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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 07.01.2019

Licht in eisiger
Dunkelheit
Das Buch der Augenzeugen
über die Blockade Leningrads
Die Lektüre dieses Buches ist schwer auszuhalten. Es ist es kein neues Buch, es enthält keine wissenschaftlichen Erkenntnisse, die nicht längst bekannt wären. Aber es geht um ein grausames Kapitel der Zeitgeschichte, das vor allem hierzulande so gut wie vergessen ist. Das Buch handelt von der fast 900 Tage dauernden Blockade Leningrads durch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg. Mehr als eine Million Menschen starben in der abgeriegelten Stadt, Hitler persönlich hatte angeordnet: „Die Stadt wird nur eingeschlossen, mit Artillerie zerschossen und ausgehungert.“
Doch was bedeuten 900 Tage? Ist eine Million nicht nur eine weitere abstrakte Zahl aus dem Weltkriegsinferno? Wie überlebt man unerträglichen Hunger? Es ist das Verdienst von Ales Adamowitsch (1927 bis 1994) und Daniil Granin (1919 bis 2017), das Leiden in Leningrad greifbar gemacht zu haben. Seit den 1970er-Jahren sammelten die beiden Schriftsteller und ehemaligen Soldaten der Roten Armee Aufzeichnungen und besuchten Hunderte Überlebende der Blockade; ihr aufrüttelndes Buch erschien erstmals 1981 – in einigen Passagen jedoch stark zensiert von den damaligen Behörden, denn vieles, was die beiden herausfanden, passte nicht ins Geschichtsbild vom heldenhaften Widerstand der Stadt gegen die Faschisten. Nun ist die ungekürzte und überarbeitete Fassung erstmals auf Deutsch erschienen.
Noch immer fällt die Kritik an den Stadtbehörden, die wenig für das einfache Volk taten, recht sanft aus, doch entscheidend sind die Stimmen der Zeitzeugen. Grauenhafte Details sind da zu lesen, die einem lange im Gedächtnis bleiben werden, viel ist die Rede von Verzweiflung, Kälte, Dunkelheit und Tod. Doch viel mehr ist zu lesen vom Überlebenswillen, vom Einfallsreichtum der Todgeweihten. Etwa von der „Raffinesse“, alle möglichen Dinge auf Essbarkeit zu untersuchen: „Man kratzte Mehlkleister von den Tapeten, gewann ihn aus Bucheinbänden, kochte Treibriemen aus, aß Katzen, Hunde, Krähen, alle möglichen technischen Öle, Leinfirnis, Medikamente, Gewürze, Vaseline, Glyzerin und Pflanzenreste.“ Und was machten die Deutschen? Warfen Flugblätter ab über der Stadt mit dem Text: „Aufgegessen sind die Linsen – Leningrad geht in die Binsen.“
Hier geht es aber weniger um die Täter, sondern um ein Denkmal für die Opfer. Und Granin und Adamowitsch wussten als Romanautoren den Stoff ihrer Erzählung – und sei er noch so grausam – einfühlsam zu komponieren. Daniil Granin hat hochbetagt 2014 im Bundestag von der Blockade berichtet. Sein Fazit: „Die Aufgabe derjenigen, die in der Stadt geblieben waren, (…) bestand letzten Endes darin, ihre Menschlichkeit nicht zu verlieren.“ Und darum geht von diesem Buch, wie der Schriftsteller Ingo Schulze schreibt, eine seltsame Ermutigung aus.
ROBERT PROBST
Ales Adamowitsch,
Daniil Granin:
Blockadebuch. Leningrad 1941 – 1944. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger und Ruprecht Willnow. Aufbau-Verlag, Berlin 2018.
703 Seiten, 36 Euro.
E-Book: 26,99 Euro.
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