Tatiana de Rosnay schafft es, den Leser schon nach wenigen Sätzen in das Paris der Protagonistin Rose zu entführen. Mitte des 19. Jahrhunderts findet dort die wohl größte Stadtmodernisierung statt: All die kleinen, verwinkelten und gemütlichen Gassen, in denen Nachbarn einander noch nah sind,
verwandeln sich unter der Feder des Kaisers und seines Präfekten in breite Boulevards. Ganze Stadtviertel…mehrTatiana de Rosnay schafft es, den Leser schon nach wenigen Sätzen in das Paris der Protagonistin Rose zu entführen. Mitte des 19. Jahrhunderts findet dort die wohl größte Stadtmodernisierung statt: All die kleinen, verwinkelten und gemütlichen Gassen, in denen Nachbarn einander noch nah sind, verwandeln sich unter der Feder des Kaisers und seines Präfekten in breite Boulevards. Ganze Stadtviertel werden in rasanter Geschwindigkeit dem Erdboden gleichgemacht, Menschen werden ihrer Häuser beraubt. Rose Bazelet fühlt sich zunächst sicher in ihrer Straße – zu nah sind sie der Kirche, die die Bauverantwortlichen doch nie anrühren würde. Oder etwa doch?
Schon bald wird die Unerbittlichkeit des Präfekten deutlich und all die Straßen, in denen Rose und ihr verstorbener Mann Armand ihr ganzes Leben verbrachten, sind dem Untergang geweiht. Verschwinden soll die Rue d’Erfurth, in der Rose aufwuchs, ebenso wie die Rue Childebert, in der sie und ihr geliebter Armand nach der Hochzeit zuhause sind. Die Straßen, in denen sie als Kinder spielten, der Brunnen, an dem ihr Sohn Baptiste sich so gern aufhielt – nichts soll bestehen bleiben.
Dass das Viertel für seine Bewohner nicht nur Wohnort war, sondern von unschätzbarem immateriellen Wert, können die bürokratischen Drahtzieher der Modernisierungsmaßnahme nicht verstehen: Rose und Armand Bazelets Haus wurde 150 Jahre zuvor von Armands Vorfahren erbaut und befand sich seither nur im Besitz der Bazelets. Armand wuchs hier ebenso auf wie sein Vater und Großvater, später gründeten er und Rose hier ihre eigene Familie.
Nun soll also ihr Zuhause, ihre Geschichte ausgelöscht werden. Für Armand bedeutete sein Elternhaus stets sehr viel und als er verstarb, versprach Rose, sein Haus zu schützen. Nun, im Jahre 1869, muss sich Rose dieser Probe stellen und ist bereit, ihr Leben dafür zu geben. Im Keller des Hauses lebt sie fortan zurückgezogen und schreibt ihrem verstorbenen Gatten Briefe. In diesen erinnert sie sich der ersten Verliebtheit zwischen ihr und Armand, der gemeinsamen Ehejahre, ihrer Kindheit und ihrer eigenen Kinder. Jene glücklichen und schmerzhaften Jahre lässt sie neu aufleben, verarbeitet den Verlust ihres Mannes, ihres geliebten Sonnes und des Paris’, das sie einst kannte. Sie gesteht sich ihre Fehler ein und beichtet Armand schließlich ein lang gehütetes Geheimnis. Dem Leser offenbart sich dabei eine schonungslos offene und gebrochene, doch auch glückliche Frau, mit der man schon nach kürzester Zeit mitfühlt. Dabei bedient sich Tatiana de Rosnay eines sehr gefühlsbetonten, jedoch nie aufdringlich sentimentalen Stils, der so ganz anders – ja, ich möchte fast sagen: besser – ist als in „Sarahs Schlüssel“. Verstehen Sie mich nicht falsch: „Sarahs Schlüssel“ ist wohl einer der besten Romane über den Holocaust, die ich je gelesen habe, und er hat mich schockiert, berührt, wirkt sogar noch heute nach. Doch in „Das Haus der Madame Rose“ findet sich ein ganz anderer, sehr bildlicher Erzähstil – im Fokus stehen weniger die Geschehnisse, vielmehr wird Rose als Mensch in den Mittelpunkt gerückt, ihr Leben und Paris portraitiert. Tatiana de Rosnay erzählt hier nicht nur eine Geschichte, sie schreibt regelrecht Augenblicke. Augenblicke, in denen man sich verliert, in denen man aus Zeit und Raum gerissen wird und nicht mehr auftauchen mag.
Fazit:
„Das Haus der Madame Rose“ unterscheidet sich thematisch und stilistisch stark von Tatiana de Rosnays Bestseller „Sarahs Schlüssel“, ist dabei aber mindestens genauso bewegend. Von der ersten Seite an wird der Leser so gepackt, dass man einfach weiterlesen und nicht mehr damit aufhören möchte. Man sinkt hinein in Roses Welt, während um einen herum die Zeit still zu stehen scheint.
Ein Buch für alle, denen Liebe und Verlust nicht fremd ist, die sich jemals in eine Stadt verliebt haben und für die Zuhause mehr ist als nur ein Ort.