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Die Erforschung der deutschen Großindustrie in der Zeit des Nationalsozialismus hat in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Wenig ist demgegenüber bislang über die Rolle klein- und mittelständischer Familienunternehmer zwischen 1933 und 1945, zumal im chemisch-pharmazeutischen Bereich, bekannt.
In diese Forschungslücke stößt Michael Kißener mit seinem Band über das bekannte, weltweit tätige Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim, dessen Geschichte in den Jahren 1933-1945 hier erstmals umfassend dargestellt wird. In sechs Einzelstudien, die zentrale Themen wie
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Produktbeschreibung
Die Erforschung der deutschen Großindustrie in der Zeit des Nationalsozialismus hat in den vergangenen Jahren erhebliche Fortschritte gemacht. Wenig ist demgegenüber bislang über die Rolle klein- und mittelständischer Familienunternehmer zwischen 1933 und 1945, zumal im chemisch-pharmazeutischen Bereich, bekannt.

In diese Forschungslücke stößt Michael Kißener mit seinem Band über das bekannte, weltweit tätige Pharmaunternehmen Boehringer Ingelheim, dessen Geschichte in den Jahren 1933-1945 hier erstmals umfassend dargestellt wird. In sechs Einzelstudien, die zentrale Themen wie "Zwangsarbeit" oder den NS-Alltag im Werk, aber auch die "Bewältigung" der Diktatur nach 1945 aufgreifen, zeichnet der Autor ein anschauliches und differenziertes Bild der Handlungsoptionen mittelständischer Familienunternehmer unter den Bedingungen einer modernen totalitären Diktatur. Zugleich analysiert er regionale Einflussfaktoren auf die Unternehmensentwicklung und bestimmt in einem Vergleich den Standort des innovativen Pharma- und Säurenherstellers in der Geschichte der deutschen Unternehmen in der Zeit des Nationalsozialismus.
Autorenporträt
Michael Kißener, geb. 1960, ist Professor für Zeitgeschichte am Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Er forscht und publiziert zur Geschichte des Nationalsozialismus, zur Justizgeschichte und zur regionalen Zeitgeschichte.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als typisch begreift Gregor Schöllgen die Geschichte von Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus. Ohne Zwangsarbeit, das macht die Darstellung des Landeshistoriker Michael Kißener deutlich, meint Schöllgen, wäre der rasante Aufstieg des Unternehmens nicht möglich gewesen. Wie der Autor die Umstände dieses Aufstiegs interpretiert, scheint Schöllgen souverän und quellenmäßig gut abgesichert. Dass der Autor der Konfrontation zwischen Firmen- und Zeitgeschichte ansonsten aus dem Weg geht, bedeutet dem Rezensenten zwar einmal mehr das Dilemma von Auftragsarbeiten dieser Art. Der landes- und regionalgeschichtliche Teil der Studie überzeugt Schöllgen allerdings auf ganzer Linie.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 08.12.2015

Vom Zugriff abgeschirmt und gut verdient
Michael Kißener über Boehringer Ingelheim während des Nationalsozialismus

Die deutsche Unternehmensgeschichte hat ein Problem. Jahrzehntelang an den mehr oder weniger exklusiven Zugriff auf das Riesenthema gewöhnt, wird sie seit einigen Jahren gleich von zwei Seiten unter Druck gesetzt. Zum einen vermochte das breite Publikum dem traditionell engen, ausschließlich auf das Kernthema gerichteten Blick der Fachleute kaum noch etwas abzugewinnen. Zum anderen hat sich, so Michael Kißener, "eine breite Phalanx von Zeithistorikern mit hoher Skepsis gegenüber wirtschaftswissenschaftlichen Theorien und Modellen" etabliert, die den Spezialisten das Wasser abgräbt.

Das blieb nicht ohne Folgen. Obgleich die "meisten prominenten unternehmensgeschichtlichen Arbeiten der letzten Jahrzehnte" als "Auftragforschung entstanden" waren, konstruierten die Unternehmenshistoriker daraus einen Vorwurf gegen die reüssierende zeithistorische Konkurrenz und machten gegen sie mobil. Weit gekommen sind sie damit nicht, im Gegenteil. Jetzt hat die Gesellschafterfamilie Boehringer dem Landeshistoriker Kißener ihr Archiv geöffnet und die Erforschung der Unternehmensgeschichte im Nationalsozialismus "finanziell ermöglicht", ohne dabei je "Einfluss auf deren Ergebnisse auszuüben". Wie in allen Fällen kann man das dem Autor glauben oder auch nicht. Wohl wissend, dass die organisierte Unternehmenshistorie hier gerne den Hebel ansetzt, versucht Kißener von vornherein die "konfrontativen Ansätze" von Unternehmens- und Zeitgeschichte "durch eine geänderte Perspektive zu umgehen" und versteht seine "im Kontext regionalhistorischer Forschungen" entstandene Studie vorsichtshalber "in wesentlichen Teilen auch als landesgeschichtliche Arbeit".

Tatsächlich bietet sie deutlich mehr. Es ist zum einen die Geschichte des 1885 durch Albert Boehringer im rheinhessischen Nieder-Ingelheim gegründeten chemisch-pharmazeutischen Unternehmens und zum anderen die Geschichte seiner Familie, namentlich seiner beiden Söhne Albert junior und Ernst Boehringer. Tief in der Tradition des zweiten deutschen Kaiserreichs verwurzelt, meldeten sich im Sommer alle drei, also auch der inzwischen dreiundfünfzigjährige Senior, zu den Waffen. Kein Wunder, dass man sie nach dem Kriegsende einerseits in der nationalliberalen DVP, andererseits in der Opposition gegen die französischen Besatzer, später dann im Verband ehemaliger Frontkämpfer "Stahlhelm" findet.

Anders als das Klischee es will, hatte diese nationalpolitische Orientierung - auch - bei den Boehringers nicht zwangsläufig den Eintritt in die NSDAP zur Folge. Zwar wurden sie als Mitglieder des später verbotenen "Stahlhelms" 1933 "ungefragt" in die SA-Reserve überführt, doch beantragten Ernst und Albert junior Boehringer ihre Aufnahme in die Partei nicht vor dem Januar 1936. Vollzogen wurde sie wohl 1937 - nach der Lockerung und nicht, wie Kißener schreibt, nach der "Aufhebung" der Aufnahmesperre. Julius Liebrecht, der im Unternehmen tätige Schwager der beiden, war der NSDAP schon 1933 beigetreten.

Folgt man dem Autor, der wiederum den Angaben der drei in den Spruchkammerverfahren folgt, lag diesem Schritt in keinem Fall "eine wirkliche nationalsozialistische Überzeugung", sondern vielmehr die Absicht zugrunde, "das Unternehmen und seine Mitarbeiter durch formale Konformität von einem weiteren Zugriff der Parteiführung abzuschirmen". Wäre dem so gewesen, und vieles spricht dafür, dann hätte sich diese mittelständische Unternehmerfamilie ähnlich verhalten wie viele andere, wenn nicht die meisten.

Damit wandert auch Kißener auf jenem schmalen Grat der Interpretation, auf dem sich früher oder später jeder wiederfindet, der sich mit der Geschichte eines deutschen Unternehmens in der Zeit des "Dritten Reiches" befasst. Kißener meistert das souverän. So verleiten ihn die angenommene innere Distanz der Brüder zur nationalsozialistischen Weltanschauung oder auch die Tatsache, dass sie nicht zu "Wehrwirtschaftsführern" ernannt wurden, nicht dazu, ihnen eine "aktive Rolle oder auch nur Mitwisserschaft an Widerstandsaktionen" zu attestieren. Andererseits sind seine Berichte über die Unterstützung und den Schutz verfolgter Mitarbeiter durch die Boehringers quellenmäßig gut abgesichert. Entsprechende spätere Erklärungen, wie sie sich in praktisch allen Spruchkammerakten finden, reichen eben nicht.

Ähnliches gilt für den Umgang mit Fremdarbeitern, von denen während des Krieges auch bei Boehringer Dutzende aus aller Herren Länder eingesetzt wurden, wenn sich auch die genauen Zahlen nicht mehr feststellen lassen. Von Insassen der Konzentrationslager abgesehen, kam von frei angeworbenen Arbeitskräften bis hin zu Kriegsgefangenen und Häftlingen aus Mainzer Gefängnissen das ganze Spektrum von Zwangsarbeitern zum Einsatz, denn Zwangsarbeiter waren sie am Ende alle. Dass Kißener fast durchgängig von "russischen" Kriegsgefangenen spricht, wenn er sowjetische meint, irritiert.

Sie alle trugen das Ihre dazu bei, dass Boehringer Ingelheim - auch während des Krieges und vor allem durch die Produktion von Arzneimitteln - "beträchtlich" wuchs und "gute Umsätze erzielte". So leistete auch dieses Unternehmen "seinen Beitrag zur Kriegführung ... und funktionierte damit als systemstabilisierender Faktor im NS-Regime". Diese Tatsache und das "seltene Glück", dass der Betrieb während des Krieges kaum in Mitleidenschaft gezogen worden war, sind eine entscheidende Erklärung für die rasante Entwicklung, die Boehringer nach 1945 genommen hat. So gesehen, ist es die typische Karriere eines deutschen Unternehmens im Nationalsozialismus, aufgezeichnet von einem versierten Zeithistoriker.

GREGOR SCHÖLLGEN

Michael Kißener: Boehringer Ingelheim im Nationalsozialismus. Studien zur Geschichte eines mittelständischen chemisch-pharmazeutischen Unternehmens. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2015. 292 S., 39,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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"eine [...] lesenswerte Untersuchung zu einer mittelständischen Firma im Nationalsozialismus" Christian Marx Rheinische Vierteljahrsblätter 82, 2018/3 20180901