jeder Hinsicht Neuzeit, historisch, weil es als Hohenzollern-Residenz erst unter dem Großen Kurfürsten im siebzehnten Jahrhundert seinen Aufstieg begann - bis zu Baumeister Johann Gregor Memhardt war die Doppelstadt Berlin-Cölln ein mittelalterliches Nest -, aber auch programmatisch, weil das Tabula-rasa-Machen hier immer zum guten Ton gehört hat. Berlin ist vielleicht auch deshalb so schlecht gealtert, weil Anciennität nirgends sonst so wenig zählt. Jungbleiben aus Notwehr.
Selbstredend ist es unmöglich, ein halbes Jahrtausend Großstadtgeschichte in ein einziges Buch zu packen. Und doch muss man zugeben, dass der Autor und Journalist Jens Bisky mit diesem Vorhaben erstaunlich weit gekommen ist, auch wenn zu jedem Unterkapitel seiner monumentalen Berlin-Biographie ganze Bibliotheken an Quellen- und Forschungsmaterial existieren. Wer ermattet die letzte Seite wendet, hat sich einmal mehr durch die politische und kulturelle Entwicklung nicht nur Berlins, sondern ganz Deutschlands gelesen, schließlich hängt so gut wie alles, was gut und was böse an unserem Land war (oder ist), eng mit Berlin zusammen. Dieses Buch ist ein tausendseitiges Reich der Ideen, Hoffnungen, Freiheiten, Lügen, Tragödien und Verbrechen.
Man hat die Stadt auch danach nicht im Griff, aber man versteht besser, warum sie sich dem Zugriff entzieht. Es hat damit zu tun, dass Berlin, die Zuwandererstadt, mehr geformt wurde als gewachsen ist, was zu einem gestörten Selbstverständnis der Berliner führte, zur "Selbstmystifikation". Dass an der Spree zu den verschiedenen Epochen Stadtbürger und Fürstenuntertanen, jüdische Aufklärer und Antisemiten, Modernisten und Historisten, Kommunisten und Nationalsozialisten, Achtundsechziger und Springer-Leser, Wessis und Ossis miteinander lebten, dürfte dazu beigetragen haben, eher auf die Feier des Moments als auf die Diskurshoheit über die Erinnerung zu setzen. Bisky findet dafür die freundliche Formel "Ort für Individualisten, die gern in Gesellschaft anderer Freigeister leben".
Der Autor geht chronologisch vor, springt im Detail aber vor und zurück, fügt den einander durchkreuzenden stadt-, kultur-, kunst- und mentalitätsgeschichtlichen Linien immer wieder lebensnahe Anekdoten hinzu. Letztere sind meist überraschender als die Überblicksdarstellungen, zeigen uns etwa, wie ein Soldat (Ulrich Bräker) im Siebenjährigen Krieg gefühlt hat oder wie widerspenstig ein - geistlicher, anticalvinistischer - Liedermacher (Paul Gerhardt) schon zu Barockzeiten sein konnte. Überhaupt gibt es hier, schlicht faktisch, sehr viel zu lernen.
Die Lebensgeschichte Berlins stellt sich dabei auch als Geschichte der verpassten Chancen dar. Eine erste Gelegenheit verstrich schon im fünfzehnten Jahrhundert, als innerstädtischer Streit Kurfürst Friedrich II. die Machtübernahme leichtmachte, was verhinderte, dass aus der Vereinigung von Berlin und Cölln eine große Handelsstadt wurde. Unter dem Großen Kurfürsten erfolgte zwei Jahrhunderte später die "Verholländerung", inklusive Aufnahme der französischen Hugenotten-Calvinisten. "Auf lange Sicht profitierte die Stadt", zunächst aber stand man den Neuen fremd gegenüber. Auch die mit dem spendablen ersten Preußenkönig - hier eher positiv gezeichnet - und seinem Baumeister Andreas Schlüter angebrochene Kulturblüte blieb folgenlos. Sein sparsamer, soldatischer Sohn habe mit einer "Kulturrevolution von oben" die "atemberaubende Entwicklung" Berlins abgewürgt.
Friedrich der Große und die Berliner Aufklärung, das erscheint bei Bisky nicht als Traumhochzeit aus Macht und Geist. Der ichbesessene, aggressive Herrscher habe den in "Halbdistanz" bleibenden Neuerern, allen voran der Trias Mendelssohn/Lessing/Nicolai, jedoch genug Freiraum gelassen, um eine "urbane Kultur" samt Journalismus und Geselligkeit zu erschaffen. Sicher nicht ganz gerecht ist das kunstferne Urteil über Heinrich von Kleist, der hier nur als "Kriegstreiber" und pointensicherer Zeitungsmacher gilt. Zu Biskys Helden zählen die von der Reaktion schließlich kaltgestellten, aber nachhaltig wirksamen Reformer Karl August von Hardenberg und Wilhelm von Humboldt, der Staatskanzler und der Universitätsgründer. An Hardenberg fasziniert den Autor nicht zuletzt dessen Einsatz für die Emanzipation der Juden, während sich zeitgleich der Antisemitismus ausbreitete und etwa Achim von Arnims "Freßgesellschaft" kennzeichnete. Fichte, Schleiermacher, Clemens Brentano waren Teil der Tischrunde, Juden aber wurden ausgeschlossen: "Von dieser Klausel zur Akzeptanz der Arierparagraphen des Dritten Reiches führt ein ziemlich gerader Weg." Es sei dann an der Architektur der Schinkel-Schule gewesen, demokratische Ideen wenigstens im Stadtbild wachzuhalten.
Doch die Fehler der Erneuerer wurden immer fataler. Die tapsigen Republikaner vertändelten 1848 die Revolution (und ernteten einen "Polizeistaat"), die Sozialisten ließen im jungen Kaiserreich den Beginn der Wohnungsspekulation zu (das Mietskasernen-Elend begann), in Weimarer Zeit rieben sich SPD und KPD im "Bruderkrieg" auf und machten den Durchmarsch der Nationalsozialisten erst möglich. Zur selben Zeit aber formten Wilhelminismus, die Berliner Moderne und die "Goldenen Zwanziger", was man bis heute unter Berlin versteht. Stadtentwickler wie Johann A. W. Carstenn leisteten "Großartiges" im Wohnungsbau. Es entstand eine technophile, ästhetisch wagemutige, lebenshungrige und tolerante Öffentlichkeit - und ihr Gegenteil. Dieses Zugleich von Eskalation und Glorie, von Kandare und Freiraum (politisch, künstlerisch, sexuell) wird im Buch geradezu greifbar. Dann, auf die Spitze getrieben, kippte die Situation. Die keineswegs importierten Faschisten, wie Bisky gegen falsche Widerstandslegenden betont, zerstörten das Stadtgefüge physisch wie mental.
Berlin blieb danach Krisen- und Frontstadt, aber auch Faszinationsort. Freilich war nun alles in einen Schlummermodus versetzt. Bisky betont Gemeinsamkeiten der beiden Halbstädte: die ähnlichen Gegenkulturen, die symbolisch überformte Bebauung, hier Steglitzer Kreiselhochhaus, dort der Fernsehturm. Dass er sich bei der SED-Nachfolgepartei salomonisch zurückhält - "Die PDS galt einerseits als Partei der Mauerbauer und andererseits als Stimme des Ostens, was beides nicht falsch war, und doch stimmte beides nichts ganz" - mag man damit erklären, dass sein Vater diese Partei entscheidend mitgeprägt hat. Das muss man jedoch nicht, denn die Kritik an der DDR-Diktatur ist detailliert und unmissverständlich. Dagegen spricht auch nicht der wahre Satz: "Man konnte im Ost-Berlin der Achtziger ganz gut leben, wenn man nicht den Konflikt mit der Obrigkeit riskierte."
All diese Entwicklungen werden mit stupendem Kenntnisreichtum erzählt, weshalb man selbst bekannteste Episoden - Hitlers Machtergreifung, Luftbrücke, Nacht des Mauerfalls - mit Interesse liest. Angemessen böse stellt der Autor dar, wie "West-Berliner Lokalgrößen" die Stadt in den Neunzigern in den Ruin wirtschafteten. Je weiter das Buch sich in die Gegenwart vorarbeitet, desto mehr lässt das Energische des Zugriffs leider nach. Beim Abhaken von Love Parade, Techno-Club-Szene und "Sommermärchen" bekommt es einen leichten Stadtführer-Einschlag, die Debatte um den Schloss-Wiederaufbau wird eher pflichtschuldig rekapituliert, und mit der Miet- und Integrationsthematik taucht Bisky in tagespolitische Diskussionen ab, statt zum Abschluss eine übergreifende Charakteristik seiner Stadt zu versuchen. Dennoch darf das ewig junge, ewig wandlungsfähige Berlin stolz darauf sein, eine solch detailreiche und ehrliche Liebeserklärung zu erhalten.
OLIVER JUNGEN
Jens Bisky: "Berlin". Biographie einer großen Stadt. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019. 976 S., geb., 38,- [Euro].
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