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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.05.1996

Die neue Bewußtseinsindustrie
Ein nützlicher Überblick über den aktuellen Stand der Leib-Seele-Diskussion

Die Frage nach dem rätselhaften Zusammenspiel von Körper und Geist ist auch nach zweieinhalb Jahrtausenden noch ungelöst. Mit diesem Problem ist es wie mit den sogenannten Kippbildern - einmal läßt sich eine Zeichnung als Kopf einer alten Frau, dann wieder als Gesicht eines jungen Mädchens betrachten. Nie aber sieht man beides zugleich. Immerhin mag man in der Leib-Seele-Diskussion historische Fortschritte erkennen: Aristoteles sah die enge Verbindung zwischen dem Leib und der Seele, die Platon noch im Körper eingekerkert sah. Augustinus entdeckte die Seele als Raum der Kontemplation, eine Praxis, die das moderne abendländische Bewußtsein auf den Weg brachte. Hermann von Helmholtz maß 1850 die Geschwindigkeit, mit der Nerven reagieren. Damit legte er einen Grundstein für die Neurophysiologie, die bald der Philosophie die Rechte auf den Geist streitig machen sollte.

Wo die Diskussion in der Gegenwart steht, ist nicht leicht auszumachen. Nur der Lärm ist unüberhörbar, der entstanden ist, seit die neunziger Jahre zur "Dekade des Gehirns" erklärt wurden. Neurobiologen, Philosophen, Computerprogrammierer melden sich zu Wort. Meinte Hans Magnus Enzensberger Anfang der sechziger Jahre noch die Medienwelt, wenn er von einer Bewußtseinsindustrie sprach, so gibt es sie heute im wörtlichen Sinne.

Thomas Metzinger hat jetzt eine bemerkenswerte Anthologie mit dem schlichten Titel "Bewußtsein. Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie" herausgegeben, um in dem labyrinthischen Ameisenhaufen etwas Orientierung zu schaffen. Metzinger will die deutschen akademischen Leser Anschluß an die Diskussion um den menschlichen Geist gewinnen lassen, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor allem in den angelsächsischen Ländern stattfand. Dabei gibt es eine lange deutsche Wissenschaftstradition, die in der Theorie des Geistes Maßstäbe gesetzt hat: Philosophen wie Christian Wolff, der 1719 den Begriff "Bewußtsein" einführte, Kant, Hegel, Marx oder Husserl, Psychologen wie Freud oder Wundt, Wissenschaftstheoretiker wie Schlick. Die deutsche Nachkriegsphilosophie hat das kaum fortgesetzt; die Hermeneutik beherrschte das Feld.

Die Runde, die Metzinger in seiner Anthologie aus aller Welt versammelt hat, nimmt sich bunt aus: 27 renommierte Wissenschaftler, vor allem aus der Philosophie, aber auch aus den Kognitions- und Naturwissenschaften. Metzinger hat die Aufsätze auf neun Kapitel verteilt, die, von einem ausführlichen Essay eingeleitet, systematisch die gegenwärtige Diskussion um das Bewußtsein illustrieren. Er beginnt bei begrifflichen Grundlagen, führt dann zu kritischen Fragen wie der menschlichen Subjektivität, auch zur künstlichen Intelligenz. Eine fast fünfzigseitige Auswahlbibliographie bildet den Abschluß. In den letzten Jahren hat es keine Veröffentlichung gegeben, die so kenntnisreich und informativ in die Gegenwartsdiskussion um das Bewußtsein einführte.

Die Autoren in Metzingers Band vertreten meist Varianten materialistischer Positionen - sie glauben also, der Geist sei nur eine Eigenschaft des Körpers. Einen cartesischen Dualismus, nach dem die Seele eine unabhängige Substanz ist, vertritt heute kaum jemand. Ein Beispiel für eine radikal materialistische Sicht des Geistes sei herausgegriffen, die Verteidigungsschrift "Die Neurobiologie des Bewußtseins" der in Kalifornien in San Diego lehrenden Neurophilosophin Patricia Churchland. Sie führt den Leser mit diesem Aufsatz in das Themengebiet "Neurowissenschaften und Philosophie des Bewußtseins" ein.

Churchland glaubt, daß die Erlebnisse eines Menschen bald neurobiologisch beschrieben werden könnten. Als Beispiel nennt sie den wissenschaftlichen Begriff des Schlafs, dessen subjektive Sicht "bereits durch differenziertere Beschreibungen abgelöst ist, die sich aus der Erkenntnis verschiedener Schlafstadien durch das EEG und neurophysiologische Forschung ergeben haben". Ebenso hofft sie, daß andere psychische Zustände wie Sehen oder Denken in Zukunft auf neurologische Termini reduziert werden könnten.

Dieser "eliminative Materialismus", wie Churchland ihre Position selbst nennt, ist umstritten. Sie geht in ihrem Aufsatz auf den sprachphilosophischen Einwand ein, Geist und Körper seien zwei völlig verschiedene Kategorien und könnten deswegen nicht aufeinander reduziert werden. Churchland hält das für ein untriftiges Common-sense-Argument: "1) Es ist ziemlich weit hergeholt, daß Intuitionen in der Sprachphilosophie ein verläßlicher Anhaltspunkt dafür wären, was die Wissenschaft über die Natur des Universums herausfinden kann und was nicht. 2) Bedeutungen verändern sich im Lauf wissenschaftlicher Entdeckungen darüber, was ein bestimmtes Makrophänomen in bezug auf seine Zusammensetzung und die Dynamik der zugrundeliegenden Struktur eigentlich ist. 3) Wissenschaftler werden ihre Forschungen kaum aufgeben, wenn ihnen gesagt wird, daß ihre Hypothesen und Theorien angesichts des gerade üblichen Sprachgebrauchs ,komisch klingen'."

Gemessen an Churchlands Erwartungen, steckt die neurobiologische Forschung bislang noch in den Kinderschuhen. Und in Metzingers Sammlung machen auch Gegenstimmen von sich reden. Sie richten sich nicht gegen die These, das Gehirn sei verantwortlich für das Bewußtsein. Doch einige Wissenschaftler wenden sich gegen Churchlands These, alles, was geistig erlebt werde, lasse sich auf der neuronalen Ebene auch objektiv unterscheiden. Dazu sei das Bewußtsein einfach zu fein nuanciert.

Auf den ersten Blick sieht man nicht, was die Leib-Seele-Diskussion eigentlich für das menschliche Selbstverständnis bedeuten könnte. Eine der Autoren des Bandes, die in Oxford lehrende Kathy Wilkes, weist darauf hin, daß sich die Alltagspsychologie aufgrund der neuen Erkenntnisse nicht besonders wandeln werde - genausowenig wie die Relativitätstheorie unser tägliches Verständnis der Zeit verändert hat.

Das ist aber ein trügerischer Gedanke. Einsteins Entdeckungen haben die Welt revolutioniert; die Atombombe ist nur ein Beispiel. Ebenso könnte die Bewußtseinsforschung der Gesellschaft ein neues Gesicht geben. An die Stelle des unverwechselbaren Individuums lassen Neurochirurgie und Gentechnologie ein Wesen treten, das mit ein paar kleinen Eingriffen optimierbar wird. Die Verhaltensforschung macht immer mehr deutlich, daß auch viele Tiere ein hochstehendes Bewußtsein haben und Leid kennen - Leid, das oft von Menschen verursacht wird. Und schließlich lassen inzwischen neurobiologische Experimente Zweifel an der Idee der freien Willensentscheidung aufkommen: das Gehirn scheint Entscheidungen Bruchteile einer Sekunde früher zu fällen, als der Mensch meint, sie bewußt zu treffen.

Was mag das einmal für die Rechtsprechung bedeuten? Denn wenn ein Verbrecher verurteilt wird, dann nicht, weil es pragmatisch einfach sinnvoll ist, davon auszugehen, er sei zurechnungsfähig. Der Urteilsspruch wird vielmehr damit gerechtfertigt, daß der Mörder tatsächlich frei war, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu wählen. HUBERTUS BREUER

Thomas Metzinger (Hrsg.): "Bewußtsein". Beiträge aus der Gegenwartsphilosophie. Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn 1995. 792 S., Abb., br., 68,- DM.

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