Produktdetails
  • Verlag: FISCHER Scherz
  • Seitenzahl: 319
  • Abmessung: 255mm
  • Gewicht: 1122g
  • ISBN-13: 9783502150305
  • ISBN-10: 3502150303
  • Artikelnr.: 25499230
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.1999

Der einsame Falke sucht sein Glück in der Stadt der Hochhäuser
Dialektik des Vogellebens: David Attenborough ist der beste Freund unserer gefiederten Freunde

Wenn ich ein Vöglein wär - den Traum von Höhenflügen in grenzenloser Freiheit verkörpert der Mauersegler vielleicht am besten: Von Anfang Mai bis Ende Juli sind sie zu Gast in unseren Städten, jagen durch die Straßenschluchten oder tummeln sich hoch über den Dächern. Wenn das Wetter halbwegs mitspielt, herrscht dort kein Mangel an Mücken, Fliegen und anderen Häppchen. Als Baumaterial für ihr Nest fangen die Mauersegler aber auch herumfliegende Federn und Halme ein. Eine Dachtraufe kommt ihnen als Kinderstube gerade recht. Gewöhnlich schlafen sie sogar im Fliegen. Gegen Abend steigen sie bis in eine Höhe von etwa zweitausend Metern und ruhen sich dort mit gemächlichem Flügelschlag aus. Selbst bei der Paarung brauchen sie keinen festen Boden unter den Füßen: Das Männchen krallt sich auf dem Rücken seiner ungerührt weiterfliegenden Partnerin fest, um sich flugs mit ihr zu vereinigen. Flink und wendig können die Mauersegler den meisten Verfolgern entwischen und mehr als zwanzig Jahre alt werden. Solche betagten Tiere dürften im Laufe ihres Lebens mehr als sechs Millionen Kilometer zurückgelegt haben - was acht Flügen zum Mond und zurück entspricht.

Wer sich in die Welt der gefiederten Schwingen vertiefen will, ist bei David Attenborough gut aufgehoben. Bekannt durch seine preisgekrönten Tier- und Naturfilme, liefert er mit seinem neuen Buch eine informative, unterhaltsame Lektüre. Zunächst fallen die exzellenten Fotos ins Auge, sorgfältig ausgewählt, zeigen sie die Vogelwelt in ihrer faszinierenden Vielgestaltigkeit. Da sind zum Beispiel drei junge Mauersegler, die sich nackt und blind in der Nestmulde zusammenkauern. Sechs Wochen lang lassen sie sich dort von ihren Eltern umsorgen, ehe sie den Abflug wagen.

Der Hoatzin, ein etwa fasanengroßer Vogel aus den tropischen Sumpfwäldern Südamerikas, ist dagegen auch dann schon mobil, wenn seine Flügel noch nicht zum Fliegen taugen. An Daumen und Zeigefinger trägt der junge Hoatzin spitze Krallen, mit denen er sich behände durchs Geäst hangeln kann. Von den mehr als neuntausend existierenden Vogelarten ist er als einziger so ausgerüstet. Ähnlich grotesk wirken die Pelikane, die beim Fischen ihren riesigen Schnabel als Schöpfkelle einsetzen. Die grazilen Seeschwalben und der Silberreiher mit seinem prachtvollen Gefieder entsprechen eher unseren ästhetischen Maßstäben.

Doch ob anmutig oder skurril, vertraut oder exotisch, stets geht es um besondere Eigenarten der Protagonisten. Der Autor bietet weit mehr als ein hübsches Bilderbuch zum Film. Fachkundig greift er hinein ins pralle Vogelleben und trägt - auf dem neuesten Stand der ornithologischen Forschung - viel Wissenswertes zusammen. Vom winzigen Kolibri bis zum gewichtigen Strauß, vom unscheinbaren Sperling bis zum kunterbunten Paradiesvogel, von Pinguinen auf einem Eisberg bis zum Tukan im Kronendach des Dschungels ist das gesamte Spektrum vertreten. Dabei kommen auch jene nicht zu kurz, für die sich nur wenige Vogelfreunde begeistern.

Der amerikanische Truthahngeier zum Beispiel hat eine erstaunlich gute Nase für anrüchige Objekte. Dieses Talent machten sich in den dreißiger Jahren amerikanische Ingenieure zunutze, um beschädigte Gasleitungen aufzuspüren. Von dem Geruch des ausströmenden Mercaptans unwiderstehlich angezogen, verrieten die Aasvögel, wo ein Leck zu finden war. Gewöhnlich führen solch schweflige Düfte zu einem verwesenden Kadaver, der den Truthahngeiern eine üppige Mahlzeit verspricht.

Wo sich verschiedenartige Aasfresser an einem Kadaver versammelt haben, ist bald nicht mehr viel davon übrig. Haut, Muskeln und Eingeweide, alles wird verwertet. Der auch in Europa heimische Bartgeier nimmt gar mit dem vorlieb, was alle anderen verschmähen: Er trägt säuberlich abgenagte Knochen davon, um sie aus großer Höhe fallen zu lassen. Dieses Spiel treibt er so lange, bis der Knochen auf einem Felsen zersplittert. Dann kann der Bartgeier die Bruchstücke aufsammeln und sich an dem nahrhaften Mark laben. Diese beispiellose Genügsamkeit hat ihn allerdings nicht vor Verfolgung bewahrt. Sein imposantes Erscheinungsbild sprach gegen ihn: Mit einer Flügelspannweite von mehr als zweieinhalb Metern übertrifft er selbst den stattlichsten Adler. Deshalb stand er lange im Verdacht, sich als "Lämmergeier" am Nachwuchs weidender Herden, wenn nicht gar an kleinen Kindern zu vergreifen. Aus dem Alpenraum war der zu Unrecht geschmähte Vogel fast hundert Jahre lang verschwunden. Doch die Wiederansiedlung scheint zu glücken. Einige Dutzend Bartgeier kreisen mittlerweile wieder über den Gipfeln.

Andere Vögel haben sich mit uns Menschen gut arrangiert: Wie der Mauersegler akzeptiert auch der Turmfalke hohe Gemäuer als Ersatz für steile Felsen. Oft brütet er mitten in der Stadt und lässt sich die Mäuse auf öffentlichen Grünflächen schmecken. Amseln bauen ihre Nester im Vorgarten und zupfen ungeniert Regenwürmer aus dem Rasen. Weitaus größer ist freilich die Zahl derer, die nicht damit zurechtkommen, dass der Mensch ihren Lebensraum rigoros umgestaltet. Etliche Vogelarten sind bereits ausgestorben, und vielen anderen droht das gleiche Schicksal. Vom Schneekranich etwa, dem größten Vogel Nordamerikas, überlebten nur wenige Exemplare, als seine heimatlichen Sümpfe trockengelegt wurden. Dem größten Papagei Neuseelands, dem Kakapo, wurde zum Verhängnis, dass die europäischen Siedler Katzen, Wiesel und andere jagdlustige Vierbeiner mitgebracht haben. Da der Kakapo das Fliegen längst verlernt hat, kann er Krallen und Zähnen kaum entfliehen.

Unverdrossen versuchen Wissenschaftler und ehrenamtliche Vogelschützer, solch gefährdeten Arten unter die Flügel zu greifen. Kent Clegg aus Idaho fliegt seinen Schützlingen sogar mit gutem Beispiel voran: In seinem Ultraleichtflugzeug führt er die von Hand aufgezogenen Schneekraniche bis in ihr angestammtes Winterquartier - 1500 Kilometer weit nach New Mexico. Bei so viel Engagement sieht der Autor durchaus Hoffnung, zu retten, was noch zu retten ist: "Unser Zerstörungswerk muss nicht so weitergehen. Wir verfügen inzwischen über die Kenntnisse und Fähigkeiten, um die gesamte Vogelwelt in ihrer noch existierenden Komplexität und Pracht zu erhalten. Und als die neuen Herren dieses Planeten brauchen wir dazu nichts als den Willen, es zu tun."

DIEMUT KLÄRNER

David Attenborough: "Das geheime Leben der Vögel". Eine umfassende Naturgeschichte. Aus dem Englischen von Hans Link. Scherz Verlag, Bern 1999. 320 S., 284 Farb-Abb., geb., 49,90 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr