dieses Buch? In Amerika, wo ein Präsident, der sich um sozialpolitische Selbstverständlichkeiten bemüht (allgemeine Krankenversicherung, Steuergerechtigkeit), als Sozialist beschimpft wird und sich Atheisten und religiöse Rechte erbittert bekämpfen, dürfte der Text deutlich mehr provozieren als hierzulande. Dennoch wird der Roman vom Verlag Haffmans & Tolkemitt mit großem Aufwand publiziert. Für jedes Kapitel kam ein eigener Übersetzer zum Einsatz, darunter Harry Rowohlt, Klaus Modick, Clemens J. Setz und Juli Zeh - renommierte Namen, die dem Text nachträglich noch einmal die Kontur des Großprojektes geben. Tatsächlich ist das "Testament" als Collage deftiger Idiome beeindruckend. Frey ist ein exzellenter Stimmenimitator, das bewies er schon mit "Tausend kleine Scherben", dem Text, der ihn erst berühmt und dann zum Paria des Literaturbetriebs gemacht hat. Der Autor tat so, als schreibe er seine Autobiographie als genesender Drogensüchtiger, verfasste aber ein Münchhausenstück, in dem einiges erfunden und das meiste übertrieben war.
Ein meisterhaft schnoddriger Ton bewahrt das Buch davor, kompletter Kitsch zu sein. Freys Könnerschaft zeigt sich in der unsentimentalen Weise, über sentimentale Dinge zu schreiben, über die Sehnsucht nach Liebe, den Wunsch, die Welt zu verändern, die alte Utopie, menschlich miteinander umzugehen. Das ist vollkommen korrekt, nur soll uns der Autor bitte dafür nicht in die Pampa schicken oder zum Beischlaf zwingen.
DANIEL HAAS
James Frey: "Das Letzte Testament der Heiligen Schrift".
Aus dem Englischen von Alexa Hennig von Lange, Charles Lewinsky, Clemens J. Setz u. a. Verlag Haffmans & Tolkemitt, Berlin 2012. 448 S., geb., 19,95 [Euro].
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