Produktdetails
  • Verlag: Langen-Müller
  • ISBN-13: 9783784428277
  • ISBN-10: 3784428274
  • Artikelnr.: 09974271
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.2002

Nachklänge der versunkenen Welt
Gertrud Fussenegger setzt ihr "Haus der dunklen Krüge" fort

Vor fünfzig Jahren veröffentlichte Gertrud Fussenegger den Familienroman "Das Haus der dunklen Krüge". Als "böhmische Buddenbrooks" haben ihn Kritiker wie Werner Ross bezeichnet. Der Vergleich mit "Buddenbrooks" hat dem "Haus der dunklen Krüge" freilich eher geschadet als genützt. Seit langem ist es um dieses Haus recht still geworden. Das verwundert angesichts der erzählerischen Spannung des Romans, in dem die Seelengeschichte des Bürgertums im neunzehnten Jahrhundert in der Geschichte einer böhmischen Familie eingefangen, die Erstarrung und der Verfall ihres - von einem immer hohleren Ehrbegriff überwölbten - Wertekanons facettenreich gespiegelt wird.

Die Vergegenwärtigungskunst der Autorin, welche Personen und Gegenstände stets präzise im Zeitmilieu ortet, weist eher zurück auf den französischen Gesellschaftsroman des neunzehnten Jahrhunderts als auf die spezifisch deutsche Romantradition. Was am "Haus der dunklen Krüge" heute mehr denn je bewegt, ist die tiefe Fremdheit zwischen den Geschlechtern, der Kreuzweg der Frau in der Geschichte der bürgerlichen Familie, die dauernde Verletzung ihrer Sensibilität in einer von männlicher Macht und spezifisch männlichen Wertvorstellungen geprägten Gesellschaft.

Kaum zu fassen ist, daß die greise Autorin, die im Mai neunzig Jahre alt wird, sich entschlossen hat, ihr bedeutendstes Buch nach genau fünfzig Jahren fortzusetzen, die Geschichte der Familie Bourdanin zu Ende zu schreiben. Dieser Wunsch muß gewaltig in ihr gearbeitet haben, und das hat gewiß auch autobiographische Gründe, denn in dieser Fortsetzung wird es dem Leser recht deutlich gemacht - nicht immer zum ästhetischen Vorteil des Buches -, daß es die eigene Familie der Autorin ist, die sie da, wenn auch in fiktionalem Gewande, noch einmal beschwört. Und am Ende bringt sie sich gar selber - die Buchstaben des Vornamens verraten es - in die Geschichte ein: in der Gestalt Eggis, des jüngsten Familienmitgliedes, der angehenden Chronistin ihres Eltern- und Großelternhauses. Mit ihren Erinnerungen "Das alte Haus in Böhmen", die das Buch im Buch spiegeln, schließt der Roman und schließt sich der Kreis zum "Haus der dunklen Krüge".

Noch einmal begegnen wir in "Bourdanins Kindern" dem nun mehr und mehr verfallenden und vereinsamenden Rittmeister Bourdanin und seiner - zunehmend aus seinem Schatten heraustretenden - zweiten Frau Marie, dem verblassenden familiären Umfeld der alten Generation und der nun heranwachsenden neuen, welche die Züge einer immer prosaischer werdenden, immer mehr an Farbe verlierenden Zeit trägt. Das "Haus der dunklen Krüge" begann im Jahre 1871, "Bourdanins Kinder" endet nach dem Zweiten Weltkrieg. Rittmeister Bourdanin versteht die neue Welt nicht mehr, die sein feudal-bürgerliches Wertesystem endgültig aus den Angeln hebt. "So ist es an der Zeit, die Zelte abzubrechen", sagt er, als er die inzwischen durch die Kriegs- und Nachkriegsereignisse verstreute Familie noch einmal zu einem Abschiedsmahl versammelt.

Wer das "Haus der dunklen Krüge" vor vielen Jahren gelesen hat und nun seinen gealterten Personen wiederbegegnet, dem mag es so ergehen wie jemandem, der nach langer Zeit, durch neue Erfahrungen verändert, in eine frühere Umgebung zurückkommt, wo alles noch beim alten geblieben ist, nur daß die Menschen inzwischen graue Haare und Runzeln bekommen und an Lebendigkeit verloren haben. Daß die Autorin es schafft, die einstigen Gestalten noch einmal zu vergegenwärtigen, ist bewundernswert, doch wer den vorangegangenen Roman nicht kennt, wird manche Kapitel in "Bourdanins Kinder" etwas ratlos lesen.

Hat Gertrud Fussenegger das Autobiographische im "Haus der dunklen Krüge" weitgehend verschleiert, so drängt es sich in "Bourdanins Kinder" auf. Da wird der auktoriale Erzähler plötzlich zum Ich der Autorin, die ihre Figuren gefühlig anredet und immer wieder ins anekdotische Plaudern gerät. So droht der Roman in mehr oder weniger gut erzählte Episoden zu zerfallen und den epischen Zusammenhalt zu verlieren. Eines vermag die Autorin freilich immer noch: Spannung zu erzeugen. Man verschlingt diesen Roman, aber man fühlt sich dabei nicht immer ganz wohl, da das Verschlungene oft nicht vom Feinsten ist.

In einigen Episoden beweist Gertrud Fussenegger ihre alte Meisterschaft. Da ist die Novelle von dem schürzenjagenden Offizier Roderich, der in der Oper eine tschechische Schönheit umwirbt, mit ihr eine Nacht verbringt, später eine Tote mit ihr verwechselt und derethalben sogar zu einem Duell mit dem brüskierten Ehemann genötigt wird, bis sich herausstellt, daß die Partnerin der Affäre noch putzmunter am Leben ist. Das ist mit solchem Witz erzählt, etwa wenn beim Heimweg des Liebespaars nicht dieses selbst, sondern nur die Bewegungen des Regenschirms, das Knistern der Kleider und der Zustand der Schuhe geschildert werden, da herrscht so viel atmosphärische Dichte in der Milieu-Darstellung - zum Beispiel des Publikums in Loge und Parkett der Prager Oper -, daß man spürt: so etwas zu schreiben kann man nicht lernen, das muß man in einer längst versunkenen Welt noch durch die Haut aufgenommen haben.

Die bewegendsten Töne findet die Autorin für die Melancholie des Untergangs der österreich-ungarischen Monarchie, den sie als Kind miterlebt hat - Töne, die verklungen schienen und die sich in dieser späten, verspäteten Prosa wie ein fernes Echo noch einmal ins Ohr des Lesers schmeicheln. Gertrud Fussenegger hat nach ihrer böhmischen Trilogie "Die Brüder von Lasawa", "Das Haus der dunklen Krüge" und "Das verschüttete Antlitz" in den letzten Jahrzehnten längst andere, neue Themen und Formen gefunden, so in ihrem Doppelroman über Léon Bloy und Marie Curie ("Zeit des Raben, Zeit der Taube"), ihrem Jesus-Roman ohne Jesus ("Sie waren Zeitgenossen") und vor allem in ihren vor zwei Jahren erschienenen bitteren Novellen "Shakespeares Töchter" (1999), welche die Dramen dieses Autors desillusionierend gegen den Strich lesen. Daß sie in der Fortsetzung von "Das Haus der dunklen Krüge" noch einmal zu dem alten Ton zurückzufinden sucht, dem Ton des Abgesangs auf eine Welt, der sie selber entstammt, ist das diskrete Zeugnis eines letzten Willens. Eines Willens freilich, der Erinnerung nicht als bloße Aufbewahrung versteht, lautet das Motto des Romans doch: "Nichts wird bewahrt außer durch Verwandlung."

DIETER BORCHMEYER.

Gertrud Fussenegger: "Bourdanins Kinder". Roman. Verlag Langen Müller, München 2001. 379 S., geb. 19,90 .

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Dieter Borchmeyer zeigt sich als großer Bewunderer der bald neunzigjährigen Autorin, die fast 50 Jahre später mit "Bourdanins Kinder" an ihren großen und bedeutenden Familienroman "Das Haus der dunklen Krüge" anschließt. Zu Unrecht sei der Roman damals mit Thomas Manns "Buddenbrooks" verglichen worden, meint Borchmeyer, für ihn steht Fussenegger viel eher in der Tradition des französischen Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts. Die böhmische Familiengeschichte der Bourdanins begann im 19. Jahrhundert, sie wird nun im neuen Buch bis zum Ende des 2. Weltkriegs weitergeführt. "Bourdanins Kinder" ist stärker autobiografisch geprägt, schreibt der Rezensent, was seines Erachtens dem Roman nicht immer zum ästhetischen Vorteil gereicht. Mal wird dem Leser die Verbindung zu Fusseneggers Familie geradezu aufgedrängt, mal wird die Ich-Erzählerin zu "gefühlig" oder gerät ins "anekdotische Plaudern", womit der epische Bogen auseinander zu fallen drohe. Spannend sei der Roman dennoch, Borchmeyer will ihn geradezu verschlungen haben - nicht immer mit gutem Gewissen.

© Perlentaucher Medien GmbH