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Das Coronaphon ist der Arbeitstitel für 11 Kurzgeschichten. Sechs der Erzählungen sind in den Zeiten der CORONA Pandemie entstanden. Zwei Geschichten sind zum Zwecke der Abrundung des Hauptthemas nachbearbeitet und vom analogen Erzählgegenstand in den digitalen gehoben worden. Die Storys besitzen nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein pädagogisches Format. Gut vorgelesen werden sie auch in „Kultur ans Netz“ zu finden sein. Öffentlich können diese Erzählungen von mir in Literaturwerkstätten und für künstlerische Auftritte angeboten. In Einrichtungen, die sich mit Spielsucht und…mehr

Produktbeschreibung
Das Coronaphon ist der Arbeitstitel für 11 Kurzgeschichten. Sechs der Erzählungen sind in den Zeiten der CORONA Pandemie entstanden. Zwei Geschichten sind zum Zwecke der Abrundung des Hauptthemas nachbearbeitet und vom analogen Erzählgegenstand in den digitalen gehoben worden. Die Storys besitzen nicht nur ein künstlerisches, sondern auch ein pädagogisches Format. Gut vorgelesen werden sie auch in „Kultur ans Netz“ zu finden sein. Öffentlich können diese Erzählungen von mir in Literaturwerkstätten und für künstlerische Auftritte angeboten. In Einrichtungen, die sich mit Spielsucht und ähnlichen Süchten befassen, kann der poetische Stoff in Online-Lesungen vorgestellt werden. Der Titel „Das Coronaphon“ behandelt vor allem Phänomene oder Aspekte der Sucht. Die der Redesucht, Spielsucht, Heroinsucht und auch die der Alkoholsucht. Die Poesie macht sie kenntlich und verständlich und unternimmt den Versuch, sie einzudämmen oder sie öffnet wenigstens eine Tür, damit über sie, die Süchte, öffentlich gesprochen wird. Alle Kurzgeschichten sind im Rahmen der Aktion „Kultur ans Netz“ mit einem Stipendium vom Land Sachsen-Anhalt für den Autor im Jahre 2020 unterstützt worden. Dem Land sei gedankt und nun genug der Redesucht des Verfassers...Auszug aus Après-Ski ... Eben wurden die durchsichtigen Vorhänge beiseite geschoben. Der Pfleger Hans-Dieter deutete eine Geste an, das Tablet verschwinden zu lassen. Seine Stimme klang undeutlich, aber die Handbewegung war eindeutig. Er wollte wissen, ob Frank den Stuhl schon ausgeschieden hätte oder sollte er die Pfanne noch bringen? Frank bedeckte vorsichtig das Tablet, seine einzige Verbindung zu der Welt da draußen in Berlin. Als er eingeliefert wurde, bettelte er tagelang den Pfleger an, der nach vielen Bitten den kleinen Auftrag annahm, Franks Bruder aufzusuchen. Der gab dem Pfleger das elektronische Tablet mit. Der kleine Computer würde den Kranken aufbauen, der trotz der merkwürdigen Symptome seiner Erkrankung, die sich wie ein Wolf durch die Eingeweide und die Atmung fraß, sich mit dem Tablet beschäftigte. Frank antwortete, er habe in der Nacht schon gekackt ... Die leitende Stationsschwester kam, sie brachte neue Infusionen. Dabei erklärte sie, man müsse leider immer öfter und stärker außerhalb der Routine absaugen. Sein Atemvolumen käme langsam an eine natürliche Grenze. Die sich abzeichnende Babylunge erfordere bald die Bauchlage, eine gängige Maßnahme, um die Beatmungstherapie von Patienten im Stadium eines akuten Lungenversagen zu optimieren. Morgen würde die Entscheidung fallen, schloss sie ab. Ihr Lächeln hinter der atembeschlagenen Plexiglasscheibe war mild und wie es Frank schien, ein wenig tapfer. ...Après-Ski Er hatte es zuerst nicht glauben wollen. Sie klopfte elektronisch in seinem Tablet an, sie war es wirklich: Bist du es?, fragte sie ihn. Ein kleines Bildchen war der Mail angehängt, so ein digitales Favicon, mit dem man sich in facebook oder auf der Versicherungskarte outet. Sie war es, unverkennbar war es Margitt und er hätte fast das Display seines Tablets geküsst, vermied es aber vor allem aus Furcht, diese Kontaktanfrage zu stören oder gar wieder in die Unergründlichkeit des Netzes zurückzubefördern oder gar zu löschen. Sie war es wirklich, so unwirklich wie alles war, hier an diesem merkwürdigen Ort. Eben wurden die durchsichtigen Vorhänge beiseite geschoben. Der Pfleger Hans-Dieter deutete mit einer Geste an, das Tablet wegzustecken. Seine Stimme klang undeutlich, aber die Handbewegung war klar. Er wollte wissen, ob der Stuhl schon ausgeschieden sei? Frank bedeckte vorsichtig das Tablet, seine einzige Verbindung zu der Welt da draußen in Berlin. Als er eingeliefert wurde, bettelte er mehrmals den Pfleger an, der nach vielen Bitten den kleinen Auftrag annahm, Franks Bruder aufzusuchen, der dem Pfleger das elektronische Tablet mitgab. Das Gerät sollte den Kranken aufbauen, der trotz der merkwürdigen Symptome seiner Erkrankung, die sich wie ein Wolf durch die Eingeweide und die Atmung fraß, sich damit unentwegt beschäftigte. Frank lag schon seit zwei Wochen im intensiven Bereich der Marien-Klinik. Er wies die Frage des Pflegers ab. Da tut sich nichts, hätte er gern gesagt, doch die Respirationsschläuche in den Nasenlöchern ließen deutliche Worte nicht zu. Er verfluchte seine unmögliche, einengende Situation. Am Hals und am Handgelenk waren Doppelflexülen eingestochen. Neben dem Bett, das eingehüllt und verschlossen war und wie die Kabine eines rollenden Raumschiffes, mit dem man die Überlebenszeit für einen langen Flug ins Universum probte, stand der Monitor, der seine Informationen über die Kabel vom Körper abzog, immer bereit, laut zu schrillen oder zu möppen. Noch nie war Frank so krank gewesen. Der belastende Druck im Bauchbereich, ebenso die Schmerzen in den Gelenken und Muskeln und besonders die Wahrnehmung des ihn quälenden Herzschlages, das war alles noch hinnehmbar, verträglich oder auch zu verstehen, aber die schnappende Atmung, so als würde er jeden Moment ertrinken müssen, die wurde Tag um Tag schlechter, und sie drückte seinen Verstand mit einer allgegenwärtigen Angst weg. Er war Patient, Corona-Patient. Nur jeder fünfte würde daran sterben, hatte er im Internet ausgeforscht und er, Frank, war noch jung. Vor einigen Wochen war er 45 Jahre alt geworden, und er hatte diesen Geburtstag als Grund genommen, einen Skiurlaub zu buchen. Zwei Wochen in Österreich, erst sollte es das Kaunertal sein, doch da war nichts mehr zu machen, und darum buchte er den schon recht teuren Urlaub im Paznaun, im westlichen Österreich. Von dort aus brach er täglich in das noch teurere Ischgl auf. So hielt er aber die Kosten in Grenzen. Frank war ein sparsamer Mensch. In Ischgl hatte er Margitt kennengelernt. Beim Après-Ski. Sie betonten das Wort laut und falsch, kamen beide aus Berlin und stießen mit den Gläsern an, sie wegen der Hitze des Getränks mit spitzen Fingern haltend. Margitt sah toll aus. Nach dem Skilaufen trug sie sportlich-saloppe Kleidung in den Berliner Landesfarben, was zwar nicht elegant wirkte, aber Aufmerksamkeit erregte. In die Kapuze setzte sie einen kleinen Stoffbären, der fröhlich zwischen ihren Schulterblättern alle Leute anlachte, die ihr am Lift oder in der Kabine nachgingen. Es war rundum schade, Franks Urlaub war fast vorbei, als sie sich kennengelernt hatten. Sie verabredeten sich auf den nächsten Tag, oben auf den Bergen, unterhalb des Snowparks in der Idalp. Sonst passte alles, der blaue Postkartenhimmel, die Gipfel des Palinkopfes und Greitspitzes. Ein wunderbares Panorama. Alles war voller Freude und Leben, ein Gefühl, das nur die Berge überwältigend den Menschen gönnten, weil ihre Gewalt zwar so nahe war, sie aber den Eindruck hinterließen, nur lieblich und schön zu sein. Margitt war eine aparte Läuferin, die sich frei von Angst auf der Piste bewegte, Frank dagegen suchte die sicheren Loipen und leichten Abschwünge. Sie einigten sich oben unterhalb der schnellen Abfahrten vom Berg auf lange, wenig schwungvolle Loipen und genossen die Länge eines Tages, der Frank endlos erscheinen wollte. Sie probierten verschiedene Varianten. Eine kleine, schöne Schussfahrt bot eine Variante nach der Kabinenfahrt von der Höllbodenbahn hinab ins Tal. In der Kabine und auch vor den Läufen, beim Glühwein und sogar beim Grog, den sie sich leisteten, lernten sie einander besser kennen. Sie, Margitt, war in Berlin im Innenministerium tätig, und er, Frank, arbeitete in der Automative und entwickelte Bauteile für die großen Marken. Mehr verrieten sie voneinander nicht, nur, beide wohnten in Dahlem, einem stillen, großen Stadtteil Berlins und ihr Weg zur Arbeit war ähnlich, sah man von den Möglichkeiten ab, zu Fuß, mit dem Rad, der Tram oder auf der Stadtautobahn die Innenstadt zu erreichen. Verschwitzt und aufgeputscht suchten sie am späten Nachmittag ihre Unterkünfte auf. Frank im Hotel außerhalb Ischgls, Margitt am Rande der schönen Stadt. Abends trafen sie sich zur Sause. Geduscht, erfrischt und ein wenig spöttisch über die vielen Läufer redend, die gestürzt oder im tiefen Schnee steckengeblieben waren. Sie, so stellten sie fest, würden jetzt auch stürzen, aber in die Nacht und als Frank leise gestand, dass er morgen schon wieder den Weg nach Hause, zurück nach Deutschland antreten müsse, da hakte sie sich beim ihm unter und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Es wurde spät. Kräftig eng umschlungen lagen sie beieinander, sich immer wieder anschauend, und verwundert stellten sie mehrmals fest, warum sie sich noch nie in Berlin, gesehen hatten, wo sie doch im selben Stadtbezirk lebten. Sie bedauerten das überlange Singelleben, schon wegen des Alters, aber es hatte eben nie geklappt. Sie war acht Jahre jünger, so sprach sie, seinen Geburtstag kommentierend. Da wäre doch noch was zu machen, lachte sie, bei einem Entwicklungsingenieur sei so viel möglich. So turtelten und schwadronierten sie bis in die Nacht hinein, würde ein Berliner sagen und sie verliebten sich so sehr ineinander, dass es heftig zwischen ihnen wurde. Alles war gut. Der Sonnenaufgang über den Bergspitzen. Es war schon spät. Der Morgen hatte sich schon auf den Weg gemacht und hastig verabschiedete sich Frank von Margitt im Foyer des Hotels am Rande der Stadt. Er ließ sich mit dem Taxi in seine Unterkunft fahren, packte die Sachen und fuhr eine lange, nachdenkliche Fahrt bis nach Deutschland und Berlin, zurück nach Hause, dort wo er allein im Einfamilienhaus wohnte. Seine Mutter, die er gepflegt hatte, war vor einiger Zeit verstorben und still fand er wieder sein Zimmer, die Küche, den winterlichen, kleinen Garten und vor allem sein Schlafzimmer vor. Die Tage nach dem Urlaub war er ständig unterwegs und suchte sie. Er verfluchte seine Scheu oder sollte er es Schüchternheit nennen, die ihm vielleicht angeboren war. Er kannte ihre genaue Adresse nicht, die Smartphones hatten sie nicht benutzt, sie waren ja immer zusammen gewesen, und das Hotel in Ischgl gab ihm keine Auskunft, wer wann oder zu welcher Zeit auch immer im Haus übernachtet hätte. Im Gegenteil, nach wenigen Tagen erhielt er gar keine Auskunft mehr und niemand nahm an der Rezeption das Telefon ab. So entschloss sich Frank, jeden Tag mit einer anderen Bahn, auch mit einem Bus und mit dem PKW den Weg bis zum Innenministerium zu fahren, ständig Ausschau haltend und den Gesichtsschutz, der bald nach dem 12. März gefordert wurde, immer unters Kinn haltend, damit man sein Gesicht erkennen möge. Er war fest davon überzeugt, Margitt wieder zu treffen, in der Kaufhalle, auf der Straße oder auch beim abendlichen Joggen. Besorgt begann er seinen Gesundheitszustand zu beachten. Eine täglich wachsende Anzahl von Menschen meldete sich krank. Den dringend angeratenen Weg über den Hausarzt kürzten sie ab und stellten sich gleich im Krankenhaus vor, um sich dort untersuchen zu lassen – in der Regel, weil sie unter grippeähnlichen Symptomen litten. Frank vermied direkte Kontakte in der Firma und ging nicht zum Arzt, als er sich immer unwohler zu fühlen begann. Um das Risiko einer Ansteckung mit dem Virus zu minimieren, hielt er auf Abstand in der Aufnahme und beschrieb seine Beschwerden. Nach dem Abstrich, abgeschirmt von anderen Menschen, wurde die Probe umgehend an ein Labor geschickt, das noch am selben Tag Ergebnisse lieferte. Die verordnete Quarantäne wurde strikt und direkt gefordert und angeordnet, er hielt sich aber nicht daran. Tagelang war er weiterhin in der S-Bahn und mit dem PKW unterwegs, um Margitt zu finden. Er war ein infizierter Patient, der bald professionelle Hilfe im Krankenhaus benötigte. Er joggte nicht mehr, sein Bruder brachte ihm die Lebensmittel nach Hause und nebenbei forschte er nach seiner Zufallsbekanntschaft Margitt im Internet. Seine Bemühungen waren erfolglos, bis zu diesem Tag in der Klinik. Nicht er, sondern sie hatte ihn gefunden. Natürlich über das Internet. Margitt aus Ischgl, die kurze, heftige Urlaubsliebe, die nur anderthalb Tage und eine Nacht währte, sie war wie aus dem Boden gestampft da. Frank ließ den Pfleger seine Tätigkeit an ihm ausführen. Durch die Schleuse näherte sich die Stationsschwester, verschnürt und verpackt in Grün und in Weiß und mit viel Klarsicht um den Kopf. Die Schutzhaube über der Nase war feucht beschlagen. Das Coronavirus und die Angst davor, sie hatte alle Beteiligten massiv gepackt. Das zentrale logistische Element auf der Station war die Schleuse. Frank kannte sie von der Forschungsabteilung in seinem Betrieb. Dort durfte man sich den Chips und Karten auch nur so verpackt nähern, die fest im Reinstraum kontrolliert und verschlossen waren. Hier mussten sich ebenfalls alle, die den Patienten näher kommen wollten oder es mussten, auch so einkleiden: Kittel, Handschuhe, Maske und Schutzbrille waren oberste Pflicht und erfüllten nur dann ihren Zweck, wenn sie in der korrekten Reihenfolge angelegt und beim Verlassen des Zimmers wieder abgelegt wurden. Für das Personal war das auch nicht normal. Es war abhängig von der Corona-Epidemie, die man jetzt die Pandemie zu nennen begann. Die leitende Stationsschwester erklärte Frank, man müsse leider immer öfter und stärker außerhalb der Routine absaugen. Sein Atemvolumen käme langsam an eine natürliche Grenze. Die sich abzeichnende Babylunge erfordere bald die Bauchlagerung, eine gängige Maßnahme, um die Beatmungstherapie von Patienten im Stadium eines akuten Lungenversagens zu optimieren. Morgen würde die Entscheidung fallen, schloss sie ab. Ihr Lächeln hinter der atembeschlagenen Plexiglasscheibe war mild, und wie es Frank schien, ein wenig tapfer. Der Pfleger Hans-Dieter versicherte, er sei morgen auch da, er habe Schicht und so könne er die Entscheidung der Ärzte fachlich korrekt umzusetzen. Als sie gegangen waren und sich hinter der Verglasungsfläche im Zentrum der Intensivstation wieder zurückgezogen hatten, um die Geräte zu kontrollieren, schob Frank das Tablet wieder auf den Bauch. Schräg angesetzt konnte er das Display gut sehen. Oben rechts in der Ecke das kleine Favicon von Margitt, die starr und aufgerichtet in die Kamera geschaut haben mochte, als sie sich von dem Gerät hatte fotografieren lassen. Frank tippte auf das Touchscreen, schaute nach dem Batteriestand und überlegte, ob er den Pfleger Hans-Dieter rufen sollte, um das Kabel ans Netz zu stecken, doch er unterließ es. „Ich kann es kaum fassen, Margitt. Wie hast du mich gefunden?“, schrieb er. „Ich suche dich seit Wochen, eigentlich seit der Abreise aus diesem Ort“. Den Namen mochte er nicht nennen. Könnte sein, es ist alles mit ihr ganz anders oder einer, den sie noch besser kannte, liest mit. Frank war ein vorsichtiger Mensch. Er drückte die Entertaste und wartete. Plopp, die Antwort war innerhalb von wenigen Sekunden da. „Ich habe dich gesucht. Jeden Tag, ja, jede Stunde. Das Hotel hat mir eine Mail von dir weitergeleitet. Das dürfen sie sonst nicht, aber wegen der Situation in Ischgl haben sie es gemacht. Wo bist du?“ Wo er war, das wollte er ihr nicht sofort sagen. Vielleicht musste sie geschützt werden, bei dem, was in den letzten Wochen passiert war. Aus der anfänglichen Grippe war eine Seuche und aus der Seuche war eine Pandemie geworden. Ein Land nach dem anderen wurde erfasst und im Süden Europas starben massenhaft Menschen. Das wusste zwar jeder, eigentlich wussten es alle, aber selbst betroffen zu sein, warum sollte er das ihr anvertrauen? Er begann darüber zu schreiben, wie es für ihn in Ischgl gewesen war. „Weißt du noch“, so begann er fast jeden digitalen Kontakt. Er beschrieb seine Freude am gemeinsamen Ausflug, über den Schnee und über sie selbst, Margitt. „Du bist so schön...“, schrieb er zuletzt, als er ihr alles mit dem Tablet erzählt hatte, was er im Urlaub für sie empfunden hat. Nur diese Nacht, diese einzige und wunderbare Nacht, über die sprach er nicht, und er hütete seine Erinnerung an sie wie ein Geheimnis, was er auch nicht mit dem Tablet teilen mochte. Das war Liebe. Das war verinnerlicht. Das war das Glück, sein Glück. Er forderte sie auf, über sich mehr zu erzählen. Sie tat es zwar langsam, war aber geübt. Kein Fehler war im Text, als sie berichtete, wie sie ihre Tätigkeit liebe, die interessant und sehr auskömmlich war. Sogar den Innenminister treffe sie des öfteren auf den langen Korridoren und im Gebäude sei das Haus viel schöner, als der klotzige, vielfenstrige Kasten, der so abstoßend auf die Bürger Berlins wirken mochte. Er genoss ihr Vertrauen und ließ sich auch nicht von dem Dialog durch das Personal abbringen. Der Pfleger Hans-Dieter kam, um den Beutel mit der üblichen Kochsalzlösung an der Flexüle zu befestigen. Er drehte an den kleinen Dosimetern für die Einspritzpumpen, damit die Schmerzen wegblieben. Medikamente wurden in Franks Leib gedrückt. Er schrieb über die Kindheit, über die Eltern, über sein leeres Haus und auch ein wenig über seine Jugend. Endlich sprach er aus, er suche schon seit Jahren eine Frau, doch die Pflege der Alten, erst der Vater, danach die Mutter und der Job, irgendwie hat immer etwas einen Entschluss verhindert oder auch behindert. Er meinte, er habe überhaupt noch nicht richtig gelebt. Sie, Margitt forderte ihn ständig auf, mehr zu erzählen. Es sei interessant und mit ihrem Leben vergleichbar, und sie suche auch seit Jahren Harmonie und Ausgeglichenheit. Frank war mit dem Verstand überall, nur nicht mehr in der Intensivstation der Marien-Klinik. Zuletzt, es war schon spät in der Nacht, da ermahnte ihn die Schwester und sogar ein Arzt bat ihn, endlich zu ruhen. Nach den Worten, morgen sei auch noch ein Tag, schlief er endlich erschöpft ein. Das Tablet rutsche unter die Mulllagen, die den Dekubitus verhindern sollten. Ab und zu wachte er kurz auf. Zweimal wurde seine Lunge abgesaugt und sorgenvoll sah ihn der Diensthabende an, die Nachtschwester neben sich. Sie kamen und gingen, der Pfleger und die Schwestern der Intensivstation, bis der Morgen graute. Ein Vogel piepste und sang vor den Klinikfenstern, als wollte er allein den baldigen Frühling ankündigen, der im April nicht kommen wollte, doch machtlos war sein Gesang gegen den Lärm der Straße, den Sirenen der Krankenwagen und den Schritten auf den langen Fluren der Klinik, die bis in Franks Zimmer drangen. Das Personal ließ sich in der Marien-Klinik nieder, wie ein weißer Vogelschwarm um einen Futterplatz. Männer und Frauen in weißen Kitteln fanden sich am frühen Morgen im Intensivbereich der Station um die Krankenlager ein. Erst schoben und gingen sie von Raum zu Raum, die sich im Quadrat um den Glasbau der Patientenüberwachung befanden. Sie stellten sich vor, bemusterten die meist wortlosen Patienten. Einige konnten nicht sprechen, es lagen sogar zwei komatöse Kranke in den Zimmern. Um Frank, der verkabelt im Bett lag, standen zwei Professoren und die Ärzte der Intensivstation. Sie tauschten ihre Eindrücke und Erfahrungen über die Bauchlage von Beatmungspatienten aus, die unter einer SARS-CoV-2-Infektion ins Lungenversagen geraten waren. „Sechs der acht Patienten zeigten zu Beginn der Beatmungstherapie ein schlechtes pulmonales Recruitment. Oft gelingt es nicht, ausreichend viele Lungenareale dauerhaft für den Sauerstoffaustausch zu öffnen. Es entsteht die Babylunge. Erst ein Wert von 2.0 sichert wieder bessere Ergebnisse. Alles ist sehr neu an dieser Erkrankung“, referierte der Oberarzt. Es schien eine schwierige Entscheidung zu werden, da auch der Professor der Pneumologischen Abteilung die Worte seines Kollegen ergänzen musste. „Der erzeugte Anstieg des Volumens in den Lungenarealen wird durch die Bauchlage besser verteilt beatmet. Der Quotient, also das Verhältnis von arteriellem Sauerstoffpartialdruck und inspiratorischer Sauerstoffkonzentration, steigt von 120 mmHg Quecksilbersäule in der Rückenlage, auf erstaunliche 182 mmHg Quecksilbersäule in der Bauchlage. Lungengesunde weisen einen Quotienten von 350–450 mmHg auf. Ich schlage vor, unseren Patienten heute in die Bauchlage zu bringen.“ Der leitende Klinikarzt, ein Professor der Rheumatologie, nickte und ergänzte die Maßnahmen: „Der Lagerungsintervall von 16 Stunden sollte angestrebt werden. Das ist nicht unbedingt selbstverständlich. Selbst Experten halten den Nutzen von Recruitmentmanövern sonst für fraglich.“ Frank, der aufmerksam die Worte aufnahm und zu wissen glaubte, worum es ging, aber eben doch das Wenigste davon verstand, nickte den Professoren zu. Zuversicht erfüllte ein wenig sein Herz. Der Pneumologe, der zur Fallbesprechung hinzugezogen worden war und sonst die Nachbarstation leitete, kürzte Franks Hoffnung ab: „Es kann zur Entwicklung einer schweren Pneumonie kommen, die in der Regel prognostisch bestimmend ist. Die Besonderheiten der Babylunge führten schon oft zur pulmonalen Manifestation“. Das klang nicht optimistisch. Die Ärzte schwiegen und schauten auf den Patienten herab. Der Oberarzt stellte abschließend fest: „Neben der antibiotischen Therapie haben wir auch die Thrombosetherapie fest im Blick zu halten. Kollegen, das Segel vom Schiff der Hoffnung zeigt sich noch nicht am Horizont. Wir bringen den Patienten also in die Bauchlage“, ergänzte er, billigende Blicke von seinen Kollegen einholend. Alle lächelten, nickten und sprachen über die spezifischen antiviralen und immunmodulatorischen Therapien, diskutierten über Remdesivir, Dexamethason und den Vorteil der Bauchlage bei Corona. Die weiße Schar verließ den Raum. Frank lächelte ihnen nach, obwohl er den Kopf nur wenig aus dem Mull, den Kabeln und der Plastik heben konnte und sein Gesicht mit den Schläuchen in der Nase kaum zu erkennen war. Er griff unter dem Laken nach dem Tablet. Die Batterielast stand auf rot. Er öffnete einen neuen Text und las ihn. Margitt hatte einige Worte über ihre Kindheit geschrieben, die Frank berührt las. Unter dem Text stand ein Nachsatz: „Wo steckst du, lieber Frank? Dein Telefon nimmt keiner ab. Es ist die Nummer, die du im Hotel abgegeben hast. Ich habe es mit Skype versucht. Teile mit, wo du bist. Ich habe dich lange gesucht und möchte dich nicht wieder verlieren.“ Er antwortete: Es sei bitter und es tue ihm leid, gestehen zu müssen, dass er in der Marien-Klinik liege und keinen Besuch empfangen dürfe. Er sei in Station Nummer 5, falls sie etwas für ihn abgeben oder bringen lassen wolle. Zur Sicherheit fügte er seine Adresse in Dahlem nochmals hinzu. Ein Foto vom Haus, die Terrasse im Blick, hängte er der kleinen elektronischen Notiz an. Dort wohne er sonst... Er drückte die Entertaste. Gern hätte er ihr jetzt geschrieben, dass er sie liebe. Kurz danach ploppte es im Tablet. Frank öffnete die angekündigte Mail und las: „Corona? Ja? Ich liege auf Station drei. Am anderen Ende in dieser Etage. Ich komme hier aber nicht weg. Ich liebe dich, Frank.“