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Produktdetails
  • Verlag: Hoffmann und Campe
  • Seitenzahl: 592
  • Abmessung: 55mm x 146mm x 214mm
  • Gewicht: 918g
  • ISBN-13: 9783455085556
  • ISBN-10: 3455085555
  • Artikelnr.: 05487843
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2002

Darwins Stellvertreter auf Erden

Der Evolutionsforscher Stephen Jay Gould gilt als brillanter Theoretiker. Jetzt hat er sein Lebenswerk vorgelegt. Seine Gegner vermissen darin ein paar Dinge.

VON JÖRG ALBRECHT UND STEFANIE FRIEDHOFF

BOSTON. Es gibt immer mehr Tage, an denen mag er nicht. Dumme Fragen beantworten, zum Beispiel. Für Stephen Jay Gould ist jede Frage eine dumme Frage, die unterhalb seines Niveaus liegt. Und das liegt, wie es sich für Harvard gehört, ziemlich hoch. Ob die Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes nicht auch für ihn, den Evolutionsbiologen, Überraschungen gebracht habe? Stephen Jay Gould windet sich auf seinem Sessel, sicher einem der durchgesessensten Sessel von Harvard: "Ich bin kein Biologe. Ich bin Geologe." Man ahnt, das wird kein einfaches Gespräch.

Nächster Versuch: Ob die Molekulargenetik nicht ganz neue Impulse für sein Fach, die Evolutionsforschung bringe? Gould blickt, halb verzweifelt, in seinem Zimmer umher, einem der vollgekramtesten Büros von Harvard: "Warum fragen Sie ausgerechnet mich? Ich studiere Fossilien. In Fossilien findet man keine Gene." Ob er wenigstens andeuten könne, was in seinem neuesten Buch steht? Gould legt gerade so viel Sarkasmus in seine Stimme, daß es nicht allzu unhöflich wirkt: "Lesen Sie es", sagt er. Dann korrigiert er sich: "Lesen Sie meine Essays, die sind leichter verständlich." Am Ende des Gesprächs, das sich hinzieht, verbirgt er nur noch mühsam seine Überzeugung, daß das in diesem Falle wohl auch nichts helfen wird.

Aber es gibt immer noch Tage, da mag Stephen Jay Gould. Nämlich charmant sein, eloquent sein, vorführen, was ihn berühmt gemacht hat: intellektuelle Dominanz. Dienstags ist im allgemeinen so ein Tag. Jeden Dienstagnachmittag nehmen drei grauhaarige Herren im Saal B des Science Centers von Harvard Platz. Neben Gould (Jahrgang 1941) sind das der Theologe Harvey Cox (Jahrgang 1929) und der Starjurist Alan Dershowitz (Jahrgang 1938). Mehr als 600 Hörer zieht das elitäre Spektakel "Thinking about Thinking" Woche für Woche an - zur Zeit der populärste Kurs in Harvard.

An diesem Dienstag sind es noch ein paar mehr. "Schließlich feiern wir heute eines der größten, ach was, der gigantischsten Ereignisse der intellektuellen Geschichte", sagt Harvey Cox und stemmt ein schweres Buch in die Luft. "Die Veröffentlichung des Lebenswerkes meines geschätzen Kollegen Gould. 1432 Seiten Evolutionstheorie, lesbar und verständlich, sogar für mich." Der Geehrte steht auf und bedankt sich mit dem Lächeln eines Mannes, dem weder Ironie noch Applaus fremd sind. Daraufhin prophezeit Alan Dershowitz: "Dieses Werk wird noch in dreihundert Jahren aktuell sein."

"The Structure Of Evolutionary Theory" heißt das Opus magnum. Dieser Tage erschienen (Harvard University Press). "Das Buch", wie es unter Freunden und Feinden seit Jahren genannt wird. Dreimal so dick wie Darwins "Entstehung der Arten", ein zweieinhalb-Kilo-Brocken, der qua Gewicht erst einmal jeden Einwand erstickt, den man eventuell gegen Gould erheben könnte - allein das Inhaltsverzeichnis benötigt 23 Seiten, so daß ihm ein eigenes Inhaltsverzeichnis vorangestellt wurde. Es wird ein paar Wochen dauern, bis sich die Fachrezensenten da durchgebissen haben.

Einer hat sich allerdings schon zu Wort gemeldet: Mark Ridley, ein Zoologe von der Oxford University. In der New York Times lobte er das Buch im Großen und Ganzen. Zwei Schwächen seien ihm allerdings aufgefallen. Im Stil schwanke Gould zwischen Geschwätzigkeit und "pathologischer Logorrhöe", also krankhaftem Wortdurchfall. Die etwas größere Schwäche: Kritik an seinem ausufernden Theoriegebäude nehme er kaum zur Kenntnis. Sein Umgang mit der einschlägigen Fachliteratur sei, vorsichtig gesagt, selektiv.

Tatsächlich versammelt Stephen Jay Gould seine Kritiker (das ist die Mehrzahl seiner Kollegen) in einem Appendix von fünfzig Seiten, um sie dort en passant als Ignoranten abzutun. Frei nach dem bewährten Grundsatz, daß es die Eiche nicht groß kümmert, wenn sich die Wildschweine an ihr reiben. Souverän läßt er Gegenargumente unter den Tisch fallen. Verblüffenderweise sogar einen der beiden Bausteine, auf denen Goulds Sicht der Dinge basiert. Es ist die Interpretation eines der größten Schätze der Paläontologie: Im sogenannten "Burgess Shale", einer Schieferformation in den kanadischen Rocky Mountains, fanden Fossilienforscher 1909 außerordentlich gut erhaltene Überreste der kambrischen Fauna, 530 Millionen Jahre alt, ein sensationeller Einblick in die Geschichte des Lebens. Goulds bislang erfolgreichstes Buch ("Wonderful Life", deutsch "Zufall Mensch") handelt ausschließlich von der Fauna des Burgess-Schiefers. Goulds These: Nur ein einziges Mal sei im Laufe der Erdgeschichte eine derartige Vielfalt von Organismen enstanden. Wie im Fieber habe die Natur damals Baupläne entworfen, von denen die meisten später wieder untergingen; insbesondere der Mensch sei das eher zufällige Produkt einer kümmerlichen Nebenlinie, entstanden durch Kontingenz, also durch Verkettung von Ereignissen, die jeweils für sich allein schon unwahrscheinlich genug waren.

Der Haken an dieser These: Sie beruht wahrscheinlich auf einer Fehlinterpretation. Als der Paläontologe Simon Conway Morris, den Gould als Kronzeugen ins Feld führt, sich, gemeinsam mit Anderen, die Funde noch einmal vornahm und mit ähnlichen aus Grönland und China verglich, stellte sich heraus, daß die exotischen Tierstämme des Kambriums gar nicht so exotisch waren, daß ihre Baupläne bei näherem Hinsehen größtenteils mit den Bauplänen heute noch existierender Stämme übereinstimmen. Einige Versteinerungen, wie die des bizarren Stachelfüßlers Hallucigenia, hatten die Forscher schlicht verkehrt herum gehalten. Gould erwähnt die peinliche Angelegenheit in seinem neuesten Werk nur sehr am Rande, womit er sich an ein zweites bewährtes Prinzip hält: Niemals einen Deut auf die eigenen Irrtümer geben. Umso breiteren Raum nimmt die von ihm und Niles Eldgredge formulierte Theorie des punctuated equilibrium ein. Die Evolution, besagt sie, sei eine Schnecke; nur hin und wieder mache sie gewaltige Sprünge, beflügelt von Umweltveränderungen oder geologischen Katastrophen.

Irrtümer konnten wohl nicht ausbleiben, angesichts des Tempos, in dem Stephen Jay Gould in den vergangenen 25 Jahren an die dreihundert Aufsätze veröffentlicht hat; er selbst nennt sich eine "Essaymaschine". Die meisten sind im Magazin Natural History erschienen; das Gesamtwerk füllt zwanzig Bände. "Ich kenne keinen anderen Menschen, lebend oder tot, der das geschafft hat", sagt der Harvard-Biologe Ernst Mayr, bei dem der frischpromovierte Gould 1967 seine ungewöhnliche Karriere begann. Mayr, inzwischen 97, erinnert sich noch gut an seinen Assistenten: "Ein brillanter Kopf und mit normalen Mitteln nicht zu bremsen." Goulds Kurse wurden binnen weniger Jahre zum Geheimtip auf dem Campus. "Er hat die seltene Fähigkeit, zu hunderten von Studenten zu sprechen und dir gleichzeitig das Gefühl zu geben, er spräche nur mir dir allein", sagt Rebecca German, die Anfang der achtziger Jahre bei Gould promovierte.

Seit langem gehört Gould zu den einflußreichsten Intellektuellen Amerikas. Als die Entzifferung des Humangenoms bekanntgegeben wurde, war er es, der dazu den Leitartikel in der New York Times schrieb. Als der Terrorangriff auf das World Trade Center das Land erschütterte, veröffentlichten die Tageszeitungen wenige Tage später seinen Essay über den entscheidenden Unterschied zwischen Gut und Böse: "Das Böse trifft schnell und hart, das Gute aber wird über die Zeit aufgebaut, in winzigen Akten der Freundlichkeit." Seit zwanzig Jahren kämpft Gould zudem mit großem Einsatz für die öffentliche Akzeptanz der Evolutionstheorie und gegen den Einfluß der Kreationisten, die das Unterrichten von Darwins Ideen in den Schulen verhindern wollen.

In Harvard selbst gilt der Fossilienforscher als einer der wenigen, der spielend auch die ganz großen Hörsäle füllt. Oft sind seine Vorlesungen wie seine Essays: klug, witzig, mitreißend. Manchmal aber ähneln sie Marx-Brothers-Szenen, etwa wenn Gould, klein und kompakt von Statur, von seinem eigenen Gedankenfluß so überwältigt wird, daß er, aufgeregt nuschelnd und den Blick konsequent auf seine Schuhe gerichtet, die Bühne auf- und abläuft und seine Zuhörer vollkommen vergißt. Gould kann ein enthusiastischer Lehrer sein. Aber eben nur, wenn er mag.

Ob "das Buch", das jetzt, nach zwanzig Jahren Vorarbeit, erschienen ist, eine Art "Revision des Darwinismus" werden würde, hat ihn der Wissenschaftshistoriker Michael Sherman vor sechs Jahren gefragt. Ja, hat Gould geantwortet, eine Revision, eine notwendige Erweiterung, ohne den Kern der Darwinschen Lehre anzutasten. Ob man sagen könne, daß er, Gould, Darwin in dem Sinne fortschreibe, wie Einstein Newton fortgeschrieben habe. Ja, hat Gould gesagt, das sei kein allzu schlechter Vergleich.

Vergangenen Donnerstag war es endlich soweit: Gould persönlich lud ein. Dreihundert Gäste konnten einen Sitzplatz ergattern, dreißig Studenten Stehplätze suchen. Es ging mit Verspätung los - ein Filmteam, das die Veranstaltung festhalten sollte, mußte erst noch abbauen. Kamera, Mikrophone und Lautsprecher mußten verschwinden, Kabel vom Boden gerissen werden, Gould raunzte einen Fotografen an: "Nein, auch keine Fotos. Dies ist meine Veranstaltung." Sowohl die Harvard Gazette wie das Museumsarchiv werden kommenden Generationen eine Aufnahme des historischen Ereignisses schuldig bleiben.

 Vielleicht am Ende auch besser so. Gould war ohne Mikrophon kaum noch zu verstehen, hatte sich nicht vorbereitet und fand das nicht weiter dramatisch. Er spräche schließlich über etwas, das ihn ohnehin stets bewege. So hörte es sich denn auch an: ein intellektuell weitgereister Mann im Dialog mit sich selbst, ein Redner, der ständig neue, immer schwerer nachvollziehbare Dimensionen von Komplexität in seinen Wortschwall flocht. Er zitierte Darwins Satz, daß alles Geschriebene im Grunde "ein einziges, langes Argument" sei, und daß dies ebensogut für sein neuestes Werk gelte. Er signierte noch ein paar Bücher - und war zwei Stunden später schon auf dem Weg nach New York, zurück an seinen eigentlichen Wohnsitz.

"Man muß aufhören, solange sie einen noch wollen", hat er erklärt - eine Weisheit, die er seinem Lieblingssport Baseball entlehnt hat. Vielleicht schafft er sogar das.

  Bücher von Stephen Gould:.

The Structure of Evolutionary Theory, Harvard University Press, Cambridge 2002; Ein Dinosaurier im Heuhaufen. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2000; Das Lächeln des Flamingos. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1995; Bravo, Brontosaurus. Hoffmann und Campe, Hamburg 1994; Zufall Mensch. Carl Hanser, München 1991.

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