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Produktdetails
  • Verlag: Ch. Links Verlag
  • ISBN-13: 9783861531135
  • ISBN-10: 3861531135
  • Artikelnr.: 06569061
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.1997

Endpunkt eines Machtverfalls
Die bisher tiefgreifendste Studie zur Öffnung der Mauer

Hans-Hermann Hertle: Chronik des Mauerfalls. Die dramatischen Ereignisse um den 9. November 1989. Ch. Links Verlag, Berlin 1996. 340 Seiten, 29,80 Mark.

Hans-Hermann Hertle: Der Fall der Mauer. Die unbeabsichtigte Selbstauflösung des SED-Staates. Westdeutscher Verlag, Opladen/Wiesbaden 1996. 587 Seiten, 76,- Mark.

Die Szene, die den 9. November 1989 zu einem Schlüsseldatum der jüngsten deutschen Geschichte machen sollte, ist unvergessen. Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros und Sekretär des ZK der SED, verliest wenige Minuten vor 19 Uhr, ziemlich am Ende einer einstündigen Pressekonferenz, im internationalen Pressezentrum Berlin in der Mohrenstraße eine erst für den folgenden Tag gedachte Mitteilung, wonach Ausreisen aus der DDR für alle Bürger ohne besondere Voraussetzungen "über alle Grenzübergangsstellen der DDR zur BRD beziehungsweise zu Berlin-West erfolgen" könnten. Und als ein Journalist nachhakt, wann die Regelung in Kraft trete, antwortete Schabowski, offenkundig unschlüssig in seinen Papieren blätternd: "Das tritt nach meiner Kenntnis . . . ist das sofort, unverzüglich."

Die Tragweite seiner Äußerung schien er nicht begriffen zu haben. Die zwei, drei Stunden nach der vom DDR-Fernsehen live übertragenen Pressekonferenz eintretenden Folgen, der gewaltfreie Durchbruch der Berliner Mauer durch Zehntausende, beschworen den Anfang vom Ende des "sozialistischen Staates deutscher Nation" herauf.

Der an der Freien Universität Berlin tätige Sozialwissenschaftler und Historiker Hans-Hermann Hertle hat seine umfassenden Studien zu Vorgeschichte, Hintergründen und Verlauf jenes dramatischen Geschehens zu zwei Büchern verarbeitet, die gleichzeitig in zwei verschiedenen Verlagen erschienen sind. Das mag ungewöhnlich, im gegebenen Fall aber nachvollziehbar sein. Der Autor offeriert zum einen ein gut lesbares Sachbuch, das einer politisch interessierten Leserschaft die Geschichte des Mauerfalls chronologisch nahebringt. Zum anderen legt er eine aus seiner Dissertation hervorgegangene Arbeit vor, die wissenschaftliche Analyse und historische Dokumentation zugleich ist. Sie wendet sich an Historiker, Ökonomen, Politologen und Publizisten mit deutschlandpolitischem Engagement. Beide Bücher unterscheiden sich in der Form, im Umfang und nicht zuletzt im Preis, nicht aber im Inhalt. Die Chronik stellt die umgearbeitete, gekürzte, durch Fotos und Faksimiles illustrierte, populär gehaltene Fassung der wissenschaftlichen Studie dar. Sie liest sich spannend und informiert zuverlässig. Wer sich indes wissenschaftlich vertieft mit dem Thema befassen will, nimmt mit dem umfangreicheren Werk - auf das sich die nachstehende Rezension bezieht - ein beeindruckendes Kompendium entgegen, mit dem der Autor die dramatische Geschichte des Mauerfalls fundiert aufgearbeitet hat.

Hertles Kernthese besagt, daß der Fall der Berliner Mauer "eine nichtbeabsichtigte Folge sozialen Handelns" war. Hinter der ebenso banalen wie abstrakten Formulierung verbirgt sich der an vielzähligen Fakten, Daten und Details festgemachte Nachweis, daß der Fall der Mauer von keinem der verantwortlichen Akteure gewollt war. Sie ahnten an jenem Schicksalsabend zunächst nicht einmal von Ferne, was auf sie zukommen würde. Daß "alles anders kam, als beabsichtigt war", erklärt sich freilich nicht aus der Konfusion des Zufalls, sondern aus der kausalen Vernetzung langfristig wirkender Faktoren mit aktuellen politischen Erfordernissen. "Der Mauerfall ist das Resultat der Konfrontation einer spezifischen Entscheidungsordnung und der von ihr geprägten Entscheidungsträger mit einer völlig unvorhergesehenen - und unvorhersehbaren - Situation mit zeitlich überschlagenden Handlungsanforderungen." Zu diesem Resümee gelangt Hertle im Ergebnis seiner Forschungen - es bestimmt ihren Erkenntniswert und ihre Originalität.

Indem der Autor den Fall der Mauer in den Kontext seiner Analyse der politischen, ökonomischen und sozialen Widersprüche des DDR-Sozialismus stellt, verknüpft er Struktur- und Ereignisgeschichte und demonstriert so die logische Zwangsläufigkeit des Mauerfalls. Sichtbar wird das fatale Panorama eines Machtverfalls. Dargestellt werden die unaufhaltsame Erosion des Systems, die seit den siebziger Jahren beunruhigend wachsende Staatsverschuldung, die schließlich im politischen Bankrott der SED-Diktatur mündete. "Allein ein Stoppen der Verschuldung würde im Jahre 1990 eine Senkung des Lebensstandards um 25 bis 30 Prozent erfordern und die DDR unregierbar machen", folgerte Gerhard Schürer, seinerzeit Chef der Staatlichen Plankommission, unmittelbar nach dem Sturz Erich Honeckers, den übrigens der Autor in allen Einzelheiten herausarbeitet. Der totale Vertrauensschwund des Regimes, seine Lähmung, Resignation und Ratlosigkeit aber, die aus der gegebenen Situation resultierten, machten letztlich auch die Vergeblichkeit aller Versuche plausibel, mit denen Egon Krenz und Hans Modrow zu diesem Zeitpunkt der SED die Macht noch zu erhalten trachteten.

Als sich die Politbürokratie der SED auf dem 10. Plenum des Zentralkomitees - es beriet sich drei Tage lang, vom 8. bis 10. November 1989, in Ost-Berlin - endlich entschloß, unter dem Druck massenhafter Ausreisebegehren in der DDR einerseits, der Fluchtbewegungen von DDR-Bürgern über Ungarn, die Tschechoslowakei und Polen andererseits, Reisefreiheit zuzugestehen, war es politisch zu spät. Während das ZK im "Großen Haus" am Werderschen Markt an der Realität vorbeidiskutierte, nahm es in seiner Abgeschiedenheit vorerst gar nicht wahr, welche Lawine Schabowski auf seiner Pressekonferenz losgetreten hatte. Da andererseits alle wichtigen Entscheidungsträger der Staatssicherheit, der Volkspolizei, der Nationalen Volksarmee und der Grenztruppe der DDR, Minister und Generäle, als Mitglieder des ZK im Plenum präsent zu sein hatten, es aber nicht für nötig befanden, die Information über die beabsichtigte Gewährung von Reisefreiheit weiterzuleiten, standen die für die Grenzkontrollen Verantwortlichen der sich dramatisch zuspitzenden Situation an der Mauer rat- und hilflos gegenüber. Als sie gefordert gewesen wäre, war die politische Führung entscheidungsunfähig, sie war nicht einmal für dringende Nachfragen erreichbar.

"Noch heute bewegt mich die Frage, warum niemand von uns offiziell unterrichtet wurde. Uns fehlte so jede Möglichkeit, notwendige Vorbereitungen an der Grenze zu treffen. Wir sind von den Entscheidungen der zentralen Stelle völlig überrascht worden. Für mich war das zunächst unfaßbar, übers Fernsehen von der Grenzöffnung zu erfahren." Es war nicht irgendwer, der dies 1990 beklagt hat, sondern Generalmajor Dieter Teichmann, seinerzeit Chef des Stabes der Grenztruppen der DDR. So mußte der Gang der Dinge seinen unabänderlichen Lauf nehmen. Mit der Berliner Mauer wurde Stunden später auch die innerdeutsche Grenze ohne Gewalt durchbrochen.

Der Autor macht das alles anschaulich. Er zeichnet minutiös den Verlauf des 9. Novembers aus verschiedenen Perspektiven nach, einschließlich der Kommunikationsdefizite auf verschiedenen Entscheidungsebenen sowie im Verhältnis von Ost-Berlin zu Moskau. Denn auch die führenden Männer der Sowjetunion wurden natürlich vom Fall der Mauer "völlig überrascht". Wie hätten sie konsultiert, zumindest informiert werden können, da er nicht beabsichtigt war, sondern spontan vom Volk erzwungen wurde? Im letzten Kapitel erörtert Hertle die politischen Konsequenzen, die sich DDR-intern, innerdeutsch und international aus dem unwiderruflichen Fall der Mauer ergeben haben.

Hertles Studie fasziniert durch die Fülle und die Qualität seiner Quellen. Neben Akten aus den heute erreichbaren Archiven der SED, des Innenministeriums und der Staatssicherheit wertete der Autor das einschlägige Schrifttum aus, Monographien, Memoiren, Dokumentationen, Zeitungsartikel, ferner Hörfunk- und Fernsehsendungen sowie nicht zuletzt die Tonbandaufzeichnungen der entscheidenden ZK-Tagung. So fördert er nicht nur viel Neues im Detail zutage, es fließt auch manches Atmosphärische in seine Darstellung ein. Eine wichtige Ergänzung bedeuten zudem rund hundert (!) Gespräche mit Zeitzeugen, darunter ehemaligen Mitgliedern des Politbüros und Generälen der NVA und der Grenztruppen der DDR, ferner hohen Offizieren aus den Ministerien des Innern und für Staatssicherheit, zumal aus den Paßkontrolleinheiten, aber auch mit Georg Schertz, seinerzeit Polizeipräsident von West-Berlin, und leitenden Mitarbeitern des Bundeskanzleramtes. Acht der Zeitzeugen-Interviews, die Hertle teilweise zusammen mit Peter Steinbach, seinem Doktorvater, geführt hat, sowie 38 Schriftstücke von dokumentarischem Aussagewert sind dem Buch als Anhang beigegeben, so daß sie zu weiteren Forschungen herangezogen werden können. Nicht zuletzt deswegen wird Hertles Studie nachhaltigen Einfluß auf die historische Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit behalten, für die sein Werk selbst beispielgebend ist. KARL WILHELM FRICKE

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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 24.06.2000

Mauer im Wald
Eine Mauer, die spazieren geht: Für den Landart-Künstler Andy Goldsworthy bilden die steinernen Gebilde keine starren Grenzen, die Grundstücke trennen oder gar Frontlinien zwischen verfeindeten Nachbarn bilden. Goldsworthy macht die Mauern beweglich und lebendig – er schickt sie auf Wanderschaft. Sie laufen über Hügel und Täler, tauchen in Seen ein und legen sich in üppigen Kurven um die Baumstämme eines Waldes. Aus der Schlangenform von Goldworthys Mauern spricht „Respekt vor der Priorität der Bäume, die vor ihnen da waren”, meint der Kunstkritiker Kenneth Baker. Goldworthys 760 Meter lange Steinmauer im Skulpturenpark des Storm King Art Center im Staat New York ist die Hauptattraktion seines Buches mit dem einfachen Titel Mauer, das bei Zweitausendeins erschien (60 Farbfotos, 94 S. , 33 Mark).
ajh/Foto: Verlag
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