Produktdetails
  • Verlag: Kohlhammer
  • ISBN-13: 9783170094116
  • ISBN-10: 3170094114
  • Artikelnr.: 27062862
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 13.10.2011

Verkleidet euch!
Traumatisch: Vera von Lehndorff
erzählt von Verwandlungskünsten
Zur Eröffnung der Messe am Dienstagabend war das Blaue Sofa des ZDF im Frankfurter Schauspielhaus vor der verglasten Stirnseite des Chagallsaals aufgestellt. Von da fällt jeder Blick auf die hinter der Glaswand ausgebreitete Kulisse der Bankenhochhäuser, die sich an normalen Theaterabenden, wenn in den Bankzentralen nach und nach die Lichter ausgehen, allerdings zunehmend in die Nacht zurückzieht. An diesem Abend war es anders, alle Bankzentralen blieben hell erleuchtet, so fieberhaft wachte man dort offenbar über die Finanzmärkte dieser Welt.
Keine glamourösere Kulisse hätte man sich vorstellen können für den starken Auftritt einer hochgewachsenen Frau, die einst in dem Ruf stand, „die schönste Frau der Welt“ (Richard Avedon) zu sein: Vera von Lehndorff, die sich in den sechziger Jahren „Veruschka“ nannte, ist, seit ihrem atemberaubenden Auftritt in Michelangelo Antonionis Filmklassiker „Blow up“, eine Legende geblieben. Ihren Verkleidungskünste getreu, war sie an diesem Abend in ein langes Gewand aus nachtblauer Seide gehüllt, das ihren Körper vom Kopf, über den sie eine Kapuze gezogen hatte, bis zu den Füßen bedeckte. Über die obere Hälfte ihres Gesichts mit den sehr schönen und markanten Zügen hatte sie ein Visier aus weißem Flies heruntergeklappt, das sie auch im Gespräch mit dem Moderator nur vorübergehend lüftete. Bis dieser sie danach fragte, wie ihr Wunsch, am liebsten zu verschwinden, eigentlich zum Beruf des Models passte.
Da ließ Vera von Lehndorff – auch an diesem Ort unter dem Blitzlichtgewitter der Fotografen – mit einer grazilen Bewegung ihrer Hände das Visier wieder herunter und erzählte von dem tief in ihrer Lebensgeschichte verankerten und zur Lebenskunst gewordenen Drang, Spieltrieb und Verwandlungswunsch zu verbinden. Wie in ihrem – als ein langes Gespräch über ihr bewegtes Leben angelegten – Buch „Veruschka“ (DuMont), erzählte Vera von Lehndorff an diesem Abend auch von der Hölle ihrer Kindheit. Im Weltkriegsjahr 1939 geboren, ist sie die Tochter eines Widerstandskämpfers des 20. Juli: Heinrich von Lehndorff wurde von den Nazis hingerichtet, ihre Mutter wurde in Sippenhaft genommen. Diese Erfahrungen hätten in ihr nicht nur den Wunsch zu verschwinden geweckt, sondern auch den Spieltrieb, den sie in den sechziger Jahren ausgelebt habe. Zwanglosen Spaß habe ihr damals bereitet, was bei heutigen Models zur „grausamen Versklavung“ verkommen sei. Heute, auch im melancholischen Bewusstsein um die Vergänglichkeit ihrer Schönheit, fühle sie sich „besser als jemals zuvor“.
VOLKER BREIDECKER
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