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Matias ist gestorben, der charismatische jüngere Bruder des erfolgreichen Bauunternehmers Rubén Bertomeu, in seiner Jugend ein Anhänger revolutionärer Gewalt, später wie seinem Bruder zum Trotz ein Ökobauer. Mit dem Tod von Matias setzt ein vielstimmiger Chor ein: Da ist Rubén, der Sozialist und Bauunternehmer, der auf sein Leben zurückblickt, in dem jedes Ideal für Geld und Erfolg geopfert wurde. Da ist seine zweite Frau Monica, blutjung und karrieregeil, mit unbedingtem Aufstiegswillen. Und seine Tochter Sylvia, eine Kunsthistorikerin, gefangen in einer freudlosen Ehe mit dem arroganten…mehr

Produktbeschreibung
Matias ist gestorben, der charismatische jüngere Bruder des erfolgreichen Bauunternehmers Rubén Bertomeu, in seiner Jugend ein Anhänger revolutionärer Gewalt, später wie seinem Bruder zum Trotz ein Ökobauer. Mit dem Tod von Matias setzt ein vielstimmiger Chor ein: Da ist Rubén, der Sozialist und Bauunternehmer, der auf sein Leben zurückblickt, in dem jedes Ideal für Geld und Erfolg geopfert wurde. Da ist seine zweite Frau Monica, blutjung und karrieregeil, mit unbedingtem Aufstiegswillen. Und seine Tochter Sylvia, eine Kunsthistorikerin, gefangen in einer freudlosen Ehe mit dem arroganten Professor Juan Mullot. Sie alle profitieren von Rubéns Reichtum, gleichzeitig verachten sie ihn. Rubéns Kindheitsfreund, Federico Brouard, ist als Schriftsteller gescheitert und verbringt seine letzten Tage im Suff, Ramon Collado ist Rubéns Mann fürs Grobe. Aus diesen unterschiedlichen Perspektiven entsteht ein grandioses Gesellschaftspanorama: die Familie als Ort des Besitzdenkens, die Zerstörung der Umwelt, Bauspekulation, schmutzige Geschäfte, Korruption, Drogen. Sexualität als Ware und gleichzeitig letzter Halt gegen die Auflösung jeglicher Verbindungen. Rafael Chirbes erzählt in »Krematorium« eine aus den Fugen geratene, von den Göttern verlassene Welt, in der keine Gewissheit mehr gilt, in der Werte, Wörter und Utopien leere Hülsen sind. Und doch ist dieser Roman ein Rettungsversuch: Aus der Erzählung der Widersprüche einer Ge?sell?schaft, die sich ganz dem Konsum und dem Mammon verschrieben hat, wird schmerzhaft deutlich, was wir verloren haben.
Autorenporträt
Rafael Chirbes, geboren 1949 in Tabernes de Valldigna bei Valencia, studierte in Madrid und lebt heute als freier Publizist in Beniarbeig bei Alicante. Früh verließ er den Ort seiner Kindheit und lebte in verschiedenen Städten Spaniens, u.a. in Salamanca, Madrid und Barcelona, später einige Zeit in Paris und in Marokko. Obwohl seine Liebe der Literatur galt, studierte Chirbes in Madrid Neuere Geschichte. Daneben interessiert er sich für Film, Malerei und Architektur und arbeitete zunächst als Literatur- und Filmkritiker für verschiedene Zeitschriften, u.a. lange Jahre für das Reise- und Gourmetmagazin Sobremesa. Rafael Chirbes verstarb im August 2015.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.09.2008

Die Sonne ist nicht Lebensquell, sondern Strafe
Betonharter Pragmatismus: Rafael Chirbes erzählt in seinem großen Roman „Krematorium” von der Zerstörungswucht des Massentourismus
Im Jahr 1958, den Ausdruck Massentourismus gab es da noch gar nicht, brachte Hans Magnus Enzensberger dessen zerstörerische Paradoxie schon in einem schönen Satz auf den Punkt: „Indem wir finden, was wir suchen, zerstören wir es.” Da war es gerade mal einige Monate her, dass in Deutschland der erste Charter-Flug abgehoben hatte, Zielflughafen Malaga. Die Maschine brachte ein paar Dutzend Touristen aus München in das bettelarme, aber gerade deshalb so pittoresk-beschauliche Fischernest Torremolinos.
Rafael Chirbes’ neuer Roman spielt 50 Jahre später in einem dieser Orte, die wir gefunden haben, um sie restlos zu zerstören. Chirbes weiß, wovon er schreibt, er wurde 1949 geboren in einem Dorf bei Alicante und lebt heute in einem anderen Dorf bei Alicante, das Dorf in „Krematorium” heißt Misent, aber es könnte auch Torremolinos, Benidorm oder Malaga heißen. Seine eigentliche Hauptfigur ist Rubén Bertomeu, ein mächtiger Immobilienhai, der groß wurde durch den Tourismus.
Der sympathische Schurke
Rafael Chirbes, Jahrgang 1949, schaut auf den Fotos, die es von ihm gibt, mit seinem grimmen Schnauzer und den Strickwesten über einem festen Bauch eher aus wie ein skeptischer knorriger Bauer denn wie ein Schriftsteller, und er hat schon oft vehement gegen die Totalzerstörung der spanischen Natur gewettert. Nichts aber liegt ihm so fern, wie moralischer Hochmut, er richtet keine seiner Figuren, das erledigen die schon selber. Rubén Bertomeu wird einem in seiner Mischung aus bauernschlauer Lebenserfahrung und funkelnder Eloquenz streckenweise recht sympathisch. Ja, wenn Chirbes ihn in seinem früheren Leben als Kunstreisenden und Gourmet beschreibt, dann leiht er ihm Züge von sich selber: Chirbes hat viele Jahre lang Reisereportagen und Restaurantkritiken für die edle Wein- und Gastronomiezeitschrift Sobremesa verfasst und er legt seinem Helden Sätze und Theorien in den Mund, die er selbst schon in Interviews oder Essays geäußert hat.
Und doch ist dieser Rubén eine der monströsesten Figuren der zeitgenössischen Literatur, ein Mensch, der regrediert ist auf die Grundfunktionen trinken, ficken, jagen, schlafen, ohne das als Verlust zu sehen, eine lebende Abrissbirne, die alles plattmacht, was sich ihr in den Weg stellt, dessen Pragmatismus grauer ist als der Beton seiner Rohbauten: „Du Juan, ein Liebhaber realistischer Literatur, der Honoré de Balzac so schätzt, warum kommst du nicht darauf, dass es hier wie bei Balzac ist, ganz genauso. Auch auf dem Ursprung dieses Familienvermögens liegt ein dunkler Schatten”, sagt Rubén ganz am Schluss.
Balzac, den Rafael Chirbes bewundert, schrieb einmal, der Roman sei die „Privatgeschichte der Nationen”. Das könnte über dem Gesamtwerk von Rafael Chirbes stehen, der mit seinen Romanen und Erzählungen eine bittertraurige „Comedie Humaine” geschrieben hat, indem er Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg in großen Tableaus und Familienchroniken erzählt. Zeichneten seine vorangehenden Romane und Erzählungsbände den historischen Hintergrund, vor dem seine eigene Generation groß wurde vom Bürgerkrieg über die Francozeit bis in die neunziger Jahre, beschreibt er nun in „Krematorium” das Scheitern seiner eigenen Generation.
Im „Fall von Madrid” reichte ihm der eine Tag, an dem Franco starb, um Spaniens Übergang von der Diktatur zur konstitutionellen Monarchie zu verhandeln. „Alte Freunde” beschrieb ein Abendessen in einem noblen Madrider Restaurant, in dem sich einstige Weggefährten der Revolution treffen, über ihr Leben reden und innerlich überlegen, wann sie sich selbst abhanden kamen. Schon in diesem Buch tauchte ein alter Baumogul auf, der seinen Freunden vollkommen plausibel und in prächtigster Laune erklären konnte, warum er sich vom Revolutionär zum harten Geschäftsmann entwickelt hat.
Diesmal nun zeichnet er ein mächtiges, düsteres Bild seiner eigenen Generation, die geprägt wurde von den unruhigen Jahren und hochfliegenden Plänen der sechziger Jahre, die daran glaubten, den Kapitalismus überwinden zu können, die davon überzeugt waren, die Welt zum Guten verändern zu können, wenn nur erst Franco weg ist. Als sie dann, um mit Enzensberger zu sprechen, endlich fanden, was sie suchten, als sie die Möglichkeit hatten, ein freies Leben zu gestalten, zerstörten sie es.
Die Technik des inneren Monologs hat Chirbes über die Jahre zu solcher Meisterschaft entwickelt, dass er mittlerweile auf alle äußere Handlung verzichten kann, ohne dass einem das beim Lesen überhaupt auffallen würde: Ein Vormittag nur wird erzählt, keine der Personen bewegt sich vom Fleck, fast als sei die Zeit geschmolzen, zerflossen in der Hitze der Sonne, die hier ein grellweißes Licht verstrahlt, „sie ist nicht Lebensquell, sondern Strafe”, wie es einmal heißt.
Chirbes durchleuchtet sein Personal wie Kadaver unter dem weißen harten Licht dieser afrikanisch heißen Sonne. Rubén steckt im Stau fest, seine junge Frau Monica steht vor dem Badezimmerspiegel, taxiert die Haltbarkeit ihres Körpers und rechnet das Kind in ihrem Bauch in Vermögenswerte um. Der Schriftsteller Federico Brouard sitzt zu Hause im Halbdunkel seiner Erinnerungen. Sie alle bereiten sich auf die Trauerfeier am Mittag vor, die Verbrennung von Matias, Rubéns Bruder, der sich in einer Art ideologischem Rückzugsgefecht vom großsprecherischen Stalinisten zum Ökobauern gewandelt hatte. Matias’ Verbrennung wird freilich gar nicht mehr beschrieben, auch taucht das Wort Krematorium zuvor nicht auf. So werden durch den Titel die Bettenburg und unsere Zeit selbst zum Krematorium, in der alle Träume, alle Reste des zivilisatorischen Miteinander verdampfen. Keine Ethik hat überlebt, eine Welt ohne Götter, in der alles erlaubt ist, „Präadamismus ohne Schuldgefühl”.
Orgien der Larmoyanz
Anfangs wirkt es so, als gebe es geglückte Lebensentwürfe als Kontrapunkt zu Rubéns betonhartem Pragmatismus: Silvia arbeitet als Restauratorin, ihr Mann Juan lehrt als anerkannter Literaturwissenschaftler in Madrid, Matias züchtete Olivenbäume, und dann ist da Federico Brouard, der Schriftsteller und Kindheitsfreund.
Das Buch ist deshalb so bitter, weil auch all diese Alternativentwürfe verbaut zu sein scheinen. Silvia und Juan verachten Rubén, haben sich aber farb- und konturlos in seinem Reichtum und einer kühlen Zweckehe eingerichtet. Federico ist ein abgewrackter rücksichtsloser Narziss, den die Larmoyanz zu Orgien der Selbstbezichtigung treibt, er suhlt sich geradezu in dem Gefühl, vergessen zu sein. Und er hat – wie alle anderen – von Rubéns Geld profitiert. Juan, Rubéns Schwiegersohn, ein schmallippiger Literaturwissenschaftler, schreibt eine Biographie über Brouard und trauert um ihn, der einst so schöne Romane schrieb, in denen er so voller Empathie für seine Figuren war, der unter Franco im Gefängnis saß, ins Exil ging, sich abseits des Literaturbetriebs hielt und nun ein suchtkranker Alter ist, der seine Umwelt quält, ähnlich schäbig wie Rubens vertrocknete Mutter und „ihr säuerliches Nichtdasein”, wie Dagmar Ploetz so elegant übersetzt – die Tatsache, dass Chirbes’ Bücher nirgends so erfolgreich sind wie in Deutschland, verdankt sich sicher auch Ploetz’ Fähigkeit, jedes seiner Bücher in wunderschön flüssiges Deutsch umzuschmelzen.
„Wir waren wie die Maulesel am Ziehbrunnen. Wir zogen, blind und stumm, versuchten so, zu überleben, und obwohl wir miteinander alles teilten, schien uns nur Egoismus zu treiben. Dieser Egoismus hieß Elend. Die Not ließ keinen Winkel für Gefühle.” So räsonierte eine alte Frau in Chirbes’ frühem Meisterwerk „Die schöne Schrift”, in dem Chirbes erstmals ganz auf die erzählerische Kraft des inneren Monologs setzte und Geschichte von unten erzählte, über ihr Leben in äußerster Armut. „Krematorium” nun zeigt, dass 70 Jahre später dieser Egoismus ohne alles Elend genauso wuchert.ALEX RÜHLE
RAFAEL CHIRBES: Krematorium. Roman. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann Verlag, München 2008. 432 Seiten, 22 Euro.
Von der schönen Armut in die reiche Hässlichkeit – das ist die Metamorphose des Tourismus. Strand bei Benidorm Foto: Raul Belinchon / Contacto / Agentur Focus
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2009

Dreißig Millionen Russen am Strand

Der Immobilienmarkt Spaniens ist eingebrochen. Das Bewusstsein einer Generation, die das Land betoniert hat, beschreibt Rafael Chirbes in seinem Roman "Krematorium": Eine Begegnung mit dem Autor in Valencia.

VALENCIA, Anfang Juni

In Spanien ist die große Geldvernichtung im Gang. Alles, was aus Ziegelstein besteht, verliert an Wert. Schon seit Jahren war der inländische Immobilienmarkt ein überhitzter Kessel, befeuert von Gier, Korruption und besinnungsloser Wachstumseuphorie. Jetzt ist er geplatzt. Rund 1,2 Millionen nagelneue Wohnobjekte warten auf Käufer, die es nicht gibt. Frische Bauvorhaben stehen still; bald schon, so die Prognose, wird die Arbeitslosenquote in Spanien zwanzig Prozent betragen, und niemand wagt zu behaupten, dass es dabei bleibt. Währenddessen taumeln die Immobilienpreise kellerwärts. Doch wer einmal drinhängt, kommt nicht mehr so leicht heraus. Privatleute, die für den eigenen Bedarf oder als Investition Wohnraum gekauft haben, wie Spanier es im Stil eines Volkssports betreiben, können die Hypothekenkredite nicht mehr bedienen, weil sie plötzlich Geld brauchen oder ihren Job verloren haben.

Diese Krise inmitten der Krise hat eine Vorgeschichte, die mit Begriffen wie Bauboom und Bodenspekulation nur unzureichend beschrieben wäre. Sie geht auf ein flächendeckendes Modernisierungs- und Bereicherungsprojekt zurück, das Spaniens Gesellschaft in den letzten beiden Jahrzehnten tiefgreifend verändert hat. "Bis zum Jahr 2000 lebte ich in einem Dorf in der Extremadura", erzählt Rafael Chirbes, einer der wichtigsten Schriftsteller des Landes. "Nachts, vom Balkon aus, sah ich zwanzig Kilometer weit kein einziges Licht. Dann ging ich nach Beniarbeig, wo ich vom Haus aus das Meer sehen kann. Doch das Leben um mich herum kam mir vor wie der Traum eines Drogensüchtigen. Die Gegend veränderte sich ständig. Wo gerade noch Orangenbäume waren, stand am nächsten Tag ein Baukran. Die Landschaft wurde mit Appartements gepflastert, einem Einkaufszentrum, einer Mülldeponie. Der Autoverkehr schwoll an, so dass breitere Straßen gebaut werden mussten. Um mich herum herrschte frenetische Aktivität, eine Rastlosigkeit, die auch mich ergriff. Und mein Gefühl war: Nichts bleibt."

Rafael Chirbes, neunundfünfzig Jahre alt, hat das Bewusstsein dieses neuen, materialistischen Spanien in seinem fulminanten Roman "Krematorium" (Verlag Antje Kunstmann) beschrieben. Im Mittelpunkt steht der über siebzigjährige Rubén Bertomeu, der als idealistischer Architekt beginnt und später mit kriminellen Methoden und der Hilfe bestechlicher Lokalpolitiker ein saftiges Stück der spanischen Mittelmeerküste zubetoniert. Chirbes lebt an einem dieser Orte, Beniarbeig in der Provinz Alicante, der für den Schauplatz des Romans Modell gestanden hat. Bertomeus rasende Monologe, die zwanghaften Ich-Erzählungen seiner Angehörigen, Mitarbeiter und Untergebenen kulminieren an einem Vormittag, da die Familie sich bereitmacht, die Leiche von Rubéns Bruder ins Krematorium zu überführen. Doch es geht nicht um die sterblichen Überreste eines Angehörigen, sondern um ein Gesellschaftsprojekt, das sich selbst begräbt.

Denn dies ist der Roman über das, was nach Francos Tod falsch gelaufen ist. Wie die Demokratie ihren experimentierfreudigen Kindern gestattete, hochfliegende Pläne zu entwerfen; wie man davon träumte, die Armut der Eltern vergessen zu machen und befreit in die Moderne aufzubrechen; und wie sich alles in politische Machtspiele und einen großen Selbstbedienungswettbewerb verwandelte, ohne Kontrolle, ohne Ziviltugenden und erst recht ohne Umweltbewusstsein, das in Spanien noch nie politischen Einfluss genommen hat. Das Buch ist ein Stück für Stimmen und kombiniert virtuos Familiengeschichte, Generationenroman und Sittengemälde. Fern davon, den Baulöwen zu denunzieren - Chirbes hat Bertomeu sogar Sätze in den Mund gelegt, deren trockener Zynismus ihm selbst nicht fremd ist -, liefert der Autor das Porträt eines Landes, in dem auch die Unterschiede zwischen links und rechts ausgedient haben. "Wir haben die Demokratie gewonnen", sagt Chirbes, "doch die Politik dabei abgeschafft. Es gibt keine wirkliche Beteiligung an bedeutenden Entscheidungen." Wir treffen uns in einem Restaurant in Valencia, einer Stadt, die Chirbes mag. Früher hat er fünf Tage im Monat als Redakteur der Madrider Gourmetzeitschrift "Sobremesa" gearbeitet, und sein Wohlwollen gegenüber Essen und Trinken ist deutlich größer als gegenüber dem Zeitalter, das er als Romancier begleitet. "Ich bin Pessimist geworden", sagt er, während der Kellner die einzigen Gäste bedient. "Nach jeder Krise dachten wir, es kehre wieder etwas Vernunft ein. Doch es wurde stets schlimmer als zuvor. Und jetzt? Drei Jahre Stillhalten vielleicht. Ein paar Briten gehen fort, weil das Pfund weniger wert ist als früher. Aber bald wird es wieder anfangen. Dreißig Millionen Russen wollen sich bei uns an den Strand legen. Zwanzig Millionen Engländer, zwanzig Millionen Deutsche, fünf Millionen Schweden. Wenn man aus Málaga abfliegt, sieht man die Verschandelung von oben. Es ist surreal. Und die Bauqualität ist noch mieser als hier in Valencia."

Das Verstörende an seinem Roman ist, dass keine Figur ungeschoren bleibt, weder Frauen noch Männer, weder die ältere noch die jüngere Generation, der Materialist so wenig wie der Träumer. Das beliebte spanische Schwarzweißmuster, ein Denken in Lagern, wird dadurch unmöglich gemacht. Um es aus dem Sumpf zu schaffen, steigt der Bauunternehmer auch in den Drogenhandel ein, von dem er sich später, ehrbar geworden, wieder distanziert. Die Nähe zu Gaunern, Halbwelt und Rotlicht erscheint als spanisches Aufstiegsmodell. "Auch die Prostituierten spüren die Krise", sagt Rafael Chirbes und nimmt einen Schluck Rotwein. "Das ist ein riesiger Markt. In einem dieser Clubs, in dem früher dreihundert Mädchen gearbeitet haben, hocken jetzt nur noch zehn im Halbdunkel."

Wenn schon in dem Roman "Krematorium", den Dagmar Ploetz gewohnt meisterhaft ins Deutsche übersetzt hat, niemand mit seinem Leben glücklich ist, wie düster mögen dann die Aussichten für die gegenwärtige spanische Gesellschaft sein? Der von Chirbes beschriebene urbanistische Albtraum wird gerade neu bewertet, und was dabei herauskommt, treibt vielen die Blässe ins Gesicht. Wohnungen, die nicht mehr abgezahlt werden können, landen bei den Banken. Die wollen sie eigentlich nicht, müssen sie aber nehmen, weil sie sonst gar nichts bekämen. Da es schwierig ist, sie wieder loszuschlagen, hat ein fieberhaftes Unterbieten eingesetzt. Offiziell hieß es zwar noch letzten Monat, der Preis für Wohnraum sei im ersten Quartal 2009 um 6,8 Prozent gefallen, doch die Wirklichkeit sieht anders aus. Kredithäuser wie Banco Popular, Caja Madrid oder Caixa Catalunya bieten Preisnachlässe von bis zu fünfzig Prozent, dazu die vollständige Finanzierung bei vierzig Jahren Laufzeit: Nach vorn zu träumen ist immer noch kostenlos.

Diese Entwicklung ist gefährlich. Denn zum einen treten die Banken jetzt als Konkurrenten der Immobilienbranche auf, was diese noch weiter an den Abgrund drängt. Zum anderen befürchtet man, der Anteil ausfallgefährdeter Kredite - zur Zeit bei vier Prozent - könne bald neun Prozent betragen. "Die zehn größten spanischen Immobiliengesellschaften", erläutert José Calderón, Leiter der Deutschen Hypothekenbank in Madrid, "haben zusammen rund hundertfünfzig Milliarden Euro Kredite aufgenommen. Wenn die in die Insolvenz gehen, droht eine Katastrophe. Und im gegenwärtigen Überlebenskampf haben die Banken gegenüber den Immobilienfirmen einen Wettbewerbsvorteil: Wenn sie ihre Wohnungen loswerden, verdienen sie auch noch am Kredit."

"Geld ist das, was man machen muss, um es zu bekommen, um zu erreichen, dass es sich schnell vermehrt." So steht es in Rafael Chirbes' Roman. Nicht, dass der Materialismus keine Antworten mehr wüsste, ist das Problem. Sondern dass sämtliche Visionen verramscht sind. "Die Ideologien haben ausgedient", sagt Rafael Chirbes. "Bertomeu fragt sich im Roman, ob es den Punkt gebe, an dem er hätte innehalten oder aufhören können. Aber er findet ihn nicht. Die Menschen, die vor Jahrhunderten eine Kathedrale bauten, hatten einen Begriff von der Zukunft, für die sie zu bauen glaubten. Diese gemeinsame Vorstellung haben wir heute nicht mehr. Doch Romanschriftsteller sind keine Priester, keine Psychoanalytiker und keine Politiker. Wir müssen nicht predigen, heilen oder sanieren. Wir entziffern nur den Geist unserer Zeit. Und mein Roman versucht, dem Leser etwas vor Augen zu führen, was er womöglich nicht wahrhaben will."

Als wir nach dem Essen durch die Straßen von Valencia gehen, deutet Chirbes auf die formalen Details der alten Bürgerhäuser. "Schön, nicht wahr?" Er kommt gern hierher, jeder Spaziergang ist wie ein Museumsbesuch. Es ist die Hinterlassenschaft einer Generation, die noch alles für sich selbst errichtete.

PAUL INGENDAAY

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