selbst, aber ohne jede Kategorisierung, denn der Titel verrät ja ohnehin, worum es sich handelt: einen Fitnessratgeber. So sollte man meinen, und daran glaubte wohl auch eine Zeit lang der Verlag. Und vielleicht sogar Alison Bechdel selbst.
Doch es kam anders, was angesichts von fast zehn Jahren Arbeitszeit nicht überrascht. Der Titel der jetzt erschienenen deutschen Übersetzung trägt der stattgefundenen Schwerpunktverschiebung durch Hinzufügung eines Personalpronomens Rechnung: "Das Geheimnis meiner Superkraft". Tatsächlich erzählt dieser Comic auf 230 Seiten von Alison Bechdels Weg zum Ruhm, doch der wurde nicht als Athletin beschritten, sondern eben als Comiczeichnerin. Und das wird man nicht durch Zufall.
Die ersten siebzehn Seiten mögen das sein, was vom ursprünglichen Plan übrig geblieben ist: eine gezeichnete Dokumentation der körperlichen Betätigungen einer mittlerweile Sechzigjährigen, die zeit ihres Lebens sportlich aktiv gewesen ist - als Ski- und Radfahrerin, Wanderin, Läuferin und im Kraftraum. Getrieben von jener illusorischen Glücksverheißung der Selbstoptimierung, die da lautet: Unsterblichkeit. Über diesen Selbstbetrug reflektiert die artistisch sich ertüchtigende Alison Bechdel bereits ganz zu Anfang der Handlung. Und geht ihm dann systematisch anhand ihres eigenen Lebens nach: In jeweils ein kalendarisches Jahrzehnt umfassenden Kapiteln bekommen wir viel von dem erzählt, was wir schon aus "Fun Home" und "Are You My Mother?" kannten, aber noch weitaus mehr über deren Autorin und ihre Weltsicht. Und die hat zwar viel mit Sport zu tun, ist aber letztlich doch die einer Künstlerin.
Wer allerdings glaubt, es handelte sich bei "Das Geheimnis meiner Superkraft" um die Autobiographie Alison Bechdels, wird enttäuscht. So erfährt man etwa kein Wort über jenen Einfall, der ihren Namen sprichwörtlich gemacht hat: den Bechdel-Test, der anhand von drei inhaltlichen Fragen Auskunft darüber gibt, ob ein Film stereotyp mit dem Geschlechterverhältnis umgeht. Entwickelt hat Alison Bechdel diesen Test 1985 im Rahmen ihres Comicstrips "Dykes to Watch Out For" (was man wahlweise als "Lesben, auf die man achten muss" oder "Lesben, vor denen man sich in Acht nehmen sollte" übersetzen kann), und mittlerweile wird er von Feministinnen routinemäßig auf jeden neu produzierten Film angewendet. Aber wie gesagt: nichts dazu in "Das Geheimnis meiner Superkraft". Immerhin wird "Dykes to Watch Out For" ein paarmal erwähnt, aber angesichts einer Laufzeit dieses Strips von 25 Jahren ist auch das nicht gerade viel. Bechdel interessiert sich erzählend für ganz andere Aspekte ihres Lebens als die allgemein bekannten.
Vor allem für solche zwischenmenschlicher Art. In den englischen Romantikern um Coleridge und den amerikanischen Transzendentalisten um Emerson findet sie Vorbilder im neunzehnten Jahrhundert für ein ihr gemäßes emanzipiertes Lebens- und Liebesverständnis. Deshalb treten diese alten Herren (und Damen) in Exkursen immer wieder im neuen Comic auf. Zugleich legt Bechdel Rechenschaft ab über ihre eigene Eignung zu (gleichgeschlechtlicher) Partnerschaft und stellt sich dabei nicht gerade das beste Zeugnis aus. Dieser Comic ist berückend rücksichtslos ehrlich.
Zugleich erzählt er auch die am Leben der Zeichnerin gespiegelte Geschichte der Vereinigten Staaten von 1960 bis heute. Bechdel ist eine politisch links denkende Autorin, die aber ihre Sympathien für das isolationistische Denken eines Henry David Thoreau nicht verleugnen kann - und zugleich weiß, in was für eine geistige Prepper-Nachbarschaft sie sich damit begibt. Und genauso skeptisch sich selbst gegenüber wird auch immer wieder die leidenschaftliche sportliche Betätigung geschildert - keine Spur von einem Endorphinrausch, der noch bei der Anfertigung dieses Comics nachgewirkt hätte. Vielmehr ist der die Chronik eines bösen Katers nach all dem Spaß.
Wäre nicht in den letzten beiden Jahrzehnten Holly Rae Taylor ins Leben von Alison Bechdel getreten, dann, so vermittelt es dieses Buch, wäre von Superkraft gar keine Rede gewesen. Taylor hat den neuen Comic nicht nur koloriert - in blassen Pastelltönen, die wunderbar zur historischen Folie der Romantik passen -, sondern ist auch Widmungsträgerin von "Das Geheimnis meiner Superkraft".
Wie schon die beiden Vorläuferbücher ist auch dies ein extrem textreicher Comic. Dass wieder der Schriftsteller Thomas Pletzinger zusammen mit Tobias Schnettler die aufwendige Arbeit der Übersetzung auf sich genommen hat, kommt dem Band zugute - wenn man sich auch wünschte, Pletzingers eigenes Comicprojekt, "Blåvand", würde endlich einmal zu Ende geführt. Aber vielleicht können er und sein Zeichner Tim Dinter ja Erkenntnisse aus Alison Bechdels Arbeit an deren Comic ziehen. Nach dem, was man darüber erfährt, darf man das Zustandekommen von "Das Geheimnis meiner Superkraft" als kleines Wunder ansehen. Das Ergebnis selbst ist ein großes Ereignis. ANDREAS PLATTHAUS
Alison Bechdel: "Das Geheimnis meiner Superkraft".
Aus dem Englischen von Thomas Pletzinger und Tobias Schnettler. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023.
236 S., geb., 30,- Euro
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