Produktdetails
- Verlag: Paris: FLAMMARION
- ISBN-13: 9782080264572
- Artikelnr.: 67124408
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.12.2022Des Meisters unbändige Schülerin
Auf dunklem Kontinent: Eine französische Edition macht den Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Marie Bonaparte zugänglich.
Als Marie Prinzessin von Griechenland, geborene Bonaparte, im Frühsommer 1925 bei Sigmund Freud anfragte, ob er sie für sechs Wochen in die psychoanalytische Behandlung nehmen könne, winkte dieser zunächst ab. Seinem französischen Anhänger René Laforgue, der als Zwischenträger diente, beschied er trocken, er könne weder andere Patienten für eine solche Schnellanalyse aufgeben noch dem Sonderwunsch entsprechen, "dem selben Fall zwei Stunden täglich" zu widmen: "Mit der Prinzessin scheint es also nichts zu sein." Daraufhin schrieb Marie Bonaparte direkt an Freud, dass sie sich der Bedingung füge, vorab kein Enddatum für die Behandlung festzulegen. Mit ihrem auf Französisch entworfenen, aber letztlich auf Deutsch abgeschickten Brief setzte ein reger Schriftwechsel ein, der sich vom Beginn der zunächst zweistündigen, bald jedoch auf die klassische Therapiestunde verkürzten Analyse bis Freuds Tod im September 1939 erstreckte. Im Verlauf der Jahre sollte die Prinzessin nicht nur zu einer bevorzugten Schülerin Freuds werden, sondern auch zur Mäzenatin der Psychoanalyse und engen Freundin der Familie, deren Hundeleidenschaft sie teilte.
Die Existenz dieses letzten großen noch uneditierten Freud-Briefwechsels war zwar nie ein Geheimnis, doch waren davon bisher nur einige wenige Stücke von der Hand Freuds bekannt. Mit der jüngst erschienenen Edition und Übersetzung der fast lückenlos erhaltenen Korrespondenz hat der Pariser Verlag Flammarion nun einen wahren Coup gelandet und nicht nur die Fachwelt überrascht. Denn eigentlich hatte die Prinzessin die an ihren "geliebten Meister" adressierten Briefe in ihrem Nachlass bis 2032 gesperrt. Ihre Erben stimmten dennoch einer vorzeitigen Freigabe zu. Das Gelingen des Unternehmens ist vor allem das Verdienst des Herausgebers Rémy Amouroux, einem ausgewiesenen Spezialisten von Leben und Werk Marie Bonapartes. Ungewöhnlich ist der Fall, handelt es sich doch um die Übersetzung eines noch weitgehend unbekannten Originals, denn nicht nur die Briefe Freuds, auch diejenigen der Prinzessin sind überwiegend auf Deutsch verfasst.
Das Abrücken von Französisch stellte nicht nur ein Entgegenkommen im Hinblick auf Freud dar, der Analysen allein auf Deutsch oder Englisch durchführte. Ihr guten Deutschkenntnisse nutzte Marie Bonaparte auch, um ihren Status innerhalb der Psychoanalyse durch eine konsequente Übersetzungspolitik zu etablieren. In langen Diskussionen mit Freud, der "französische Neubildungen" für seine Begriffe ablehnt, sucht seine "liebste und beste Übersetzerin", wie er sie bald nennt, dabei nach einer gleichermaßen präzisen und allgemein verständlichen Sprache. Mit viel Verve führt sie verlegerische Verhandlungen, die zum Resultat führen, dass Gaston Gallimard die Psychoanalyse zu einem neuen Programmschwerpunkt macht. Dass diese neue Rolle der Prinzessin aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht ohne Risiko war, verdeutlicht der Pariser Skandal im Winter 1927 um ihre erste Übersetzung, die Freuds Leonardo-Studie galt: "Die Damen der Gesellschaft meinen, dass ich Ihr Werk übersetzt habe, um die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, und aus 'Liebe zur Pornographie'!" Ihre Cousine, die Herzogin von La Rochefoucauld-Doudeauville, lässt sogar ein Exemplar des Buches rituell in ihrem Salon verbrennen.
Wenn auch die gesamte Korrespondenz von der großen Verehrung der Prinzessin für den "geliebten Meister" zeugt, den sie bald nur noch als "lieben Vater" anredet, so kommen hier dennoch auch eine Reihe von Auseinandersetzungen ans Licht. Sie revidieren das bisherige Bild von der bedingungslosen Anhängerin, der man später den abfälligen Spottnamen "Madame Freud-a-dit" (Freud hat gesagt) angehängt hat. Der Hauptkonflikt wird kaum zufällig auf jenem Gebiet ausgefochten, auf dem der Meister seiner Schülerin wenig bieten konnte: nämlich auf dem ihm "dunkel" scheinenden Kontinent der weiblichen Sexualität. Marie Bonapartes Hauptziel während ihrer Analyse war das Erreichen eines vaginalen Orgasmus ohne Beteiligung der Klitoris, wofür ihr die Verringerung des Abstandes zur Vagina als unabdingbar erschien. Dazu unterzog sie sich mehreren Operationen bei dem berühmten Wiener Gynäkologen Josef Ritter von Halban, von denen sie sich die Verbesserung ihrer "Sexualfunktion" erhoffte. Da das Ehebett als Testfeld ungeeignet war (Prinz Georg von Griechenland unterhielt eine Liebesbeziehung zu seinem Onkel Valdemar), suchte sie sich dafür zahlreiche Liebhaber. Darunter fanden sich, zu Freuds Missfallen, neben seinen Pariser Anhängern Laforgue und Rudolph Loewenstein auch scharfe Kritiker der Psychoanalyse wie der junge Anthropologe Bronislaw Malinowski, dessen Expeditionen Marie Bonaparte finanzierte.
Unablässig verteidigte sie als "klitoridische Frau" ihr Recht auf "dieses Stück männliche Sexualfreiheit" und warf Freud vor, seine Einstellung sei die "der patriarchalen Gesellschaft": "Der Mann darf sich alles erlauben, zwischen mehreren Frauen leben, bigam, polygam sein, und er bleibt immer dazu kulturgerecht. Das Weib soll sich alles gefallen lassen, die zweite Frau eines bigamen Menschen sein und lächeln, und danken." Der Psychoanalytiker zog die Konfliktlinien etwas anders. Bonapartes "Neigung zur polygamen Untreue als Ausdruck Ihrer Männlichkeit" sei ihm durchaus genehm, "da ich nicht für oder gegen die Moral, sondern für männliche Lebenseinstellung gegen die weibliche bei der im Grunde klitoridischen Frau Partei nehme. Ich bestreite Ihnen also nicht das Recht sich in der Liebe männlich zu benehmen, so lange Sie bei der Liebe sind. Wenn nicht heute, so werden Sie ein Dezennium später hoffentlich erkennen, dass nicht nur die Polygamie männlich ist, sondern auch die endliche Verlegung des psychischen Interesses vom Sexuellen weg auf's Intellektuelle."
Auch nach der offiziellen Beendigung ihrer Lehranalyse schätzte Freud stets die "Aufrichtigkeit" seiner oft unbändigen Schülerin, in deren "Untreuekomplex" er keine grundlegenden Revisionen seiner Lehren sah. Doch konnte er nie ganz ihrer Auffassung folgen, mit der sie ihr eigenes Sexualleben zu einem einzigen unaufhörlichen Forschungsprojekt er-klärte. Zu weit ging Bonaparte seines Erachtens allerdings nicht mit ihrem Sohn Pierre, mit dem sie einmal sogar eine inzestuöse Liebesnacht erwägt, sondern mit ihrem Arzt Halban, der sie ",zu Versuchszwecken'" nach dem operativen Eingriff an ihren Genitalien umstandslos zu einem Beischlaf zwingt. Was Freud als eine regelrechte Vergewaltigung seiner Patientin ansieht, ist für diese nur eine weitere ihrer vielen ",Dummheiten'". So wird sie auch im Rückblick ihre erotisch wenig ertragreichen Operationen insgesamt einschätzen, die künftig nur noch Material für psychoanalytische Forschung sind: "Aus dem Schiffbruch meiner eigenen Sexualfunktion wird wenigstens ein gutes Buch geschöpft." Den Koitus verlieren beide in den letzten Jahren zunehmend aus dem Blick, auch aufgrund der politischen Umbrüche, die Freud und seine Familie 1938 ins englische Exil führten, dank tatkräftiger Unterstützung durch die Prinzessin. Was noch blieb, waren die geliebten treuen Hunde, die keine Ambivalenz kennen. Eine der letzten Arbeiten Freuds ist die Übersetzung von Marie Bonapartes Liebeserklärung an "Topsy den goldhaarigen Chow". ANDREAS MAYER
Marie Bonaparte/ Sigmund Freud: "Correspondance intégrale". 1925 -1939.
Éd. Flammarion, Paris 2022. 1084 S., br., 42,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Auf dunklem Kontinent: Eine französische Edition macht den Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und Marie Bonaparte zugänglich.
Als Marie Prinzessin von Griechenland, geborene Bonaparte, im Frühsommer 1925 bei Sigmund Freud anfragte, ob er sie für sechs Wochen in die psychoanalytische Behandlung nehmen könne, winkte dieser zunächst ab. Seinem französischen Anhänger René Laforgue, der als Zwischenträger diente, beschied er trocken, er könne weder andere Patienten für eine solche Schnellanalyse aufgeben noch dem Sonderwunsch entsprechen, "dem selben Fall zwei Stunden täglich" zu widmen: "Mit der Prinzessin scheint es also nichts zu sein." Daraufhin schrieb Marie Bonaparte direkt an Freud, dass sie sich der Bedingung füge, vorab kein Enddatum für die Behandlung festzulegen. Mit ihrem auf Französisch entworfenen, aber letztlich auf Deutsch abgeschickten Brief setzte ein reger Schriftwechsel ein, der sich vom Beginn der zunächst zweistündigen, bald jedoch auf die klassische Therapiestunde verkürzten Analyse bis Freuds Tod im September 1939 erstreckte. Im Verlauf der Jahre sollte die Prinzessin nicht nur zu einer bevorzugten Schülerin Freuds werden, sondern auch zur Mäzenatin der Psychoanalyse und engen Freundin der Familie, deren Hundeleidenschaft sie teilte.
Die Existenz dieses letzten großen noch uneditierten Freud-Briefwechsels war zwar nie ein Geheimnis, doch waren davon bisher nur einige wenige Stücke von der Hand Freuds bekannt. Mit der jüngst erschienenen Edition und Übersetzung der fast lückenlos erhaltenen Korrespondenz hat der Pariser Verlag Flammarion nun einen wahren Coup gelandet und nicht nur die Fachwelt überrascht. Denn eigentlich hatte die Prinzessin die an ihren "geliebten Meister" adressierten Briefe in ihrem Nachlass bis 2032 gesperrt. Ihre Erben stimmten dennoch einer vorzeitigen Freigabe zu. Das Gelingen des Unternehmens ist vor allem das Verdienst des Herausgebers Rémy Amouroux, einem ausgewiesenen Spezialisten von Leben und Werk Marie Bonapartes. Ungewöhnlich ist der Fall, handelt es sich doch um die Übersetzung eines noch weitgehend unbekannten Originals, denn nicht nur die Briefe Freuds, auch diejenigen der Prinzessin sind überwiegend auf Deutsch verfasst.
Das Abrücken von Französisch stellte nicht nur ein Entgegenkommen im Hinblick auf Freud dar, der Analysen allein auf Deutsch oder Englisch durchführte. Ihr guten Deutschkenntnisse nutzte Marie Bonaparte auch, um ihren Status innerhalb der Psychoanalyse durch eine konsequente Übersetzungspolitik zu etablieren. In langen Diskussionen mit Freud, der "französische Neubildungen" für seine Begriffe ablehnt, sucht seine "liebste und beste Übersetzerin", wie er sie bald nennt, dabei nach einer gleichermaßen präzisen und allgemein verständlichen Sprache. Mit viel Verve führt sie verlegerische Verhandlungen, die zum Resultat führen, dass Gaston Gallimard die Psychoanalyse zu einem neuen Programmschwerpunkt macht. Dass diese neue Rolle der Prinzessin aufgrund ihrer sozialen Stellung nicht ohne Risiko war, verdeutlicht der Pariser Skandal im Winter 1927 um ihre erste Übersetzung, die Freuds Leonardo-Studie galt: "Die Damen der Gesellschaft meinen, dass ich Ihr Werk übersetzt habe, um die Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen, und aus 'Liebe zur Pornographie'!" Ihre Cousine, die Herzogin von La Rochefoucauld-Doudeauville, lässt sogar ein Exemplar des Buches rituell in ihrem Salon verbrennen.
Wenn auch die gesamte Korrespondenz von der großen Verehrung der Prinzessin für den "geliebten Meister" zeugt, den sie bald nur noch als "lieben Vater" anredet, so kommen hier dennoch auch eine Reihe von Auseinandersetzungen ans Licht. Sie revidieren das bisherige Bild von der bedingungslosen Anhängerin, der man später den abfälligen Spottnamen "Madame Freud-a-dit" (Freud hat gesagt) angehängt hat. Der Hauptkonflikt wird kaum zufällig auf jenem Gebiet ausgefochten, auf dem der Meister seiner Schülerin wenig bieten konnte: nämlich auf dem ihm "dunkel" scheinenden Kontinent der weiblichen Sexualität. Marie Bonapartes Hauptziel während ihrer Analyse war das Erreichen eines vaginalen Orgasmus ohne Beteiligung der Klitoris, wofür ihr die Verringerung des Abstandes zur Vagina als unabdingbar erschien. Dazu unterzog sie sich mehreren Operationen bei dem berühmten Wiener Gynäkologen Josef Ritter von Halban, von denen sie sich die Verbesserung ihrer "Sexualfunktion" erhoffte. Da das Ehebett als Testfeld ungeeignet war (Prinz Georg von Griechenland unterhielt eine Liebesbeziehung zu seinem Onkel Valdemar), suchte sie sich dafür zahlreiche Liebhaber. Darunter fanden sich, zu Freuds Missfallen, neben seinen Pariser Anhängern Laforgue und Rudolph Loewenstein auch scharfe Kritiker der Psychoanalyse wie der junge Anthropologe Bronislaw Malinowski, dessen Expeditionen Marie Bonaparte finanzierte.
Unablässig verteidigte sie als "klitoridische Frau" ihr Recht auf "dieses Stück männliche Sexualfreiheit" und warf Freud vor, seine Einstellung sei die "der patriarchalen Gesellschaft": "Der Mann darf sich alles erlauben, zwischen mehreren Frauen leben, bigam, polygam sein, und er bleibt immer dazu kulturgerecht. Das Weib soll sich alles gefallen lassen, die zweite Frau eines bigamen Menschen sein und lächeln, und danken." Der Psychoanalytiker zog die Konfliktlinien etwas anders. Bonapartes "Neigung zur polygamen Untreue als Ausdruck Ihrer Männlichkeit" sei ihm durchaus genehm, "da ich nicht für oder gegen die Moral, sondern für männliche Lebenseinstellung gegen die weibliche bei der im Grunde klitoridischen Frau Partei nehme. Ich bestreite Ihnen also nicht das Recht sich in der Liebe männlich zu benehmen, so lange Sie bei der Liebe sind. Wenn nicht heute, so werden Sie ein Dezennium später hoffentlich erkennen, dass nicht nur die Polygamie männlich ist, sondern auch die endliche Verlegung des psychischen Interesses vom Sexuellen weg auf's Intellektuelle."
Auch nach der offiziellen Beendigung ihrer Lehranalyse schätzte Freud stets die "Aufrichtigkeit" seiner oft unbändigen Schülerin, in deren "Untreuekomplex" er keine grundlegenden Revisionen seiner Lehren sah. Doch konnte er nie ganz ihrer Auffassung folgen, mit der sie ihr eigenes Sexualleben zu einem einzigen unaufhörlichen Forschungsprojekt er-klärte. Zu weit ging Bonaparte seines Erachtens allerdings nicht mit ihrem Sohn Pierre, mit dem sie einmal sogar eine inzestuöse Liebesnacht erwägt, sondern mit ihrem Arzt Halban, der sie ",zu Versuchszwecken'" nach dem operativen Eingriff an ihren Genitalien umstandslos zu einem Beischlaf zwingt. Was Freud als eine regelrechte Vergewaltigung seiner Patientin ansieht, ist für diese nur eine weitere ihrer vielen ",Dummheiten'". So wird sie auch im Rückblick ihre erotisch wenig ertragreichen Operationen insgesamt einschätzen, die künftig nur noch Material für psychoanalytische Forschung sind: "Aus dem Schiffbruch meiner eigenen Sexualfunktion wird wenigstens ein gutes Buch geschöpft." Den Koitus verlieren beide in den letzten Jahren zunehmend aus dem Blick, auch aufgrund der politischen Umbrüche, die Freud und seine Familie 1938 ins englische Exil führten, dank tatkräftiger Unterstützung durch die Prinzessin. Was noch blieb, waren die geliebten treuen Hunde, die keine Ambivalenz kennen. Eine der letzten Arbeiten Freuds ist die Übersetzung von Marie Bonapartes Liebeserklärung an "Topsy den goldhaarigen Chow". ANDREAS MAYER
Marie Bonaparte/ Sigmund Freud: "Correspondance intégrale". 1925 -1939.
Éd. Flammarion, Paris 2022. 1084 S., br., 42,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main