Nicht erst seit der Finanzkrise ist es wieder üblich geworden, den Kapitalismus für fast alle Übel der Welt verantwortlich zu machen. Dem setzt der renommierte Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe die Geschichte des Kapitalismus entgegen, die zeigt, wie viele Probleme die kapitalistische Marktwirtschaft gelöst hat - und nur diese. Denn «der» Kapitalismus ist kein System, sondern eine Art der Wirtschaft, bei der der Konsum im Mittelpunkt steht - und zwar der Konsum gerade der wenig vermögenden Menschen, die jahrhundertelang ihrem Schicksal überlassen waren. Nur so ist die ökonomisch erfolgreiche Massenproduktion möglich. Das hat früh Kritik auf sich gezogen, aber Plumpe zeigt, wie die kapitalistische Art des Wirtschaftens darauf reagiert hat, sich immer wieder wandelt.
Der Kapitalismus ist folgenreich wie wenige andere Ideen, und wir entkommen ihm nicht, nicht mal in der Verweigerung. Ihm liegt weder ein böser Wesenskern zugrunde, noch ist er die Summe missliebiger Begleiterscheinungen unseres Gesellschaftssystems. Plumpe zeigt den Kapitalismus als immerwährende Revolution - als eine Bewegung ständiger Innovation und Neuerung, die so gut oder schlecht ist, wie wir sie gestalten. Der Kapitalismus ist und war schon immer das, was wir aus ihm machen.
Produktdetails
- Verlag: Rowohlt, Berlin
- Artikelnr. des Verlages: 19068
- 2. Aufl.
- Seitenzahl: 798
- Erscheinungstermin: 19. Februar 2019
- Deutsch
- Abmessung: 221mm x 157mm x 48mm
- Gewicht: 924g
- ISBN-13: 9783871347542
- ISBN-10: 387134754X
- Artikelnr.: 44983594
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Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
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Den Kapitalismus wird es immer geben
Ein Sachbuch mit 800 Seiten! Als der Rezensent den neuen Band von Werner Plumpe in seinem Bekanntenkreis empfiehlt, erntet er Leseverweigerung. Folgendes sei jedoch allen entgegnet, die sich vor dem Umfang dieses Werkes zur Kapitalismusgeschichte fürchten. Erstens: Es handelt sich faktisch nur um 640 Seiten, der Rest sind Anhang und Bibliographie. Zweitens: Diese 640 Seiten sind verständlich geschrieben und absolut erkenntnisfördernd. Drittens: Allein das Endkapitel (Seiten 599 bis 640) lohnt den Kauf des Buches, und wer nur wenig Zeit mitbringt, sollte nach der Einleitung auf Seite 501 weiterlesen, wo das fünfte Kapitel über den "weltweiten Siegeszug des
Kapitalismus, meint Plumpe, sei eine andauernde Revolution, die Wohlstand bringe und Menschen ein würdiges Leben sichere. "Der Kapitalismus ist eine Ökonomie der armen Menschen und für arme Menschen - und solange diese Menschen die überwiegende Mehrheit ausmachen, wird sich daran nur mit Gewalt etwas ändern lassen, und das sicher nicht zum Besseren." Das eigentliche Geheimnis des Kapitalismus sei seine Zentrumslosigkeit, das Fehlen eines warm schlagenden Herzens. Dass diese effiziente Kälte des Kapitalismus, das "kalte Herz", auf verbreitete Ablehnung stößt, sei paradoxerweise auch darauf zurückzuführen, dass die Bedeutung der Wirtschaft überschätzt werde. "Die alte Marx'sche These von Basis und Überbau trifft eben nicht zu, so verführerisch sie auch für diejenigen sein mag, die nach einer Art Generalschlüssel zur Aufklärung der vermeintlichen Übel der Welt suchen", schreibt der Frankfurter Wirtschaftshistoriker.
In den ersten vier Kapiteln erzählt Plumpe die Geschichte des Kapitalismus, etwa, weshalb dieser zuerst in England und den Niederlanden aufblühte. Später äußert sich Plumpe zu generellen Fragen, unter anderem zum Wohlfahrtsstaat: "Er ist zwar teuer und kann die wirtschaftliche Prosperität gefährden, stabilisiert aber den Kapitalismus." Zum real existierenden Sozialismus: "Der Betrieb des Sozialismus war einfach zu teuer, um mit einer kapitalistisch organisierten Wirtschaft mithalten zu können. Eine vorbehaltlose Bestandsaufnahme der ökonomischen Realität war politisch blockiert, ja geradezu tabuisiert."
Zum Zustand nach der deutsch-deutschen Währungsunion von 1990 heißt es: "Eine Art kapitalistische Landnahme fand im Osten nicht statt, obwohl Transformation und Privatisierung nicht ohne Skandale, Betrug und Bereicherungsabsicht verliefen. Derartige Einzelfälle dienten und dienen aber dazu, die Transformation insgesamt als eine von Geldgier und Profitsucht getriebene Angelegenheit erscheinen zu lassen." Wie eine sozialistische DDR den Strukturwandel hätte bewältigen wollen, bleibe das Geheimnis nostalgischer Gemüter, die ihre Illusionen hinter den Geschichten der bösartigen kapitalistischen Landnahme verstecken, damit ihr mangelnder Realitätssinn nicht offenkundig wird.
Zur Deindustrialisierung in Großbritannien bemerkt der Wirtschaftshistoriker: "Der Industrial Decline war weder Merkmal noch Folge der Wirtschaftspolitik der Regierung Thatcher und auch nicht das Resultat einer kapitalistischen Verschwörung gegen die Interessen der Arbeiter. In ihm kam vielmehr der tiefgreifende technologische und regionale Wandel der Zeit zum Ausdruck; was die Regierung Thatcher tat, bestand vor allem darin, den teuren Widerstand gegen diesen Strukturwandel aufzuheben, ihn im Gegenteil sogar noch zu beschleunigen und die frei werdenden Mittel für eine zielgerichtete Modernisierung der britischen Wirtschaft zu nutzen."
Thatchers Versprechen einer ökonomischen Kehrtwende war erfolgreich, so erfolgreich, "dass auch die folgenden Regierungen im Kern daran festhielten". Ganz ähnlich von Erfolg gekrönt sei auch Ronald Reagans Wirtschaftspolitik gewesen. Zur Finanzkrise: "Sie kann gerade nicht dem Kapitalismus angerechnet werden. Denn die Akteure waren sich darüber im Klaren, dass der Staat die Sanktionsmöglichkeiten der Märkte wirksam blockieren würde, wenn wirklich bedeutende Pleiten drohten."
Zum Privateigentum führt Plumpe aus: "Kapitalintensives Wirtschaften setzt ein großes Produktivvermögen voraus, das einzig und allein als Produktionsmittel Bedeutung hat." Für den individuellen Konsum stehe es nicht zur Verfügung. "Das würde sich auch nicht ändern, wenn die Eigentumsrechte auf den Staat, oder, wie in der DDR, auf das Volk übergingen. Man besäße lediglich einen nominellen Anteil an weiterhin produktiv genutzten Produktionsmitteln."
Zur Überwindung des Kapitalismus: "Bei Appellen, in Zukunft nicht auf Wachstum, sondern auf (Selbst-)Beschränkung zu setzen, handelt es sich entweder um gutgemeinte individuelle Ratschläge oder um unüberlegte gesellschaftspolitische Visionen, wenn nicht Illusionen. Denn wie soll eine Wirtschaft auf etwas verzichten, von dem sie noch gar nicht weiß, ob es möglich sein und unter bestimmten Umständen auch kommen wird?" Zur Zukunft: "Solange der durch Bevölkerungswachstum und technischen Wandel erzeugte Problemdruck anhält, wird die kapitalistische Art des Wirtschaftens, sofern ihre Kernelemente politisch stabilisiert werden, fortdauern - und zwar deshalb, weil sie die höchste Problemlösungselastizität aufweist. Der eigentliche Risikofaktor ist nicht der Kapitalismus, sondern eine prinzipienhafte Politik, die endgültige Lösungen auch dort anstrebt, wo nur zeitbedingte Übergangslösungen möglich sind."
Einziger Wermutstropfen in Plumpes Buch: Der Klimawandel taucht nur in einem einzigen Satz auf (und im Stichwortverzeichnis gar nicht). Dabei ist die Aufgabe der kommenden Jahre, zu erklären, dass nur der Kapitalismus die ökologische Herausforderung meistern kann, außer, man wollte in einem Zustand leben, in dem die andauernde Revolution des Kapitalismus jahrzehntelang unterbrochen wird, wie in Nordkorea.
JOCHEN ZENTHÖFER
Werner Plumpe: Das kalte Herz - Kapitalismus: Die Geschichte einer andauernden Revolution, Rowohlt, Berlin 2019. 800 Seiten. 34 Euro.
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Plumpe behauptet (S. 288), dass es vor dem Krieg in den westlichen Staaten und in Deutschland "bestenfalls kleine 'bellizistische' Kreise" gegeben hätte, die Kriegsziele verfolgten, deren Ergebnis die Ausschaltung der deutschen Konkurrenz bzw. die Schaffung einer von Deutschland dominierten europäischen Großraumwirtschaft sein sollte. Diese Auffassung ist - zumindest was Deutschland betrifft - krass verniedlichend und schlechterdings unhaltbar. Die Opitz'sche Dokumentensammlung zu den "Europastrategien des deutschen Kapitals 1900-1945" legt einen anderen Befund nahe. Opitz nimmt für sich in Anspruch, dort ausschließlich wichtige Schriftzeugnisse deutscher Persönlichkeiten und Stellen aus Politik, Ministerialbürokratie, Industrie, Verbandswesen, Wissenschaft usw. berücksichtigt zu haben. "Die Orkanflut von chauvinistischem Größenwahn, Weltmachtgerede und pangermanistischem Schwulst, die in diesen Jahren Deutschland überschwemmte," habe er nicht mitdokumentiert. (Opitz, S. 30.) Welche Schlussfolgerungen lassen die Dokumente zu?
Zunächst ist Plumpe darin beizupflichten, dass das vom deutschen Wirtschaftsgroßbürgertum unterstützte Streben der politischen und militärischen Führung des Kaiserreichs nach kolonialer Weltgeltung vor 1914 zwar von viel kriegerischer Rhetorik und von gelegentlichen militärischen Drohgebärden begleitet war, man aber doch zunächst auf einen Ausgleich mit den anderen Kolonialmächten auf dem Verhandlungswege setzte. Was die "deutsch-englische Frage" betraf - bei der es vor allem um die Flottenrüstung ging - , so schloss man nicht aus, dass sie "nur durch Blut und Eisen" gelöst werden könnte.
Besonders aggressiven Charakter hatten indes die Osteuropa-Strategien des deutschen monopolistischen Kapitals. Hier trat die deutschvölkische Ideologie, auf deren Grundlage z.B. der Alldeutsche Verband seine Expansionsrechtfertigungsarbeit stützte, offen zutage. Man beschwor den angeblichen deutschen bzw. germanischen "Drang nach Osten", den es "wiederzubeleben" gälte. Ziel war insbesondere die Erzwingung von Gebietsabtretungen durch Russland zwecks Gewinnung von "Siedelungsland" und Ansiedlung "unseres Überschusses", verbunden mit "Evakuierungen" slawischer Bevölkerung und anderer "kleiner minderwertiger Stämme". (Nur sehr verklausuliert fand das Interesse an Russland als mögliches Rohstoff-Hinterland des Deutschen Kaiserreichs - was etwa Kohle, Erdöl und Agrarprodukte betraf - Erwähnung.) Man sah eine kriegerische Auseinandersetzung mit dem Zarenreich wenn nicht als unvermeidlich, so doch als früher oder später wahrscheinlich an. Der große, einflussreiche Alldeutsche Verband und dessen Propagandaorgane betrieben in Osteuropa-Relationen von Anfang an eine hemmungslose kriegstreiberische Agitation, gepaart mit antislawischem und antisemitischem Rassendünkel.
Nationalistische Agitationsverbände waren vor 1914 zwar keine ausschließlich deutsche Besonderheit. InDeutschland gab es aber einen "Radikalnationalismus, dem das Widerlager starker liberaler, demokratischer Gegenkräfte fehlte." (Hans-Ulrich Wehler)