Gewusel links, Gewusel rechts, Gewusel vorn und hinten. Miro Meerschwein ist mittendrin. Wenn er größer wäre, würde er auffallen, wenn er ein Lied pfeifen könnte, auch. Und wenn er wie ... Aber da merkt Miro, dass die anderen weg sind! Sie ziehen zum Versammlungsort, wo das »Das beste Meerschwein überhaupt« gewählt werden soll. Unterwegs will sich jeder hervortun: durch Schlauheit, Mut oder große Sprünge. Und erst richtig los geht die Prahlerei vor der Wahl. Da ruft einer: »Keine langen Reden! Wir wählen Miro! Miro will nicht um jeden Preis etwas Besonderes sein. Er tut, was er kann, und so gut er es kann.« Als »Bestes Meerschwein überhaupt« wünscht sich Miro, dass er nicht allein auf dem Gewinnerstein bleiben muss. Er will das Beste überhaupt: Er will mittendrin sein. Gewusel links, Gewusel rechts, Gewusel vorn und hinten: Wir wissen nicht, welches Meerschwein Miro ist. Aber Miro weiß, wer er ist! Ein überdurchschnittliches Buch über die Qualitäten des Mittelmaßes - natürlich von Pauli / Schärer.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.10.2013Sieger auf dem
Gewinnerstein
Ein Bilderbuch über die Kunst,
mit sich selbst zufrieden zu sein
Wie das purzelt, quiekt und wuselt! Auch wenn allen Meerschweinchen ein dicker Rumpf, Kulleraugen, Schlappöhrchen und die nervös schnuppernde Nase gemeinsam sind, ähnelt doch keines dem anderen.
So gibt es auch in Kathrin Schärers und Lorenz Paulis neuem Bilderbuch welche mit rotem, grauem, weißem und schwarzem Fell. Mal wachsen die Haare in Wirbeln, mal sind sie glatt und lang. Was die Charaktere angeht, herrscht ebenfalls Vielfalt: Pfulme ist clever, Litze tollkühn und Gloss kann weit springen. Miro dagegen ist in nichts besonders gut, was ihn etwas verdrießt. Umso überraschter ist er, als er diesmal die Wahl zum „besten Meerschwein überhaupt“ gewinnt mit der Begründung: „Miro will nicht um jeden Preis etwas Besonderes sein. Er tut, was er kann. Und so gut er es kann.“
Ein bisschen überrumpelt akzeptiert Miro die Ehre und äußert gleich einen Wunsch: Keinesfalls möchte er allein auf dem „Gewinnerstein“ bleiben müssen. Dort wäre ihm langweilig und erst recht würde er sich einsam fühlen. Nein, Miro will bei den anderen sein, einfach mittendrin. Denn inzwischen juckt ihn seine Durchschnittlichkeit nicht mehr. Er weiß jetzt, wer er ist. Und das ist schließlich das Wichtigste.
Das Beste überhaupt. Meerschwein sein ist die zwölfte Gemeinschaftsarbeit des Gespanns Pauli/ Schärer. Längst warten Liebhaber, auch erwachsene, auf jedes neue Werk der beiden. Vielleicht, weil der Autor so genau weiß, was Kinder beschäftigt, in diesem Fall, das Bedürfnis, sich hervorzutun, um wahrgenommen zu werden. Und sicher, weil die Illustratorin so viel Leben in ihre Tiere hineinzaubert. Die realistisch dargestellten Protagonisten zeigen Schalk, Überraschung, Übermut, Wut, Zuneigung, Neugierde und abwartende Zurückhaltung. Kathrin Schärers Talent, Gefühle und Empfindungen mimisch umzusetzen, ist außergewöhnlich. Warum gerade ein Buch mit Meerschweinchen? „Das Plumpe an ihnen gefällt mir so, das rührt mich.“ Zum Zeichnen und Malen benutzt die in Basel lebende Künstlerin Fettstifte, Aquarellfarben, Tusche und Kreiden. Teil ihrer Arbeitsweise ist es, die gezeichneten Tiere auszuschneiden und auf dem Papier hin und her zu schieben, bis sie am richtigen Platz sitzen. Dann werden sie aufgeklebt. Die Montage erhöht auch die plastische Wirkung. Schärers Stil ist unverwechselbar. Hinzu kommen die originellen Bildkompositionen. Sie erklärt, dass sie eine „filmische Umsetzung“ praktiziere, bei der sie „Regisseurin, Kamerafrau, Bühnen- und Kostümbildnerin in einem“ sei. So freut man sich mit ihr, dass sie für den Astrid-Lindgren-Award 2014 nominiert wurde, die am höchsten dotierte Auszeichnung im Kinderbuch. Und drückt beide Daumen. (ab 4 Jahre)
VERENA HOENIG
Lorenz Pauli : Das Beste überhaupt. Meerschwein sein. Mit Illustrationen von Katrin Schärer. Atlantis 2013. 32 Seiten, 14,95 Euro.
ILLUSTRATION AUS LORENZ PAULI UND KATHRIN SCHÄRER: DAS BESTE ÜBERHAUPT. MEERSCHWEIN SEIN.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Gewinnerstein
Ein Bilderbuch über die Kunst,
mit sich selbst zufrieden zu sein
Wie das purzelt, quiekt und wuselt! Auch wenn allen Meerschweinchen ein dicker Rumpf, Kulleraugen, Schlappöhrchen und die nervös schnuppernde Nase gemeinsam sind, ähnelt doch keines dem anderen.
So gibt es auch in Kathrin Schärers und Lorenz Paulis neuem Bilderbuch welche mit rotem, grauem, weißem und schwarzem Fell. Mal wachsen die Haare in Wirbeln, mal sind sie glatt und lang. Was die Charaktere angeht, herrscht ebenfalls Vielfalt: Pfulme ist clever, Litze tollkühn und Gloss kann weit springen. Miro dagegen ist in nichts besonders gut, was ihn etwas verdrießt. Umso überraschter ist er, als er diesmal die Wahl zum „besten Meerschwein überhaupt“ gewinnt mit der Begründung: „Miro will nicht um jeden Preis etwas Besonderes sein. Er tut, was er kann. Und so gut er es kann.“
Ein bisschen überrumpelt akzeptiert Miro die Ehre und äußert gleich einen Wunsch: Keinesfalls möchte er allein auf dem „Gewinnerstein“ bleiben müssen. Dort wäre ihm langweilig und erst recht würde er sich einsam fühlen. Nein, Miro will bei den anderen sein, einfach mittendrin. Denn inzwischen juckt ihn seine Durchschnittlichkeit nicht mehr. Er weiß jetzt, wer er ist. Und das ist schließlich das Wichtigste.
Das Beste überhaupt. Meerschwein sein ist die zwölfte Gemeinschaftsarbeit des Gespanns Pauli/ Schärer. Längst warten Liebhaber, auch erwachsene, auf jedes neue Werk der beiden. Vielleicht, weil der Autor so genau weiß, was Kinder beschäftigt, in diesem Fall, das Bedürfnis, sich hervorzutun, um wahrgenommen zu werden. Und sicher, weil die Illustratorin so viel Leben in ihre Tiere hineinzaubert. Die realistisch dargestellten Protagonisten zeigen Schalk, Überraschung, Übermut, Wut, Zuneigung, Neugierde und abwartende Zurückhaltung. Kathrin Schärers Talent, Gefühle und Empfindungen mimisch umzusetzen, ist außergewöhnlich. Warum gerade ein Buch mit Meerschweinchen? „Das Plumpe an ihnen gefällt mir so, das rührt mich.“ Zum Zeichnen und Malen benutzt die in Basel lebende Künstlerin Fettstifte, Aquarellfarben, Tusche und Kreiden. Teil ihrer Arbeitsweise ist es, die gezeichneten Tiere auszuschneiden und auf dem Papier hin und her zu schieben, bis sie am richtigen Platz sitzen. Dann werden sie aufgeklebt. Die Montage erhöht auch die plastische Wirkung. Schärers Stil ist unverwechselbar. Hinzu kommen die originellen Bildkompositionen. Sie erklärt, dass sie eine „filmische Umsetzung“ praktiziere, bei der sie „Regisseurin, Kamerafrau, Bühnen- und Kostümbildnerin in einem“ sei. So freut man sich mit ihr, dass sie für den Astrid-Lindgren-Award 2014 nominiert wurde, die am höchsten dotierte Auszeichnung im Kinderbuch. Und drückt beide Daumen. (ab 4 Jahre)
VERENA HOENIG
Lorenz Pauli : Das Beste überhaupt. Meerschwein sein. Mit Illustrationen von Katrin Schärer. Atlantis 2013. 32 Seiten, 14,95 Euro.
ILLUSTRATION AUS LORENZ PAULI UND KATHRIN SCHÄRER: DAS BESTE ÜBERHAUPT. MEERSCHWEIN SEIN.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Dieses Kinderbuch, in dem sich das Autoren-Zeichner-Duo Pauli/Schärer Meerschweinen bei der Identitätsfindung widmet, gefällt auch Verena Hoenig. Hoenig mag besonders die Lebendigkeit der Gestalten im Buch. Wie die Zeichnerin Kathrin Schärer den Tierchen Wut, Übermut oder Neugierde ins Antlitz zaubert, findet die Rezensentin bemerkenswert. Zusammen mit den originellen Bildkompositionen ergibt das für Hoenig einen einzigartigen Stil, der sogar Erwachsene begeistern kann.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.02.2014Das philosophische Meerschwein
Muss man immer und überall der Beste sein? Lorenz Pauli und Kathrin Schärer nehmen sich in ihrem neuen Bilderbuch der Frage an.
Meerschweinchen sind eine Familie aus der Ordnung der Nagetiere. Insoweit sind die grundlegenden Fragen (Wohin soll die Reise gehen? Was bleibt? Geht da noch was?) für diese wischmoppartigen Wesen schon abschließend geklärt. Sollte man meinen.
Identitätsprobleme sind aber kein menschliches Privileg, sondern setzen dem Nagetier nicht minder zu, nur anders. Das entnimmt man dem sehr lakonischen Buch "Das Beste überhaupt - Meerschwein sein" von Lorenz Pauli und Kathrin Schärer. Es ist kein Buch, das ein Biologiebuch ersetzen könnte. All die Fakten, Fakten, Fakten, die sich im Biologiebuch über das Meerschweinchen finden lassen, werden hier nicht in Abrede gestellt. Dass dieses Tier hierzulande mit Kindern spielt, während es in Südamerika gegessen wird, dass es sich seinerseits von Früchten, Gräsern und Samen ernährt und zu den wenigen Wirbeltieren gehört, die das wichtige Vitamin C nicht selbst produzieren können - all dies bestreiten Lorenz Pauli und Kathrin Schärer nicht, es interessiert sie aber auch nicht weiter. Sie achten auf das Meerschwein unter dem Gesichtspunkt seines Seins - deshalb heißt ihr Buch im Untertitel ja auch "Meerschwein sein" - und all das, was über das Sein dieses Tieres hier im Speziellen zusammengetragen wird, ließe sich auch unter der Überschrift "Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?" unterbringen. Das Schöne an Seinsfragen ist der offene Raum, in dem sie sich stellen, mit anderen Worten: Nichts muss, alles kann. Darin liegt der Riesenunterschied zum Biologieunterricht, wo es richtig und falsch gibt und das Wesentliche über das Meerschwein schon gesagt ist, wenn man nur sagt: Meerschweinchen sind eine Familie aus der Ordnung der Nagetiere.
Seinsmäßig gesehen, ist solche Abfragerei natürlich dürftig, weil sie ja keine Antwort auf die Frage zulässt, wie es sich anfühlt, ein Meerschwein zu sein. Ebendieser Frage stellt sich in dem Buch von Lorenz Pauli und Kathrin Schärer das Meerschwein Miro. Selbstreflexiv geht es zu Werke, während es seine Höhen und Tiefen durchlebt, was so viel heißt, dass Miro sich auf alles, was ihm zustößt, einen Reim macht, statt die Welt nur durch die Vitamin-C-Brille zu sehen, wie es im Biologiebuch steht. Vierzig Jahre nach Erscheinen des Essays "Wie es ist, eine Fledermaus zu sein?" (What is it like to be a bat?), mit dem der Philosoph Thomas Nagel die weitverzweigte Qualia-Debatte eröffnete, wird die What-is-it-like-Frage nun also aufs Meerschwein Miro übertragen. Wir schauen bei einem Prozess der Selbstverständigung zu, sehen uns satt an dem vielsagenden Augenspiel dieses Tieres - Augen, die mal stutzig, mal gütig, meistens aber bange aus dem Fell schauen, ja, ein regelrechtes Spektrum der Bangigkeit öffnet sich in den Augen von Miro und seinen mit ihm durchs Buch springenden Artgenossen, von bloßer Beklommenheit bis hin zu schierem Entsetzen und einmal auch beim Sprung über den Bach: Augen zu und durch. Meerschweinsein, das ist, keine Frage, verängstigt sein. Eher instinktreduziert, begegnen wir hier einem Mängelwesen, das alle Krallen voll damit zu tun hat, den Widrigkeiten der Außenwelt mit Übersicht zu begegnen und mit großen Augen irgendwie durchzukommen.
Dabei werden jede Menge falsche Erwartungen aufgebaut, weniger von den Mittieren um Miro herum als von dem eigenen Meerschweinsein. Erwartungen, die sich auf irgendein besonderes Merkmal beziehen, eine ausgefallene Fähigkeit, um unter allen anderen Tieren herauszuragen und so - und nur so - sich als jemand Bestimmtes fühlen zu können. Miros Misere im Originalton: "Wenn ich das größte von allen Meerschweinen wäre, dann würden mich alle kennen. Aber ich bin nicht groß. Schon gar nicht das größte. Wenn ich das kleinste von allen Meerschweinen wäre, würden sich alle um mich sorgen. Aber ich bin nicht klein. Schon gar nicht das kleinste. Ich bin mittendrin. Wenn ich etwas besonders gut könnte, wäre auch alles klar: Wenn ich das schnellste Meerschwein wäre. Oder wenn ich ganze Lieder pfeifen könnte. Oder wenn ich besonders gut zählen könnte. Aber ich bin einfach mittendrin."
Miro durchlebt einen Bildungsroman: Anfangs meint er noch, über jedes Stöckchen, das man ihm hinhält, springen zu sollen, um nur ja zum "besten Meerschwein überhaupt" gewählt zu werden (einmal jährlich sind die Wahlen zu diesem Titel, der Gewinner muss zwölf Monate lang bis zur nächsten Wahl auf dem Gewinnerstein hoch oben auf der Klippe sitzen - naturgemäß eine sehr dusselige Prämie, dazu angetan, das Leistungsprinzip von Grund auf in Frage zu stellen).
Am Ende wird Miro gerade deshalb zum besten Meerschwein überhaupt gewählt, weil es das überkandidelte Erwartungsspiel nicht mitspielt, sondern einfach immer "mittendrin" bleibt (in der Meerschweinchenhorde, aber im Grunde natürlich: in seiner eigenen Mitte) und genau aus diesem Grund den anderen der liebste Freund ist. Was Miro zunächst für seine Schwäche hielt, fühlt sich schließlich als Stärke an. Ob das Meerschwein auf seiner langen Wanderung zu sich selbst (vorderhand: zum Gewinnerstein) nun einen Bach mit rutschigen Steinen und Wurzeln überquert, sich durchs Gestrüpp zwängt oder einen Bogen um einen schlafenden Jaguar schlägt: Stets erweist sich das "Mittendrin sein" als evolutionärer Vorteil. Anders gesagt: Absturz droht nur bei Verlust der Mitte.
Dieses Meerschwein ist kein Getriebener mehr, es ist ein Jemand geworden - und damit geglücktem Menschsein zum Verwechseln ähnlich. Vielleicht ist das auch jener Zug, der Miro von den vielen anderen Meerschweinen unterscheidet, die aus Platzmangel in diesem Buch nicht auftauchen. Wer weiß schon, wie es sich anfühlt, das Meerschweinsein da draußen, mirolos?
CHRISTIAN GEYER
Lorenz Pauli, Kathrin Schärer: "Das Beste überhaupt".
Atlantis Verlag, Zürich 2013. 32 S., geb., 14,95 [Euro]. Ab 4 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Muss man immer und überall der Beste sein? Lorenz Pauli und Kathrin Schärer nehmen sich in ihrem neuen Bilderbuch der Frage an.
Meerschweinchen sind eine Familie aus der Ordnung der Nagetiere. Insoweit sind die grundlegenden Fragen (Wohin soll die Reise gehen? Was bleibt? Geht da noch was?) für diese wischmoppartigen Wesen schon abschließend geklärt. Sollte man meinen.
Identitätsprobleme sind aber kein menschliches Privileg, sondern setzen dem Nagetier nicht minder zu, nur anders. Das entnimmt man dem sehr lakonischen Buch "Das Beste überhaupt - Meerschwein sein" von Lorenz Pauli und Kathrin Schärer. Es ist kein Buch, das ein Biologiebuch ersetzen könnte. All die Fakten, Fakten, Fakten, die sich im Biologiebuch über das Meerschweinchen finden lassen, werden hier nicht in Abrede gestellt. Dass dieses Tier hierzulande mit Kindern spielt, während es in Südamerika gegessen wird, dass es sich seinerseits von Früchten, Gräsern und Samen ernährt und zu den wenigen Wirbeltieren gehört, die das wichtige Vitamin C nicht selbst produzieren können - all dies bestreiten Lorenz Pauli und Kathrin Schärer nicht, es interessiert sie aber auch nicht weiter. Sie achten auf das Meerschwein unter dem Gesichtspunkt seines Seins - deshalb heißt ihr Buch im Untertitel ja auch "Meerschwein sein" - und all das, was über das Sein dieses Tieres hier im Speziellen zusammengetragen wird, ließe sich auch unter der Überschrift "Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?" unterbringen. Das Schöne an Seinsfragen ist der offene Raum, in dem sie sich stellen, mit anderen Worten: Nichts muss, alles kann. Darin liegt der Riesenunterschied zum Biologieunterricht, wo es richtig und falsch gibt und das Wesentliche über das Meerschwein schon gesagt ist, wenn man nur sagt: Meerschweinchen sind eine Familie aus der Ordnung der Nagetiere.
Seinsmäßig gesehen, ist solche Abfragerei natürlich dürftig, weil sie ja keine Antwort auf die Frage zulässt, wie es sich anfühlt, ein Meerschwein zu sein. Ebendieser Frage stellt sich in dem Buch von Lorenz Pauli und Kathrin Schärer das Meerschwein Miro. Selbstreflexiv geht es zu Werke, während es seine Höhen und Tiefen durchlebt, was so viel heißt, dass Miro sich auf alles, was ihm zustößt, einen Reim macht, statt die Welt nur durch die Vitamin-C-Brille zu sehen, wie es im Biologiebuch steht. Vierzig Jahre nach Erscheinen des Essays "Wie es ist, eine Fledermaus zu sein?" (What is it like to be a bat?), mit dem der Philosoph Thomas Nagel die weitverzweigte Qualia-Debatte eröffnete, wird die What-is-it-like-Frage nun also aufs Meerschwein Miro übertragen. Wir schauen bei einem Prozess der Selbstverständigung zu, sehen uns satt an dem vielsagenden Augenspiel dieses Tieres - Augen, die mal stutzig, mal gütig, meistens aber bange aus dem Fell schauen, ja, ein regelrechtes Spektrum der Bangigkeit öffnet sich in den Augen von Miro und seinen mit ihm durchs Buch springenden Artgenossen, von bloßer Beklommenheit bis hin zu schierem Entsetzen und einmal auch beim Sprung über den Bach: Augen zu und durch. Meerschweinsein, das ist, keine Frage, verängstigt sein. Eher instinktreduziert, begegnen wir hier einem Mängelwesen, das alle Krallen voll damit zu tun hat, den Widrigkeiten der Außenwelt mit Übersicht zu begegnen und mit großen Augen irgendwie durchzukommen.
Dabei werden jede Menge falsche Erwartungen aufgebaut, weniger von den Mittieren um Miro herum als von dem eigenen Meerschweinsein. Erwartungen, die sich auf irgendein besonderes Merkmal beziehen, eine ausgefallene Fähigkeit, um unter allen anderen Tieren herauszuragen und so - und nur so - sich als jemand Bestimmtes fühlen zu können. Miros Misere im Originalton: "Wenn ich das größte von allen Meerschweinen wäre, dann würden mich alle kennen. Aber ich bin nicht groß. Schon gar nicht das größte. Wenn ich das kleinste von allen Meerschweinen wäre, würden sich alle um mich sorgen. Aber ich bin nicht klein. Schon gar nicht das kleinste. Ich bin mittendrin. Wenn ich etwas besonders gut könnte, wäre auch alles klar: Wenn ich das schnellste Meerschwein wäre. Oder wenn ich ganze Lieder pfeifen könnte. Oder wenn ich besonders gut zählen könnte. Aber ich bin einfach mittendrin."
Miro durchlebt einen Bildungsroman: Anfangs meint er noch, über jedes Stöckchen, das man ihm hinhält, springen zu sollen, um nur ja zum "besten Meerschwein überhaupt" gewählt zu werden (einmal jährlich sind die Wahlen zu diesem Titel, der Gewinner muss zwölf Monate lang bis zur nächsten Wahl auf dem Gewinnerstein hoch oben auf der Klippe sitzen - naturgemäß eine sehr dusselige Prämie, dazu angetan, das Leistungsprinzip von Grund auf in Frage zu stellen).
Am Ende wird Miro gerade deshalb zum besten Meerschwein überhaupt gewählt, weil es das überkandidelte Erwartungsspiel nicht mitspielt, sondern einfach immer "mittendrin" bleibt (in der Meerschweinchenhorde, aber im Grunde natürlich: in seiner eigenen Mitte) und genau aus diesem Grund den anderen der liebste Freund ist. Was Miro zunächst für seine Schwäche hielt, fühlt sich schließlich als Stärke an. Ob das Meerschwein auf seiner langen Wanderung zu sich selbst (vorderhand: zum Gewinnerstein) nun einen Bach mit rutschigen Steinen und Wurzeln überquert, sich durchs Gestrüpp zwängt oder einen Bogen um einen schlafenden Jaguar schlägt: Stets erweist sich das "Mittendrin sein" als evolutionärer Vorteil. Anders gesagt: Absturz droht nur bei Verlust der Mitte.
Dieses Meerschwein ist kein Getriebener mehr, es ist ein Jemand geworden - und damit geglücktem Menschsein zum Verwechseln ähnlich. Vielleicht ist das auch jener Zug, der Miro von den vielen anderen Meerschweinen unterscheidet, die aus Platzmangel in diesem Buch nicht auftauchen. Wer weiß schon, wie es sich anfühlt, das Meerschweinsein da draußen, mirolos?
CHRISTIAN GEYER
Lorenz Pauli, Kathrin Schärer: "Das Beste überhaupt".
Atlantis Verlag, Zürich 2013. 32 S., geb., 14,95 [Euro]. Ab 4 J.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Eine herrlich bizarre Geschichte mit kongenialen Meerschweingesichtern aus der Feder von Kathrin Schärer über das Mittelmass!« Bücher