Produktdetails
  • Fischer Taschenbücher Bd.13434
  • Verlag: FISCHER Taschenbuch
  • 1997.
  • Deutsch
  • Gewicht: 226g
  • ISBN-13: 9783596134342
  • ISBN-10: 359613434X
  • Artikelnr.: 06445420
Autorenporträt
Paul K. Feyerabend (1924-94) lehrte Philosophie und Wissenschaftstheorie u.a. in Berkeley, London und Zürich.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.03.2003

Meister aller Zahlen
Die Briefe des Naturgelehrten Wilhelm Schickard
Vieles liegt in der Wissenschaftsgeschichte des frühen 17. Jahrhunderts noch ganz im Dunkeln. Erst allmählich schälen sich klarere Konturen heraus, werden einzelne Gelehrte sichtbar. Jetzt hilft ein von Friedrich Seck vorbildlich edierter Briefwechsel, den Namen eines Gelehrten wieder deutlicher ins Gedächtnis zu rufen: denjenigen Wilhelm Schickards.
Dieser Tübinger Gelehrte – Orientalist, Astronom, Geograph und Erfinder der ersten Rechenmaschine –, ein wenig bieder in seiner Gestalt, war bisher vornehmlich professionellen Historikern bekannt. Dennoch verdient er über die Historikerzunft hinausgehende Beachtung. Er glänzt in seiner Korrespondenz, die weit über die Enge der konfessionellen Grenzen Deutschlands hinweg ging, mit einer unvoreingenommenen wissenschaftlichen Neugierde. Sie macht jeden Dornröschenschlaf konfessioneller Orthodoxie vergessen.
Die Räder der südwestdeutschen Postkutschen liefen damals heiß. Mit dem Franzosen Gassendi tauschte er sich über astronomische Daten aus, ebenso auch mit Johannes Kepler. Briefe mit einer Länge von mehr als dreißig Seiten, über und über mit astronomischen Messdaten versehen, sind keine Seltenheit. Daneben prägen arabische und hebräische Schriftzeichen und die mit ihnen bezeichneten Inhalte die originalgetreu herausgegebenen Briefe.
Mit Leidener und Wiener Orientalisten verhandelte er über arabische Handschriften. Manchmal wurden auch begabte Hebräisch-Studenten zusammen mit den Briefen „versandt” und in gegenseitige Protektion gegeben. Dann wieder beschäftigte Schickard sich mit dem Geld, das die Metzger von Tübingen nach Straßburg brachten. Unzählige Bücher wurden aus allen Enden Europas in das Haus des Tübinger Professors gebracht, weil die Tübinger Bibliothek damals noch nicht die Bibliothek des niederländischen Leiden war.
Besser als jede historische Zusammenfassung macht diese beeindruckende Briefedition das Bild des Wissenschaftlers lebendig. Darüber hinaus lässt sie die Wissenschaftspraxis und das Selbstverständnis jener Gelehrter erkennen, die gleichsam an der Schwelle zur modernen Naturwissenschaft standen. Wie schwierig war es damals, an wissenschaftliche Informationen heranzukommen. Was wäre gewesen, wenn die Gelehrten einander nicht naturwissenschaftliche Daten zugeschickt hätten, damit sie aus diesem Rohmaterial Theorien entwickeln konnten, die für sie stimmig waren? Eine allgemeine Geheimhaltungspraxis hätte hier nicht weitergeholfen.
Offenherzig und zugleich doch elitär weihten die Gelehrten einander in geplante wissenschaftliche Vorhaben ein. Selbst wenn genau festgelegt wurde, wer welchen Brief einsehen durfte, suchte man die Kritik des verehrten Briefpartners.
Diese Briefedition wird über die wenigen Schickard-Interessierten hinaus jene begeistern, die sich ein Bild von der Andersartigkeit der Wissenschaftspraxis und der Wertmaßstäbe jener Epoche machen und dabei den Duft des lebendigen Lebens nicht missen wollen.
CLAUDIA BROSSEDER
WILHELM SCHICKARD: Briefwechsel. Hrsg. von Friedrich Seck. Band 1: 1616–1632. Band 2: 1633–1635. Frommann-Holzboog Verlag, Stuttgart 2002. 1397 Seiten, 276 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.08.1997

Lieber Hans! Lieber Paul!
Ein Rationalist und ein Dadaist schreiben einander Briefe

"Anything goes (Mach, was du willst)." Als Paul Feyerabend, groß geworden in der Popper-Schule des Kritischen Rationalismus, 1975 in seiner erkenntnistheoretischen Skizze "Wider den Methodenzwang" für diesen Grundsatz plädierte, den man vernünftigerweise vertreten solle, wolle man den Erkenntnisfortschritt nicht behindern, war die Entrüstung groß. Hatte damit nicht einer der besten Kenner der Wissenschaftsgeschichte und -theorie der "Beliebigkeit" Tür und Tor geöffnet? Handelte es sich dabei nicht nur um eine völlig nichtssagende Empfehlung, die den Prozeß der Erkenntnis ins Leere laufen ließ und ihm jeden vernünftigen Boden unter den Füßen entzog? Wollte Feyerabend sich mit seinem Idol Nestroy einen Jux machen?

"Anything goes" wurde jedenfalls zum Schlagwort. Im Widerstreit der Meinungen diente es der einen Seite als Chiffre einer unbeschränkten Freiheit, die sich durch keine Rationalitätskriterien mehr fesseln lassen wollte; von der anderen Seite wurde es dagegen als verantwortungsloser Freibrief für Irrationalität und Aberglaube abzuwehren versucht. Vor allem die Anhänger Karl Poppers, auf der Suche nach einem Abgrenzungskriterium zwischen Wissenschaft und Nichtwissenschaft, fühlten sich provoziert. Feyerabend war einer von ihnen gewesen. Für Häretiker hatten Schulen noch nie viel übrig. Auch Sir Karl war sehr verärgert.

Dabei hatte Feyerabend, wie er später wiederholt betonte, doch nur den traditionellen Rationalisten zeigen wollen, daß gerade ihnen das Bild der Wissenschaften, wie sie historisch praktiziert werden, regellos erscheinen müßte. Sahen sie denn nicht, daß nicht nur der Erkenntnisfortschritt aus einer unkontrollierbaren Abfolge von fehlbaren Hypothesen besteht, sondern auch auf methodologischer Ebene alles nur vorläufig ist? Feyerabend übertrug doch nur den Popperschen Fallibilismus auf die wissenschaftstheoretische Ebene: Es gibt keine allgemeinverbindliche Methode, durch die der wissenschaftliche Fortschritt zu reglementieren wäre. Es gibt nur die konkrete wissenschaftliche Forschung, die sich um keine wissenschaftstheoretischen Maßstäbe schert, sondern allein ihrer eigenen Dynamik folgt.

Der amüsante Briefwechsel zwischen Feyerabend und Hans Albert, Sir Karls Vasall auf deutschem Philosophenterrain, läßt mitvollziehen, wie sich der libertäre "Anarchist" langsam vom Kritischen Rationalismus verabschiedete. 136 Briefe, geschrieben zwischen Dezember 1966 und Mai 1971, erhellen eine revoltierende Denkbewegung, die im "Anything goes" ihr Ziel erreichte. Im Streit der Freunde, die sich 1955 in Alpbach kennengelernt hatten, wird deutlich, wogegen der abtrünnige Rationalist opponierte: Er war ein zu freier Geist, zu vertraut mit der Geschichte der Wissenschaften, um feste methodologische Regeln zu akzeptieren. Feyerabend glaubte an den Fortschritt der wissenschaftlichen Erkenntnis. Aber verhaßt wurde ihm jede "Gesetz-und-Ordnung-Konzeption", die den Wissenschaften ihr Verfahren vorzuschreiben versuchte.

Gegen sie plädierte er sachhaltig, witzig und polemisch für Methodenpluralismus und eine "humane" Wissenschaft, die nicht nur stur auf die Wahrheit fixiert ist, sondern auch das "volle Leben", das "Glück des Menschen", die "Freiheit des Denkens" und seine "Dramatik" im Auge behält. Auch Alberts Briefe sind nicht ohne Humor. Der überzeugte Rationalist folgte dem Freund auf abenteuerlichen und experimentierenden Gedankengängen und fand vieles "sehr interessant". Das wissenschaftstheoretische Duell scheint beiden viel Spaß bereitet zu haben. Aber angesichts Feyerabends "antipopperianischer Stinkbombe" hielt Albert sich doch lieber die Nase zu. Er hatte von Popper zuviel gelernt, um ihm so zuzusetzen wie der "liebe Paul".

Aber in einem waren sich die beiden einig: Popper und den Popperianern fehlt die "dionysische Heiterkeit". Sie nehmen alles, vor allem ihre eigene wissenschaftstheoretische Reflexion, viel zu ernst. So lernt der Leser aus diesem intelligenten und humorvollen Briefwechsel nicht zuletzt, daß hinter all den Angriffen und Verteidigungen verschiedene Lebenshaltungen stehen. Es war der Poppersche Ernst, gegen den Feyerabend opponierte. Gegen ihn halfen dadaistischer Witz und eine gehörige Portion respektloser Ironie. Mit "Beliebigkeit" oder Irrationalismus hatte das nichts zu tun.

"In der Mitte von Popperland", an der London School of Economics, hat Feyerabend seine Parole bereits Ende 1967 den Studenten empfohlen und Albert mitgeteilt: "Macht, was ihr wollt - rufe ich den Studenten zu - alles ist legitim, was euch Freude macht und andere nicht kränkt, und eine menschliche Wissenschaft und eine fröhliche Poesie wird davon auf jeden Fall profitieren."

Auch wenn es in den Wissenschaften ungeregelt zugeht, so doch nicht beliebig. Das "Anything goes" gibt den Anspruch wissenschaftlicher Erkenntnis nicht auf. Aber es kämpft gegen den wissenschaftstheoretischen Ernst an, der oft genug Freude, Freiheit, Menschlichkeit und Dramatik unter sich begraben hat. Mit frechem Witz dokumentiert der Briefwechsel, daß, wie Feyerabend am 10. März 1969 schrieb, "das ernste Suchen nach der Wahrheit ein Witz ist, solange damit nicht das Glück der Menschen verbunden ist". MANFRED GEIER

Paul Feyerabend, Hans Albert: "Briefwechsel". Herausgegeben von Wilhelm Baum. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1997. 256 S., br., 24,90 DM.

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